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Wilhlem von Humboldt und sein Weg nach Bologna

Im Martin-Gropius-Bau in Berlin eröffnet die große Wissenschafts-Ausstellung "Weltwissen". Anlass ist die Gründung der Humboldt-Universität vor 200 Jahren. Heute bekommt das Konzept, mit dem sie Wilhelm von Humboldt gründete, neue, kontroverse Aktualität.

Von Matthias Hennies | 23.09.2010
    Die Wände hat man frisch geweißt, aber Ausstrahlung hat das Foyer der Universität damit nicht gewonnen: Es bleibt ein kahler Saal in einem alten Adelspalais, leer bis auf ein paar Holzbänke am Eingang. Auffällig allein die breite Treppe: Der Aufgang wurde nach 1945 mit rotem Marmor verkleidet, weil sich die DDR im Zentrum Berlins mit einem repräsentativen Hochschulgebäude schmücken wollte. Zugleich benannte man die alte preußische "Friedrich-Wilhelms-Universität" um in "Humboldt-Universität" - nach dem Naturforscher Alexander und seinem Bruder Wilhelm von Humboldt, der sie gegründet hat, vor genau 200 Jahren. Heinz-Elmar Tenorth:

    "Die erste Plakette hier rechts erinnert an Wilhelm von Humboldt, die andere an Alexander, seinen Bruder. Dies ist ein Zitat, und das ist das, was die Forscher heute den Forschungsimperativ nennen und das wirklich Neue: Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes. Also der Forschungsprozess als ein unabgeschlossener Prozess der Suche nach neuem Wissen und der Kritik des alten."

    Heinz-Elmar Tenorth, Professor für Historische Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität, deutet auf zwei Bronze-Plaketten im Treppenhaus. Anlässlich des Jubiläums hat er die Geschichte der Hochschule und ihres Gründers sorgfältig aufgearbeitet. Denn Humboldts Konzept der Forschungs-Universität hat weltweit Schule gemacht - und bei jeder Bildungsreform wird der Untergang seiner Ideale beklagt. Was ihm tatsächlich vorschwebte und was er erreichte, ist dabei Nebensache.

    Auf jeden Fall war sein Verdienst, sagt Tenorth, dass der preußische König die neue Universität in Berlin ansiedelte, in eben jenem Adelspalais, das noch heute als Hauptgebäude dient: Auf dem Prachtboulevard Unter den Linden, benachbart zur Oper, der Neuen Wache und dem königlichen Schloss. In bester Lage also, denn:

    "Die Universität war, für die Gründer und das ganze 19. Jahrhundert hindurch, neben dem Militär die zweite Säule, auf der der Staat basierte."

    Die neue Universität entstand aus einer existentiellen Krise. 1806 hatte die katastrophale Niederlage gegen Napoleons moderne Armee schockartig gezeigt, dass der einst so stolze preußische Staat grundlegende Reformen brauchte. Der Aufbau eines neuen Bildungssystems war eine davon. König Friedrich-Wilhelm II. erklärte:

    "Preußen muss an geistigen Kräften ersetzen, was es an materiellen verloren hat."

    Frankreich hatte sich modernisiert, weil Bauern und Bürger 1789 eine Revolution ausgelöst hatten. In Preußen versuchte man nun eine Revolution von oben. An der Monarchie wurde nicht gerüttelt, aber unter Führung der liberalen Minister Hardenberg und vom Stein folgte ab 1807 eine Reform nach der anderen: Befreiung der Bauern aus der Hoheitsgewalt der Grundherren, Selbstverwaltung der Städte, Gewerbefreiheit.

    Das Bildungswesen ordnete Wilhelm von Humboldt neu: Von den staatlichen Elementarschulen, für die jetzt Schulpflicht galt, bis zur Universität und den Forschungsakademien. Von diesem Bildungsweg sollte grundsätzlich niemand ausgeschlossen sein. Im krassen Gegensatz zur undurchlässigen preußischen Stände-Gesellschaft wollte Humboldt auch Gymnasium und Universität jedem öffnen, der die Fähigkeit mitbrachte, dort zu lernen und zu forschen. Wie sich Humboldt die Forschung vorstellte, lässt sich heute noch im archäologischen Institut der Humboldt-Universität ahnen. Ein Seminarraum wie vor 200 Jahren: Mit braunem Leder überzogene Tischplatten, darauf hölzerne Lesepulte, Abgüsse antiker Statuen und rundum Bücherregale bis hinauf zur Decke. Heinz-Elmar Tenorth:

    "Der Professor saß mit seinen Studenten inmitten des Materials, beim strittigen Fall griffen die nach hinten zum Buch, hatten ihre Lexika, Wörterbücher, Abdrucke von Sammlungen und haben am Text hier sitzend Forschung betrieben. Und die Einheit von Forschung und Lehre ist in den frühen Textwissenschaften, in den Seminaren: Dass man inmitten der Texte, inmitten der Auskunftsmittel sitzt und sich unmittelbar damit beschäftigt, Professor und Studierende in gleicher Weise autonom am Text."

    Das waren zwei zentrale Prinzipien in Humboldts Konzept: Die Einheit von Forschung und Lehre und die Gemeinsamkeit von Lehrenden und Lernenden. Heinz-Elmar Tenorth:

    "Die Differenz zur Schule besteht darin, dass die Studierenden selber zum Forschen fähig sind. Das Kollegienhören an sich ist nur Nebensache, sagt er, worauf es ankommt, ist, dass der Studierende gemeinsam mit den Professoren eine Zeitlang in einer Form von Leben verbringt, in der nur die Forschung im Zentrum steht. Deswegen ist der Hochschullehrer auch nicht mehr Lehrender und der Student nicht mehr Schüler, sondern beide forschen gemeinsam."

    Forschung ist das entscheidende Merkmal der Universität: Die Suche nach neuen Erkenntnissen, die nie abgeschlossen ist. Und wer sich intensiv der Forschung widmet, meinte Humboldt, lernt nicht nur Fachliches. Er erwirbt auch eine allgemeine Bildung des Charakters und kann seine Persönlichkeit entfalten.

    Ein drittes Prinzip kam hinzu: Die Arbeit an der Universität sollte in "Einsamkeit und Freiheit" stattfinden. Heinz-Elmar Tenorth:

    "Einsamkeit und Freiheit heißt die individuelle Zurechnung von Leistungen und die Freiheit gegenüber dem Staat, was die Forschung angeht – nicht was die Berufungen angeht. Humboldt hat ganz früh gesagt, berufen muss der Staat, was die Professoren angeht, denen traue ich nicht."

    Vor allem die Günstlingswirtschaft der Professoren hatte dazu geführt, dass die meisten deutschen Universitäten nicht mehr auf der Höhe ihrer Zeit waren. Das war Humboldt nicht entgangen.

    Außer bei den Berufungen bestand er aber rigoros auf Unabhängigkeit vom Staat. Er wollte, dass die Universitäten auch wirtschaftlich selbständig wären und sich aus eigenen Landgütern finanzierten. Doch dieser Plan ließ sich nicht durchsetzen. Der Misserfolg trug dazu bei, dass Humboldt sein Amt schon nach zwei Jahren wieder aufgab, noch vor der offiziellen Eröffnung der Berliner Universität im Herbst 1810.

    Trotz seines kurzen politischen Wirkens gilt Wilhelm von Humboldt nicht nur als Gründer der Berliner, sondern der modernen deutschen Universität schlechthin. Viele Ideen seines Konzepts gehen jedoch auf andere Quellen zurück: Insbesondere auf den Theologen Friedrich Schleiermacher, seinen wichtigsten Mitarbeiter, den Philosophen Immanuel Kant und die herausragenden zeitgenössischen Reform-Universitäten in Göttingen und Jena. Rüdiger vom Bruch, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität, korrigiert daher das geläufige Bild: Humboldts Bedeutung, sagt er, liegt vor allem darin:

    "Als eigentlich die leitenden Ideen, die dieser neuen Universität zugrunde lagen, bei Humboldt wirklich programmatisch gebündelt waren."

    Er fasste zu einer schlüssigen Konzeption der modernen Universität zusammen, was um 1800 Denker an verschiedenen Orten entwickelt hatten. Im Detail wird über Humboldts Nachwirkung gestritten. Nachdem Göttingen, Jena und Berlin begonnen hatten, nahmen viele deutschen Staaten eine Reform ihrer Hochschulen in Angriff. Manche Historiker, besonders in Berlin, meinen, Humboldts Schriften hätten dafür die Grundlage geliefert. Andere Wissenschaftler erinnern daran, dass ähnliche Ideen weit verbreitet waren. Dass man Humboldts Konzept an anderen Orten gezielt übernommen habe, hält vom Bruch für einen nachträglich erfundenen Mythos:

    "Der 'Mythos Humboldt' meint eigentlich nichts anderes als dies, dass die Entwicklung im 19. Jahrhundert sich relativ autonom, eigenständig von Ort zu Ort vollzog, ohne auf schriftliche Dokumente angewiesen zu sein, in denen Humboldt das Programm entwickelt hätte."

    Als die konservativen europäischen Mächte Napoleon 1815 besiegt hatten, stoppte die preußische Regierung vieler der Sozialreformen. Auch Humboldts humanistische Vision von der Öffnung des Bildungssystems scheiterte. Die Hochschulen des 19. Jahrhunderts blieben ein exklusiver Zirkel der führenden Schichten.

    Dennoch erlebten die deutschen Universitäten einen dramatischen Aufschwung, mit Berlin an der Spitze. Am Ende des Jahrhunderts brachten sie in Schlüsseldisziplinen wie Chemie, Physik und Elektrotechnik eine Fülle grundlegender Entdeckungen hervor. Zahlreiche Forscher wurden mit Nobelpreisen geehrt, das deutsche Hochschulsystem in vielen Ländern nachgeahmt. Es war die größte Zeit der deutschen Wissenschaft – ging sie letztlich auf Humboldts weitsichtigen Entwurf zurück? Heinz-Elmar Tenorth ist davon überzeugt.

    "Es ist Humboldts Vision, insofern als es die Generalisierung der Universität als Forschungsuniversität ist. Es ist Humboldts Vision, als sie immer noch darauf setzt, dass Bildung durch Wissenschaft und damit die Einheit von Forschung und Lehre das Prinzip ist. Es ist Humboldts Vision auch insofern, als die Leute in ihrer wissenschaftlichen Arbeit Autonomie beanspruchen."

    Humboldts Prinzipien wirkten weiter, obwohl sich die Universitäten um 1900 deutlich verändert hatten. Viele Forscher arbeiteten nun außerhalb der Hochschule. Rüdiger vom Bruch nennt Beispiele:

    Nehmen Sie mal einige berühmte Namen: Robert Koch, er lehrte im kaiserlichen Gesundheitsamt, hat dort seine Forschung gemacht. Nehmen Sie Theodor Mommsen, den berühmten Historiker, er forschte an der Akademie und hielt sich äußerst ungern an der Universität auf, obwohl er dort Professor war. Nehmen Sie Rudolf Virchow, er lehrte zwar an der Universität, aber war vor allen Dingen an der Charité in seinem Museum und in verschiedenen Fortbildungseinrichtungen. Oder Max Planck, er war erster Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt.

    In der Nachfolge der Industrialisierung waren die Naturwissenschaften immer wichtiger geworden. Für Experimente brauchte man mehr Platz und mehr Geld als hundert Jahre zuvor, deshalb fanden sie nun in neuen Großforschungsinstituten außerhalb der Hochschule statt. Die Universität war nicht mehr Zentrum der Forschung. Zugleich trat die Philosophische Fakultät, die zu Humboldts Zeit die Führungsrolle unter den Wissenschaften beansprucht hatte, in den Hintergrund. Dieser Wandel rief Widerspruch hervor - und dabei beriefen sich viele auf Humboldt, genauer: auf den Mythos "Humboldt". Rüdiger vom Bruch:

    "Die einen sagen, der Sündenfall der modernen Entwicklung war die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, also einer großen außer-universitären Forschungsorganisation. Damit ist die Grundidee Humboldts ad acta gelegt worden. Andere sagen, Humboldt war jemand, der sehr hellsichtig die Notwendigkeiten der eigenen Zeit erkannte, das heißt, hundert Jahre später hätte er den Bedürfnissen der Zeit entsprechend sein eigenes Modell modifiziert. Das war im Grunde die entscheidende Diskussion schon vor dem Ersten Weltkrieg und wir sind heute eigentlich nicht so wahnsinnig viel weiter."

    Heute stehen die deutschen Universitäten erneut vor grundlegenden Reformen: Die wachsende globale Konkurrenz in der Wissenschaft zwingt dazu, Fördergelder gezielter einzusetzen. Die Universitäten erhalten größere wirtschaftliche Selbständigkeit, um sich im verschärften Wettbewerb ein eigenes Profil zu suchen. Das Studium soll internationaler, zugleich straffer und kürzer werden. Ist das nun wirklich das Ende von Humboldts Universitätskonzept? Professor Jürgen Mittelstraß, Spezialist für Wissenschaftstheorie aus Konstanz:

    "Die Universität hat sich noch nicht von Humboldt verabschiedet, aber sie legt ihn sich in einer Weise zurecht, die ihn ziemlich unkenntlich macht. Humboldt wollte die Universität zu einem wissenschaftlichen Zentrum machen – und diese Verschulungstendenz, gegen die sich Humboldt eigentlich im Namen der Wissenschaft wendet, ist heute wieder sehr stark geworden."

    Mittelstraß spielt auf den so genannten "Bologna-Prozess" an, mit dem neue, europaweit gültige Studienabschlüsse eingeführt werden. Unbekannt im deutschen Bildungssystem war bisher der "Bachelor", der schon nach drei Studienjahren für den Beruf qualifizieren soll. Einen Universitätsabschluss nach so kurzem Studium gab es bisher nicht. Rüdiger vom Bruch kommentiert:

    "Was heißt aber berufsfähig? Heißt das, dass man ihnen eine Menge von Kenntnissen eintrichtert? Humboldt – ich könnte Ihnen wörtliche Zitate nennen – wäre entschieden dagegen gewesen, er sagt, es kommt darauf an, sich bestimmte Denkstrukturen anzueignen, die einem helfen, Probleme zu bewältigen."

    Und wieder geistert der Mythos "Humboldt" durch die Debatte. Wo vom Bruch Humboldts Ideale verloren geglaubt, sieht Heinz-Elmar Tenorth sie endlich erfüllt:

    "Die konsekutive Studienorganisation Bachelor, Master, nach Sequenzen von Arbeit und Leistung geordnet, ist die erste Lehrverfassung der deutschen Universität, die dem Humboldtschen Prinzip in etwa entsprechen würde. Ich könnte Ihnen Schleiermacher seitenweise zitieren, dass das notwendig ist, der Schleiermacher sagt sogar, die Studenten, die kommen, die können noch gar nicht forschen, die müssen wir erst nachschulen. Da muss Schule sein!"

    Der Schule ähnelt demnach der erste Abschnitt der universitären Ausbildung, heute das Bachelor-Studium. Wer es erfolgreich absolviert hat, schreitet zur Forschung fort und macht auch seinen Master-Abschluss. Tenorths Interpretation ist umstritten, entscheidend ist aber, dass Forschung die wichtigste Tätigkeit an der Universität bleibt, denn Forschung macht ihre Identität aus. Und diesen Kernbereich sieht der Philosoph Mittelstraß in Gefahr:

    "Worauf es ankommt in der Universität, ist, Spielräume frei zu halten, Strukturen und Inhalte flexibel zu halten, einer Entwicklung, die im Augenblick eine wesentliche Entwicklung in der Wissenschaft selbst ist, nämlich inter- und transdisziplinär zu denken und zu forschen, Raum zu geben. Genau dieser Raum wird im Augenblick unter Bologna-Vorzeichen immer enger und droht zu verschwinden. Das ist, was mit dem Schlagwort "Verschulung" zu recht gemeint ist."

    Für immer mehr Berufe ist aber eine wissenschaftliche Ausbildung nötig. An allen Ecken und Enden werden die hochspezialisierten Fachkenntnisse gebraucht, auf neuestem Stand, die nur die Hochschulen vermitteln können. Wie soll eine traditionelle, forschende Universität diesen Bedarf decken? Jürgen Mittelstraß:

    "Ich könnte mir ein vernünftiges System, das auch diesen gewachsenen Bildungs- und Ausbildungsansprüchen genügt, so vorstellen, dass wir insbesondere in den Fachhochschul-Bereich, in dem sehr berufsnah ausgebildet wird, mehr investieren, ggf. sogar zu Lasten der Universitäten, die, wenn sie sich auf ihre ursprünglichen Aufgaben besinnen, durchaus auch wieder kleiner ausfallen dürfen."

    Die Universität könnte sich dann wieder auf ihre zentrale Aufgabe konzentrieren. Rüdiger vom Bruch bringt auf den Punkt, wie Humboldt sie vor 200 Jahren definiert hat:

    "An Wahrheit orientierte Forschung, die zunächst nicht auf Verwertbarkeit schielt, sondern Interesse an Erweiterung der bisherigen Kenntnisse hat."