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Wille zum vollen Leben

Claude Lanzmanns Lebensthema ist die Beschäftigung mit der jüdischen Tragödie und der Existenz Israels. Die Filmtrilogie "Warum Israel" (1973), "Shoah" (1985) und "Tsahal" (1994) gilt als epochales Dokument - jetzt hat Lanzmann seine Memoiren vorgelegt.

Von Heinz-Norbert Jocks | 03.01.2011
    Sieht man einmal ab von dem eitlen Momenten des Selbstlobs oder der Selbstbeweihräucherung, die angesichts der profunden Geschichte eines solchen Lebens doch verzeihbar sind, so gehören die Memoiren mit dem befremdlich poetischen Titel "Der patagonische Hase" von Claude Lanzmann mit großer Sicherheit zum Besten, vielleicht sogar Allerbesten und Aufschlussreichsten, was vor ein paar Wochen auf dem Büchermarkt erschienen ist. Kaum zu glauben, fast ein kleines Wunder, dass dieser durch seine neuneinhalbstündige Auseinandersetzung mit der Shoah weltberühmt gewordene Cineast sein etwa 650seitiges Werk so, wie es uns jetzt vorliegt, nicht nur spontan, sondern auch ohne Gliederung im Kopf, in die Maschine so locker wie scheinbar beiläufig diktierte, ohne das mündlich Formulierte nachträglich noch einmal schriftlich überarbeitet zu haben. Die langen, sich schon einmal über eine ganze Seite hinziehenden, wortreichen, grammatikalisch komplizierten und dennoch leicht lesbaren Sätze zeugen davon, dass hier ein mündlicher Erzähler aus der Dunkelheit der verlorenen Zeit ins Licht der Erinnerung hervorgespurtet ist.

    Dabei meint man herauszuhören, dass alles, was erzählt wird, immer noch gegenwärtig, nie wirklich aus der Anschauung verschwunden ist. Es steht da, als wäre es gerade gestern passiert. Ja, beim Lesen immer wieder der Eindruck, dass es dem von der französischen Presse zur Jahrhundertfigur Erklärten um die Vermittlung des Gefühls reiner Unmittelbarkeit gegangen ist: eine Unmittelbarkeit, die er auch bei seinen Recherchen für seinen aufwendigen Film über den Tod der Juden gesucht und gefunden hat. Mitten eingetaucht, ist man so gebannt wie vor einer Kinoleinwand, auf die der innere Film des Schriftstellers projiziert wird.

    Die Memoiren sind ein individuelles Gemisch aus Erinnerungen, Wahrnehmungen, Reflexionen, Erzählungen, Urteilen, peripheren wie wesentlichen Überlegungen, in dem sich der objektive Geist einer ereignisreichen Zeit widerspiegelt, mit der sich Lanzmann konfrontiert sah. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass sich seine Erinnerungen insgeheim auf die Tagebücher von Simone de Beauvoir beziehen. Ohne den Einfluss der großen Dame des französischen Existenzialismus würden sie vielleicht doch gar nicht existieren. Mit ihr führte er eine achtjährige eheähnliche Beziehung und zwar zu einem Zeitpunkt, als Sartre und Simone de Beauvoir zwar ihr Denken und Sehen, nicht aber das Bett miteinander mehr teilten. Wenn die siebzehn Jahre ältere Simone de Beauvoir für Lanzmann eine unvergessliche Geliebte war, mit der zusammen er verreiste, diskutierte und auf heiklen Bergwanderungen sein und ihr Leben riskierte, so war Sartre am Anfang für ihn ein handfester Erwecker, der ihm mit seinen großartigen "Überlegungen zur Judenfrage" Augen und Ohren öffneten. Auf einmal, von jetzt auf gleich wuchs ihm ein Bewusstsein über sein spezielles Judensein zu.
    Als ich vier Jahre später, nach dem Ende des Krieges, die Überlegungen zur Judenfrage las, verschlang ich zuallererst das Porträt des Antisemiten und fühlte mich buchstäblich bei jeder Zeile aufleben, um genau zu sein: berechtigt zu leben. Noch später stieß ich auf die Beschreibung dessen, was Sartre die jüdische Inauthentizität nennt, und da hatte ich plötzlich mein eigenes Bildnis von mir, ganz das meine, was ich mit umso größerer Erschütterung entdeckte, als Sartre, der größte französische Schriftsteller, uns verstand wie nie jemand zuvor und weil er nie ein Urteil fällte.

    So sehr Lanzmann dies auch hervorhebt und Sartre als einen Menschen charakterisiert, der Freiheit nicht nur gedacht, sondern auch real gelebt hat und nie bereit war, diese aufzugeben, so sehr entwirft er gegen Ende seiner Freundschaft von dem Philosophen ein Bild, das sich mit nichts mehr deckt, was er zuvor über ihn geradezu liebevoll und durch eigene Erfahrung bezeugt formuliert hat. Von dem Moment an, da Sartre sich zum Sprachrohr des legendären Mai 68 macht, trennen sich die geistigen Wege beider, und Lanzmann macht aus dem einstigen Vorbild eine Beinahmarionette, die sich vor lauter Anpassung an die anderen, auch kleidungsmäßig, fast selbst vergisst. Eine deutliche Entfremdung ist da zu spüren und die Fassungslosigkeit des Jüngeren angesichts des politischen Engagements des von ihm zuvor Verehrten. Sartres zeitweiliges Tête-à-Tête mit den Maoisten ist ihm zuwider. Dabei vergisst er, wie der Philosoph in seiner "Kritik der dialektischen Vernunft" die Gruppe definierte. Nämlich als eine, die sich von der Freiheit verabschiedet, sobald sie sich nicht bloß als temporäre Versammlung von Individuen versteht, die zeitweilig für ein gemeinsames Ziel eintreten.

    Ich habe ihm bis zu seinem Tod zehn Jahre später meine Zuneigung, meine Bewunderung und, wie ich glaube, meine Treue bewahrt, vor allem, nachdem ich die Leitung der Temps Modernes übernommen hatte – wobei ich an einem Kurs der "Nicht-Untreue" festhielt. Aber ab 1968 betrachte ich mich nicht mehr als einem zuverlässigen Zeugen seines Lebens. An der "Mao-Periode" war ich nie beteiligt, ich kannte seine neuen Freunde nicht oder nur flüchtig, und ich ertrug es kaum zu sehen, wie Sartre und Castor auf der Straße "La Cause du peuple" anpriesen, und sich unter Blitzlichtgewitter in eine grüne Minna stecken ließen, noch weniger, wie sich Sartre kleidete, nachdem er tabula rasa gemacht hatte – Anzug und Krawatte wurden über Bord geworfen, ausgewaschene Pullover und Blouson waren Pflicht, die fünfzehnjährige Kinder zu den ordinärsten Pöbeleien ermutigten.

    Auch wenn er dem Philosophen eine Seite später wieder viel Sympathie entgegenbringt, weil dieser sich dann doch nicht so in die politische Praxis von seinen neuen Freunden hat hineinziehen lassen, dass er darüber vergaß, sein dickleibigen Werk "Der Idiot der Familie" über Gustav Flaubert zu schreiben, so wirft er ihm später eine an Blindheit heranreichende Parteilichkeit für die Sache der Araber vor. Er berichtet von einer gemeinsamen Reise nach Ägypten, der eine nach Israel folgen sollte, und unterstellt Sartre eine fehlende innere Bereitschaft, sich mit der Sache der Israelis auseinanderzusetzen.

    Während der Ägyptenreise war Sartre offensichtlich sehr angespannt. Er hatte ein dichtgefülltes Programm .- Vorträge an der Universität Kairo, Pressekonferenzen, Interviews, Treffen mit Schriftstellern usw. - und entspannte sich abends, indem er übermäßig viel trank. Wie wohnten im Shepherd Hotel, einer berühmten alten britischen Luxusherberge, und Ali und ich mussten den Torkelnden mehr als einmal in seine Suite bringen. Es war ihm unangenehm, dass er von uns abhängig war, und eines Abends, als er noch betrunkener war als üblich, fing er an, uns, die ihn stützten, mit belegter Stimme zu beschimpfen, nannte uns "schwul" und gab uns zu verstehen, wir seien das Beste Beispiel für die Lösung des Konflikts. ( ... ) Mir gefiel nicht, was er gesagt hatte, und ich vertraute mich Castor an, die ebenfalls bemerkt hatte, wie Sartre zwischen seiner Zuneigung für die Ägypter, die uns voller Charme und Prunk empfingen, (und grundsätzlicher noch für die Sache der Araber) einerseits und der uneingestandenen Angst andererseits hin-und hergerissen war, welche die bevorstehende Reise nach Israel in ihm steckte. Offenbar erinnerte ich ihn ständig an diese Zukunft. Ich war für ihn eine Art steinerner Gast, ein Wächter Israels, der ihm verbot, die arabische Verführungskraft in vollen Zügen zu genießen, und auf ein Mindestmaß an Unparteilichkeit achtete.

    Das sagt Lanzmann, der seit und wegen des Sechstagekrieges den Standpunkt der Israelis verteidigt, obwohl er bei seinem ersten Aufenthalt in Israel am eigenen Leib und mental erfuhr, dass er ein in Paris lebender Franzose ist, und obwohl er nicht alles guthieß, was er dort sah. Weder die ärmlichen Zeltstädte der maghrebinischen und jemenitischen Neueinwanderer, noch die Tatsache, dass es in Israel jüdische Putzfrauen gab.

    Der Sechstagekrieg war – anders als man seit vierzig Jahren ständig wiederholt – kein Spaziergang mit Blume im Gewehr,. Die Verluste des Tsahal, an Toten und Verwundeten, waren beträchtlich und wurden von einem zum Krieg gezwungenen Volk als überaus schmerzhaft empfunden. Der umfassende Sieg entschädigte nicht dafür. Aber die israelischen Generäle hatten unvergleichliches strategisches Geschick bewiesen und die kämpfenden Juden Mut und Opferbereitschaft, wie sie nur das geschärfte Bewusstsein der tödlichen Gefahr, die dem Land drohte, im Herzen jedes Einzelnen zu wecken vermochte. All diese Kriegshandlungen waren zugleich Heldentaten, die das Bild, das sich die Welt fortan und auf Dauer von einem schmalen, unter dem Namen Israel bekannten Landstreifen am östlichen Mittelmeer machte, zum Guten oder Schlechten, zum Besten oder Schlimmsten verändern würden.

    Sein Pro-Israel ist unüberhörbar, und die Frage nach einer friedlichen Koexistenz zwischen Palästinensern und Israelis recht unbedacht. Die Memoiren von Claude Lanzmann lassen sich inhaltlich nicht auf die Judenfrage und die Shoah allein reduzieren. Sie sind trotz der Einwände, die man erheben kann, hohe Literatur und von einer immensen Stofffülle. Sie handeln nicht nur vom bisherigen Leben eines Mannes, der in der Resistance kämpfte. Von seinen diskret erzählten Liebschaften, besonders filmreif die Begegnung in Korea. Von seiner Neugierde und seinem Wissenshunger auf Deutschland nach dem Krieg, das er zusammen mit Michel Tournier besuchte. Von der Protestbewegung gegen den Algerienkrieg, an der teilhatte. Vom Lauf der Welt, wie er ihn sah, und von der Geschichte einer jüdischen Familie. Von Tod und Leben, wobei der Tod für ihn der eigentlich, der große und unverzeihbare Skandal ist. Deshalb setzen die Erinnerungen auch ein mit einer detaillierten Auseinandersetzung mit der Todesstrafe, um gegen Ende von den Schwierigkeiten seiner Recherchen zum industrialisierten Tod in den Lagern zu berichten. Sie klingen aus mit der Beerdigung von Simone de Beauvoir und enden mit dem Bekenntnis des fast Siebzigjährigen, dessen "ganzes Sein vor wilder Freude, wie mit zwanzig Jahren", hüpft. Der Wille zum vollen Leben ist diesem Mann nur mit Gottesgewalt zu nehmen.

    Claude Lanzmann: "Der patagonische Hase". Rowohlt Verlag, Reinbek; 688 Seiten; 24,95 Euro