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Willy Brandt im Exil
"Brandt trat der Nazi-Propaganda entgegen"

Der späterer deutsche Bundeskanzler Willy Brandt schrieb in der Nazizeit für die norwegische Untergrundzeitung "Handslag". Brandt habe zur Kriegsübersicht geschrieben, sein Mitherausgeber Torolf Elster über die Kriegslage, sagte Manfred Dammeyer (SPD) im DLF. Dammeyer hat diese bislang wenig beachteten Werke nun in einem Buch veröffentlicht.

Manfred Dammeyer im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 02.05.2015
    Willy Brandt
    Bundeskanzler Willy Brandt 1970 (picture alliance / dpa / Alfred Hennig)
    Jürgen Zurheide: 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wollen wir uns jetzt mit einem ganz besonderen Kapitel dieser Zeit beschäftigen. Wir wenden uns Norwegen zu, wo es von Juni 1942 bis Juni 1945 eine ganz besondere Untergrundzeitung gegeben hat, die in den von den Deutschen besetzten Teil des Landes geschmuggelt wurde. Das ist interessant deshalb, weil diese Untergrundzeitung von zwei späteren Nobelpreisträgern gemacht wurde, erstens Eyvind Johnson und Willy Brandt, ja, Sie hören richtig, dem späteren Bundeskanzler. Über dieses Kapitel der Geschichte wollen wir reden mit Manfred Dammeyer, dem langjährigen nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten und späteren Präsidenten des Ausschusses der Regionen der Europäischen Union. Zunächst einmal guten Morgen, Herr Dammeyer!
    Manfred Dammeyer: Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Dammeyer, Sie haben all diese Ausgaben gelesen, und zwar original. Wir wollen auch über Willy Brandt sprechen, aber zunächst einmal die Frage: Warum haben Sie das gelesen.
    Mittel gegen Nazi-Propaganda
    Dammeyer: Ich war auf der Spur nach Eyvind Johnson, der war 22 hier in Oberhausen gewesen, in meiner Heimatstadt, hatte von hier klischeehaft übers Ruhrgebiet berichtet, aber alle diese Klischees stimmten ja, und das verfolgte ich weiter. Und dann las ich nur die komische Bemerkung, er hätte während des Krieges mit Willy Brandt eine Widerstandszeitung herausgegeben. Darüber hatte ich bei Willy Brandt nie gelesen. Und wenn unsere Hörer jetzt mal ihre Brandt-Biografie raussuchen, dann können sie da ja mal nach dem Namen Johnson im Namensverzeichnis suchen oder nach dem Namen Elster, oder in der Zeit, 1942 bis 1945. Also in der Brandt in Stockholm wohnte, vor den Nazis aus Norwegen vertrieben und geflüchtet, nachdem er vorher schon 1933 aus Deutschland vor den Nazis nach Norwegen geflüchtet war, die können ja mal nachgucken, ob sie da etwas über diese beiden finden, über Johnson und Elster oder über "Handslag". "Handslag" hieß diese Zeitung, auf Deutsch "Handschlag". Und wurde eben in Stockholm produziert, Johnson schrieb darin in jeder Nummer einen Leitartikel und die meisten Artikel schrieben zwei norwegische Journalisten, nämlich erstens Willy Brandt, der damals norwegischer Staatsbürger war, und der andere war Torolf Elster, der später Generaldirektor des norwegischen Fernsehens und Rundfunks wurde.
    Zurheide: Jetzt haben Sie das alles gelesen, ich glaube, Sie haben eine der wenigen gesamten Ausgaben gefunden, weil Sie die Sprache, weil Sie das verstehen. Welche Themen wurden damals behandelt?
    Dammeyer: Eigentlich alles. Also, Elster und Brandt vor allen Dingen belieferten die Norweger mit allen Informationen über Norwegen, um den Gerüchten der Nazi-Propaganda entgegentreten zu können, und über das, was in der Welt passierte. Die hatten vor allen Dingen zwei Rubriken in der Zeitung, über die norwegische Heimatfront, das war Willy Brandt, und über Kriegsübersicht, also über die Kriegslage in der Welt, Ölversorgung, wie viele Schiffe neu gebaut wurden, wie viele Bomber die Amerikaner nach London verlegten und so was, das hat Torolf Elster geschrieben. Und das lieferten die alle 14 Tage, geschmuggelt, nach Norwegen, in Rucksäcken, über die Gebirge, auf den Schiffen, in den Eisenbahnen, da wurden viele gefangen, verhaftet. Auf die Verbreitung von Propagandamaterial hatte der deutsche Reichskommissar, wie der hieß, Terboven aus Essen, vorher Gauleiter in Essen gewesen, der hatte darauf die Todesstrafe gesetzt. Und die haben die auch in einer ganzen Reihe von Fällen vollzogen, das war kein ganz ungefährliches Unterfangen. Und wie Norwegen besetzt ist, ist in Deutschland ja auch eigentlich ganz unterbelichtet.
    Zurheide: Das Prinzip war – Sie haben es gerade gesagt –, "Handslag", "Handschlag", die Zeitung ging wirklich von Hand zu Hand. Ich habe auch ein wenig geblättert, das ging von Hand zu Hand, sie wurde weitergereicht, wenn sie denn dann angekommen ist. In welcher Auflage wurde die übrigens verteilt?
    Hand-zu-Hand-Propaganda
    Dammeyer: Im Anfang, also 1942, als die anfingen, in einer Auflage von 3.000. Und gegen Ende des Krieges waren das 16.000 bis 20.000 Stück.
    Zurheide: Und die wurden wirklich von Hand zu Hand weitergereicht?
    Dammeyer: Die wurden Hand zu Hand weitergegeben, wie Johnson behauptet, bis in die letzte Ecke Norwegens. Und das ist natürlich klar, davon gibt es nicht viele Exemplare. Die Leute haben das gelesen, zerlesen, zerfleddert, und außerdem hatten sie keine Zeit, darüber ein Archiv anzulegen, zumal das verboten und gefährlich war.
    Zurheide: Jetzt kommen wir auf Willy Brandt, ich habe es gesagt, also Willy Brandt wird ja überwiegend – Sie haben auch das angesprochen – in den Biografien völlig anders gesehen. Hier haben wir den Willy Brandt im norwegischen Exil, aber Sie haben gerade schon gesagt, er war damals norwegischer Staatsbürger. Also, ist das eine andere Sicht, haben Sie da einen anderen Willy Brandt erlebt, den Sie ja auch persönlich kannten?
    Dammeyer: Ja, also, erstens hatten die Nazis 1938 Willy Brandt ausgebürgert, verdammt früh, verdammt jungen Kerl. Und dann sollte er die norwegische Staatsbürgerschaft kriegen, um die er sich beworben hat, aber dann besetzten die Nazis Norwegen und das passierte nicht mehr. Sodass er fliehen musste, das war 1940, Anfang 1940, am 9. April wurde Oslo besetzt und im August kriegte er dann seinen norwegischen Pass. Seither war er norwegischer Staatsbürger. Und ein ganz loyaler norwegischer Staatsbürger! Und er war vorher schon, da er ja mit 19 nach Oslo gegangen war, hatte er schnell Norwegisch gelernt, in der Arbeiterjugend gearbeitet, in den diversen Zeitungen geschrieben und gut auf Norwegisch geschrieben. Und hat das auch dann weitergeführt, als er nach Oslo kam, als er nach Stockholm kam, wo die Stockholmer Behörden eigentlich auch recht nazifreundlich waren und alle, die aus dem Ausland kamen, als im Auftrage einer fremden Macht eingeschätzt haben. Alle Ausländer waren britenfreundlich oder irgend so was anderes, Brandt wurde wegen Britenfreundlichkeit auch von der Säpo, von der Sicherheitspolizei der Schweden die ganze Zeit über beobachtet.
    Brandt hat künftige deutsche Probleme gesehen
    Zurheide: Was kann man ziehen für unsere Zeit heute? Wir haben – ich sage das ausnahmsweise – im Vorgespräch auch über einen Artikel zu Jalta gesprochen, den Willy Brandt dann am Ende des Krieges geschrieben hat, die Zeitung ging ja weiter bis zum Juni, also wirklich bis nach Ende des Krieges noch. Kann man irgendwas ziehen für heute?
    Dammeyer: Ja, eigentlich eine ganze Menge. Denn Brandt hat einen großen Teil der Schwierigkeiten, die die Alliierten in dieser Zeit unter sich hatten, auch als künftige deutsche Probleme gesehen und beschrieben, als deutsche Probleme, obwohl er eigentlich das ja alles für die Norweger geschrieben hat, in dieser Zeitung. Also, an Jalta hat ihn vor allen Dingen bewegt, was sich denn die Alliierten in Bezug auf Deutschland ausdachten. Die haben bei der Gelegenheit allgemein über die Grenzen in Europa gesprochen, und in der Atlantik-Charta, also mit der die Alliierten den Krieg eigentlich begründeten, begonnen haben und das ihr flammendes Fanal war, hatten sie am Anfang gesagt, sie wollten keine territorialen Forderungen stellen.
    Dem hat sich auch Stalin angeschlossen, das war die ursprüngliche Position von Roosevelt und Churchill. Und haben in Punkt zwei gesagt, und etwaige Grenzverschiebungen nach dem Kriege, die sollten prinzipiell nur mit Zustimmung und Genehmigung und im Einverständnis mit den betroffenen Bevölkerungen und Ländern passieren. Genau davon aber schlossen sie wenig später die Deutschen aus, als sie auf der Casablanca-Konferenz erklärten, Deutschland müsse sich einer bedingungslosen Kapitulation unterwerfen. Brandt hielt das für einen Beitrag dazu, die Deutschen zusammenzuschweißen und den Nazis folgen zu lassen, weil sie die Verhältnisse nach einer bedingungslosen Kapitulation fürchteten. Brandt hat immer wieder darauf hingewiesen, dass alle möglichen anderen Länder nach ihrer Kapitulation, die ja auch bedingungslos sein musste, mit den Alliierten und mit den Amerikanern darüber verhandelten, unter welchen Bedingungen, die geschehen sollten.
    Die Italiener, die Ungarn, die Rumänen, die ja alle in einer ähnlichen Situation waren, ehemalige Verbündete von Nazi-Deutschland und dann geschlagen. Jalta nun wollte die Grenzen auch regeln und auch das, was in Deutschland weiter passieren solle. Die haben sich damals noch festgelegt darauf, dass es ein gemeinsames Regime der Besatzungsmächte geben sollte, zwar Zonen, aber eine gemeinsame Regierung.
    Zurheide: So, jetzt müssen wir leider ... So spannend das an diesem Punkt ist, müssen wir jetzt mit Blick auf die Nachrichten unterbrechen.
    Dammeyer: Ja, umso eher können die Leute das Buch lesen, "Handschlag"!
    Zurheide: Genau so ist das! Manfred Dammeyer war das, ich bedanke mich ganz herzlich um 6:58 Uhr für dieses Gespräch! Danke schön, auf Wiederhören, tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Manfred Dammeyer: "Handschlag", 432 Seiten, Paperback, 29,90 Euro, ISBN 978-3-89472-239-5