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William Sutcliffe: "Wir sehen alles"
Drohnenkrieg über London

Alan ist ein "Joystick Hero" - er fliegt bewaffnete Drohneneinsätze auf „Terroristen“. Auch wenn die Geschichte in einer dystopischen Version Londons spielt, stellt der britische Schriftsteller William Sutcliffe unübersehbar den Bezug zu Israel her. Ein spannendes, aber auch sehr hartes Buch.

Von Katja Lückert | 22.02.2020
Buchcover von William Sutcliffe: "Wir sehen alles" und eine Szene aus Gazakrieg
Der Kampf um den "Streifen" in William Sutcliffes Roman weckt Assoziationen zum Gaza-Krieg (Buchcover Rowohlt Verlag / Hintergrund: Mahmud Hams - AFP)
Eine düstere Welt, in der Alan und Lex leben. Eine Welt, die sich offenbar so bedroht fühlt, dass sie begabte Computerspieler zu Soldaten macht und sie in der Steuerung von Drohnen ausbildet. Alan ist so ein "Joystick Hero", und er ist ziemlich stolz darauf:
"Adrenalin hilft nicht, wenn man eine bewaffnete Drohne fliegt. Man hat es mit extremen Geschwindigkeiten und präziser Zielerfassung zu tun, mit Steuerungselementen, die perfekt agieren, aber auf jedes leiseste Zucken sofort reagieren. Es ist eine akribische, feinfühlige Arbeit. Man muss wie ein Formel-1-Fahrer und gleichzeitig wie ein Silberschmied sein. Man braucht Fokussiertheit, Geschick und einen kühlen Kopf."
Ein unverstandener junger Mann
Alan leidet unter den typischen Problemen eines jungen Mannes: Er fühlt sich unverstanden von seiner Mutter, die seinen auf der Fliegerbasis erwirtschafteten Verdienst als "Blutgeld" bezeichnet. Sein Vater hat die Familie gleich nach seiner Geburt verlassen. Zum psychischen Ausgleich braust Alan in der Freizeit mit seiner Kawasaki durch London und hofft, eines Tages auch mal ein Mädchen hinter sich auf dem Sozius zu haben. Für einen 20-Jährigen wirkt Alan erstaunlich kontrolliert und reflektiert.
"Mit der Zeit habe ich gelernt, dass es Stärke bedeutet, wenn man genug Selbstbeherrschung besitzt, zwischen den beiden Gefühlen zu wählen. Wenn du spürst, dass du in Richtung schmerzhafte Gedanken driftest, gibt es immer Möglichkeiten, sie loszuwerden, bevor sie dich runterziehen. Ich kann es nicht immer verhindern, an meinen Vater zu denken, doch ich habe mir antrainiert, dass ich, wenn es geschieht, nichts empfinde. Vermutlich hat er in Bezug auf mich das Gleiche getan."
Die Geschichte spielt in London, das man in dieser dystopischen Version kaum wiedererkennt. Überall haben Bombeneinschläge ganze Häuserblocks weggerissen. Die Stadt ist von einem sogenannten "Streifen" umgeben, in dem Menschen zweiter Klasse leben, die mit dem herrschenden System in Konflikt stehen. Hier wohnt auch der 16-jährige Lex mit seinen Eltern und Geschwistern. Sein Vater ist ein hohes Tier in einer ominösen Untergrundorganisation namens "Corps" und wird deshalb Tag und Nacht überwacht. Hier überschneiden sich die Lebensgeschichten der beiden Hauptfiguren, denn Lex' Vater ist das Zielobjekt #K622, das der Drohnenpilot Alan observieren soll.
Drohnenkrieg in einer Schreckensstadt
William Sutcliffe erzählt abwechselnd kapitelweise aus der Sicht der beiden Jungen Alan und Lex vom Drohnenkrieg in dieser Schreckensstadt, die ansonsten kaum Attribute einer Science-Fiction-Welt trägt. Besonders im "Streifen" haben die Menschen nur veraltete Handys und Fahrräder zur Verfügung, Strom gibt es nur für wenige Stunden am Tag. Die Versorgungslage ist für viele dramatisch, Lex' Familie geht es, auch wegen der Position seines Vaters im "Corps", einigermaßen gut.
"Überall im Streifen kämpfen Menschen nur um das tägliche Überleben. Man ist schon privilegiert, wenn man Eltern hat, ein Zuhause und ein Familieneinkommen. Manche von uns schaffen es irgendwie, sich um Großeltern, Onkel, Tanten oder Cousinen zu kümmern. Aber darüber hinaus gibt es nichts. Überall herrscht Verzweiflung. Fremden zu helfen wäre so, als würdest du um jedes einzelne fallende Blatt in einem Wald trauern."
William Sutcliffe hat das Motiv der Mauern, der Tunnel und einer abgeriegelten Zone noch einmal aufgenommen. Allerdings ist die Parallele zu Israel und den besetzten Gebieten nicht so eindeutig wie in seinem 2014 erschienenen Jugendbuch: "Auf der richtigen Seite". Eigentlich, und daran krankt dieser Roman ein wenig, wird überhaupt nicht richtig klar, welche Gesellschaftsformen hier einander gegenüberstehen, und warum sich bloß die Drohnenkrieger und das Corps bekämpfen. Geht es um Religion oder um Territorien? Die Geschichte bleibt etwas abstrakt und reduziert sich auf den Antagonismus: Die Einen bilden eine Untergrundorganisation, und die Anderen sprengen deren mögliche Schlupflöcher.
Angemessener, selbstverständlicher Ton
Dennoch ist Sutcliff ein äußerst fesselndes Jugendbuch gelungen, das sich besonders in der Sprache nicht anbiedert. Gerade für die heiklen Themen wie Geschlechterverhältnis und Sexualität findet der Autor einen angemessenen, selbstverständlichen Ton. Lex beginnt für seinen Vater und das Corps Kurierdienste zu unternehmen. Er kommt jetzt mehr in der Stadt herum, verdient ein wenig Geld und verliebt sich in Zoe, die auf dem Schwarzmarkt Lutscher verkauft. Am Standrand findet Lex ein ausgebombtes Zimmer, in dem nur noch ein Bett steht. Dies wird in der entscheidenden Nacht zum Liebesnest für das junge Paar.
"Ich atme sie ein. Ich atme sie aus. Meine Arme fassen um ihre Taille, und ich ziehe sie enger an mich, küsse die weiche Haut in ihrem Nacken, werde von einer Welle der Erleichterung und Dankbarkeit überspült, von dem warmen, besonderen, einlullenden Gefühl, verstanden, umsorgt, ja vielleicht sogar geliebt zu werden."
Alan versagt eines Tages bei einem bewaffneten Drohnenflug, weil er sein Zielobjekt und besonders dessen Sohn Lex nicht auftragsgemäß töten kann. Zu häufig hat er sie bei seinen Observierungsflügen gesehen. Die beiden sind ihm auf eigentümliche Weise vertraut, fast sind sie zum Teil seines eigenen Lebens geworden. Es wird deutlich, auf welcher Seite Sutcliffe steht. Die Drohnenkrieger sind die Bösen, von Anschlägen der Terroristen ist wenig die Rede. Alans Mutter will ihren Sohn schon lange von der Drohnenfliegerei abhalten. Dabei arbeitet Alan weniger aus ideologischen Gründen auf der Militärbasis. Er hat einfach eine ruhige Hand, weshalb er am Joystick unschlagbar ist. Doch als ihm das Töten aus der Ferne nicht mehr gelingt, muss er erfahren, dass seine vertraute Welt ihn zum Feind erklärt. Ein spannendes, aber auch sehr hartes Buch, das mit dem Tod von Lex einen fast unerträglichen Schlusspunkt findet, weshalb Sutcliffe vermutlich noch ein paar Seiten lang vom einigermaßen normalen Leben nach dem Krieg erzählt. 51 Tage hat er gedauert, genau einen Tag länger als der letzte Krieg in Gaza.
William Sutcliffe: "Wir sehen alles"
Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
Verlag rororo rotfuchs, München. 285 Seiten, 15 Euro. Ab 14 Jahren.