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William T. Vollmann: "Arme Leute"
Armut jenseits aller Klischees

Der amerikanische Journalist William T. Vollmann hat fünf Jahre lang mit armen Menschen überall auf der Welt gesprochen. In seinen essayistischen Reportagen geht er mit viel Respekt und Empathie dieser entscheidenden Menschheitsfrage nach - und kommt ihr näher als manch abstrahierende Forschung.

Von Paul Stoop | 11.09.2018
    Buchcover: William T. Vollmann: "Arme Leute. Reportagen"
    Armut hat ein Gesicht, in allen Ländern der Welt (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Foto: Michael Schweres / Deutschlandradio)
    Spricht man mit Sozialwissenschaftlern über Armut, dann wird erst mal der Begriff selbst problematisiert. Er sei ungenau, sagen einige, er stigmatisiere, sagen andere. In ihren Texten ist dann die Rede von "Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status" oder abgekürzt "mit niedrigem SES".
    Weltreisen zu den Armen
    William T. Vollmann ist eine solche soziologische Abstrahierung fremd. Der kalifornische Autor schreibt schlicht über "Arme Leute" in Dutzenden Ländern, die er in den letzten drei Jahrzehnten bereist hat. Er schaut Armen ins Gesicht und lässt sich ihre Geschichte erzählen, oft eine Woche lang, Tag für Tag. Er fotografiert sie und berichtet akribisch über die Begegnungen:
    "Dieser Essay wurde nicht für arme Leute geschrieben oder für eine andere bestimmte Gruppe. Mein ganzes Wagnis besteht darin, dass ich gewisse Ähnlichkeiten und Unterschiede vermerke, von denen ich glaube, dass sie für die Erfahrung der Armut Geltung haben. Ich begann damit, dass ich ein paar meiner Mitmenschen die Frage stellte: Warum bist du arm?"
    Antworten auf diese und viele verwandte Fragen geben Natalia in St. Petersburg, Sunee in Bangkok, namenlose Thunfischer im Jemen. Wir lernen viele Varianten persönlichen Scheiterns kennen und riechen förmlich mit Vollmann die Armut in den düsteren Ecken der Metropolen.
    Manchmal fehlt die Kraft zum Betteln
    Definitionen spielen für die Armen keine Rolle. Der Kampf um Nahrung und Obdach ist für sie Normalität und prägt ihren Alltag. Dabei fehlt manchen die Kraft für diesen Kampf, wie der jungen thailändischen Bettlerin Wan:
    "Heute hat sie nichts zu essen gefunden, also hatte sie keine Energie, was natürlich bedeutete, dass niemand ihr etwas gab; erste Pflicht des Bettlerwesens ist, den Reichen nachzustellen und sie abzufangen, ob taktvoll oder aggressiv, damit sie dich als Bettlerin wahrnehmen. Das gelang Wan nicht, also bemerkten die Menschen sie nicht."
    Armut sieht ähnlich aus, egal in welchem Land man sie antrifft
    Die in 33 Kapiteln gezeichneten Porträts sind abgeschlossene Essays, aber Vollmann schafft immer wieder Verbindungslinien zwischen den Biografien. Gemeinsamkeiten kristallisieren sich heraus: Zusammenhänge zwischen Armut und Alkohol, Armut und Krankheit, Armut und Gewalt. Weit voneinander entfernte Städte ähneln sich, wenn Vollmann zum Beispiel im kolumbianischen Ciudad Bolívar ins Leichenschauhaus geht und dort sieht, was er auch in amerikanischen Großstädten sehen kann: Arme Opfer von armen Tätern.
    "Wenn ich die Leichen zu Gesicht bekam, waren ihre Hände über der Scham gefaltet oder über den Köpfen im Krampf erstarrt. Sie hatten schon die Farbe von Lehm angenommen. Die meisten waren erwachsene Männer. Viele oder die meisten waren arme Männer. Ich vermute, dass sie fast alle Opfer armer Männer waren."
    Vollmann setzt verschiedene Erzählformen ein: Wörtlich wiedergegebene Zwiegespräche, zusammenfassende Beschreibungen, detaillierte Abhandlungen über ein Land, über Sozialsysteme oder typische Armuts-Krankheiten. Hin und wieder mag das sprunghaft wirken. Kapitel um Kapitel verdeutlicht dieses Umkreisen aber, welche Mächte auf das Leben der Menschen einwirken.
    Viele Arme denken, sie seien selber schuld
    Die Armen schreiben ihr Schicksal einem Gott, dem Karma eines früheren Lebens oder sich selbst zu. Der Berichterstatter sieht ganz andere Kräfte am Werk, in Kasachstan etwa die anonyme Brutalität der globalen Ölindustrie. Diese vernichtet die Umwelt, die Gesundheit, das soziale Gefüge. Die rest-sowjetische Nomenklatura legt den Bewohnern eisernes Schweigen auf. Vollmann erfährt von ihnen fast nichts.
    Bei allen Begegnungen lässt uns der Autor an seinen eigenen Gedanken teilhaben. Die Kurzdefinition von Armut in seinem kurzen Glossar zu Anfang des Buches deutet das schon an: Wer über Armut schreibt, befasst sich immer auch mit sozialen Beziehungen:
    "Arm: Mangel leiden und besitzen wollen, was ich besitze; unglücklich mit seiner oder ihrer Normalität."
    So nüchtern, wie er das Leben der Armen wiedergibt, so direkt beschreibt Vollmann seine eigenen Gefühle: Verständnis, Verwirrung, manchmal auch Abwehr oder Ekel. Der Umgang mit den Obdachlosen auf seinem eigenen Grundstück zeigt seine Ambivalenz. Seinen armen Mitbewohnern spendiert er schon mal eine Flasche Whisky, würde sie aber nie in sein Haus einladen. Schuldet er dem Armen etwas, der – getrennt durch eine Stahltür – nur wenige Meter von ihm entfernt lebt? Ja, sagt Vollmann, nämlich ...
    "... Respekt, Mitgefühl, gutnachbarschaftliches Verhalten, Hilfe im Notfall. Und wenn sein ganzes Leben ein Notfall ist? Auf diese Frage habe ich keine verlässliche Antwort."
    Menschlichen Respekt und Empathie beweist Vollmann mit seinen Reportagen, ohne jede Anbiederei oder Sentimentalität. Er kommt damit einer entscheidenden Menschheitsfrage näher als manch abstrahierende Forschung.
    William T. Vollmann: "Arme Leute"
    Aus dem amerikanischen Englisch von Robin Detje
    Suhrkamp Verlag, Berlin
    448 Seiten, 22 Euro