Mittwoch, 24. April 2024

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Willkommen und Abschied

Gibt es eine eigenständige Philosophie der Gegenwart? Obgleich die Bestimmung der Gegenwart mit dem letzten halben Jahrhundert etwas willkürlich erscheinen mag, so muss das nicht für die philosophische Entwicklung gelten. Die großen Strömungen der Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also die Phänomenologie, die Hermeneutik, die analytische Philosophie und diverse, vor allem neopositivistische Wissenschaftstheorien eint ein großes gemeinsames Thema, nämlich die Sprache. Sprachphilosophie als solche avanciert denn auch zur originären Disziplin der Philosophie im 20. Jahrhundert, die zuvor eher nur ein Schattendasein führte. Daher spricht man vom linguistic turn, der Wende zur Sprache. Sie lässt sich auf den Logiker Gottlob Frege zurückverfolgen, der 1925 stirbt. Doch die Sprachphilosophie am Ende des 20. Jahrhunderts entdeckt jenseits der Logik auch die Rhetorik, die Sprache, wie sie konkret gesprochen wird. Die logische Struktur von Sätzen tritt in den Hintergrund. Pirmin Stekeler-Weithofer bemerkt:

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 16.09.2004
    Und jetzt sehen Sie den Unterschied zwischen einer modernen Sprachphilosophie, die dieses alles weiß, zu Sprachphilosophien, die nur an der Mathematik orientiert sind. Sie haben keine rhetorische Form. Sie haben keine logische Analyse der Sprechhandlung. Und eine Sprechhandlung ohne die rhetorischen Formen zu berücksichtigen, ist schlicht nicht möglich. D.h. Sie haben in der klassischen Sprachanalyse gar keine Sprachanalyse, sondern eine Satzanalyse. Sätze sind aber tote Figuren. Um Sprachanalyse zu machen: der linguistic turn beginnt erst mit den Philosophen der Gegenwart und hat nicht begonnen, wie immer behauptet wird, mit Frege – das war der logizistic turn.

    In diesem Horizont, dem linguistic turn, hält sich der von Pirmin Stekeler-Weithofer herausgegebene Band 9 über die Gegenwart der Reclam-Reihe Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung auf. Diese Scheidelinie trennt auch das, was in diesem Band nicht zum Zuge kommt: Bis auf Jürgen Habermas, dessen Kommunikationstheorie an die Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins anschließt, taucht beispielsweise kein einziger Neomarxist auf. Es fehlen Vertreter der ökologischen Ethik genauso wie die religiös orientierten Kritiker der Moderne. Doch die Frage nach dem Wesen des Menschen, der Welt oder der Dinge verliert allein im Licht der Sprache ohne Gott, Natur und Geschichte an Sinn. Kein Wunder, wenn Stekeler-Weithofer jene Philosophien auswählt, die sich der sprachphilosophischen Herausforderung des Jahrhunderts wirklich stellen und ihr nicht ausweichen.

    Dazu gehört natürlich in erster Linie die analytische Philosophie, die sich um eine klare, rationale Analyse von Begriffen bzw. von Sprache bemüht. Historische Hintergründe spielen dabei eher eine geringere Rolle. Verschlungene Dialektiken, die sich einem klaren logischen Zugriff entziehen, lehnt die analytische Philosophie tendenziell als irrational eher ab. Um so mehr verwundert es, wenn Stekeler-Weithofer in der Gegenwart einen neuen Horizont erblickt:

    Man kann jetzt sehen, dass das, was die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die sechziger siebziger Jahre geprägt hat, der Siegeszug der formalanalytischen Philosophie, wie ich ihn nenne – ich addiere das Wort formal hinzu – von den Überlegungen Freges zur Analyse der Mathematik, zu Russel, Wittgenstein und dann Ayer, Carnap, ob es meine Kollegen wahrnehmen oder nicht, im Moment gerade überwunden wird. Und das, was ich glaube, die Philosophie der Gegenwart auszeichnet, das ist die Bewegung der analytischen Philosophie zu den Wurzeln ihrer eigenen Überlegungen, d.h. die zur Philosophie Kants, zur Philosophie Hegels, zur Phänomenologie und Existenzphilosophie, Husserl, Heidegger - und dann natürlich die große Zwischenfigur Nietzsche - zurückführt. (. .) Und ich glaube die Einsicht zur Zeit ist bei allen, die ich hochschätze, dass wir ohne Kontinuität mit der Tradition keine – und jetzt sehen Sie, dass das Wort Vernunft schon wieder auftaucht – keine vernünftige Philosophie betreiben können.

    Dass sich die analytische Philosophie heute für Hegel und Heidegger interessiert, mag überraschen. Die Wende zu dieser Gegenwartsphilosophie kündigt sich aber vor allem dadurch an, dass es ihr nicht mehr allein darum geht, sich vernünftiger Begrifflichkeiten zu versichern bzw. das Verhältnis zwischen Sprache und Welt frei von traditionellen Vorurteilen zu bestimmen. Sie will nicht mehr allein wie noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den fortgeschrittensten logischen Einsichten gelangen. Heute erscheint ihr eine solche Perspektive provinziell und beschränkt – vielleicht auch angesichts einer Zeit, die sich vielerorts Zukunft nicht mehr allein durch Wissenschaft und Technik bestimmt sieht, die sich vielmehr auch wieder ihrer Herkunft, ihrer Wurzeln versichern möchte. In diese Bewegung – das führt der Band 9 vor – schwenkt die analytische Philosophie ein:

    Und ich denke, das Spannende in der Gegenwartsphilosophie, gerade auch in der analytischen Philosophie, ist, dass sie diese Art des Verständnisses von der Geschichte für unser Selbstbewusstsein entdecken und insoweit haben wir eine Wiederbelebung einer Selbstbewusstseinsphilosophie, eine Entprovinzialisierung der Gegenwartsphilosophie durch historische Kenntnisse aber gleichzeitig auch eine begriffliche Analyse, die sagt, wir dürfen nicht nur Empirie betreiben. In einem Sinne ist die neue Philosophie eine solche, die sich gerade gegen die Empirisierung der Wissenschaften wendet, antizyklisch, wie jede gute Philosophie. Antizyklisch zum dem, was Sie in den Akademien, in den Universitäten, in den Max-Planck-Insitituten sehen, zukunftsorientiert, technisch, gegenwartsorientiert, aber überhaupt nicht darüber nachdenken, wo denn der Rahmen der Arbeitsteilung herkommt und wo er hingeht.

    Die analytische Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint wissenschaftsnah. Jetzt nimmt sie eher eine mahnende Haltung gegenüber den Wissenschaften ein, die sich naturgemäß wenig um ihre philosophischen oder theoretischen Grundlagen kümmern und sich primär um Effizienz für den wissenschaftlich technischen Fortschritt bemühen.

    So endet denn der Band 9 mit einem Abschnitt über Praxis und Wissenschaft, der Texte von Thomas Kuhn und Paul Feyerabend enthält, die einem naiven Fortschrittsdenken skeptisch gegenüber stehen. Der Band thematisiert in weiteren Abschnitten das Verhältnis von Sprache, Kommunikation und Ethik. Hier kommen unter anderem Robert Brandom, Peter Singer und Richard Rorty zu Wort, jeweils eingeleitet durch den Herausgeber wie alle insgesamt 24 Beiträge. Doch der Band beginnt mit Texten über Vernunft, Welt und Sprache und stellt dabei nicht nur Autoren aus der analytischen Philosophie vor. Der erste Abschnitt ist vielmehr der postmodernen Philosophie gewidmet, die der Vernunft im Anschluss an Nietzsche skeptisch gegenüber steht. Galten postmoderne und analytische Philosophie bisher als Antipoden, so sprechen die Worte von Pirmin Stekeler-Weithofer, der auch eine ausführliche Einleitung zu diesem Band geschrieben hat, eher für einen Abschied vom Zeitalter der großen ideologischen Konflikte - auch in der Philosophie:

    In der Gegenwart taucht Nietzsche hauptsächlich bei Foucault auf, bei Rorty und das sind ja auch ein bisschen meine Helden – und es sind auch nicht einfach unbefragte Helden, wenn Sie so wollen. Ich denke aber, dass sie wie Nietzsche ein Gegengift darstellen, gegen die allzu große Selbstsicherheit akademischen Philosophierens. (. .) Es ist zwar so, dass vom Stil her die französische Philosophie – das liegt auch an der Kultur der französischen Philosophie insgesamt – essayistischer ist, mehr ein allgemeines Publikum anspricht als ein akademisches. Ich glaube, das ist einer der Hintergründe, warum man da Missverständnisse hat. Aber insgesamt glaube ich, dass die französische Philosophie den Impuls der Phänomenologie Husserls, der Existenzphilosophie Heideggers, der Ideen Nietzsches für die Gegenwart fast besser bewahrt als unsere akademische Philosophie hier in Deutschland. Selbst wenn man etwas an den verspielten und affektierten Texten zu kritisieren hat, ich denke, sie gehören ganz wesentlich zur Gegenwartsphilosophie.

    Pirmin Stekeler-Weithofer (Hg.)
    Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung Bd. 9: Gegenwart
    Reclam Universalbibliothek, 495 S. EUR 10,80