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Willy Brandt
SPD-Idol bis heute

Mit knapper Mehrheit wurde Willy Brandt vor 50 Jahren zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Für die Sozialdemokraten war er der große Hoffnungsträger - bis heute ist er eine Legende, an die sich viele Genossen gerade in schweren Zeiten gerne erinnern.

Von Frank Capellan | 21.10.2019
Willy Brandt auf Staatsbesuch in Israel 1973
Willy Brandt auf Staatsbesuch in Israel 1973 (dpa/ akg-images / Hugues Vassal)
Willy Brandt, der Mann mit der Mandoline. Idol bis heute. Das Foto eine Ikone. Lässig eine Kippe im Mundwinkel spielt er im Jeanshemd auf jenem Instrument, das er Anfang der zwanziger Jahre zu spielen lernt, als kleiner Junge bei den Falken und beim Arbeiter-Mandolinen-Club.
Brandt, eine Legende, an die sich viele Sozialdemokraten gerade in schweren Zeiten gern erinnern. An den Bürgermeister, den Außenminister einer Großen Koalition, an den Mann, der am 21. Oktober 1969 als einer der Ihren Kanzler wird.
"Ich frage den Abgeordneten Brandt: Nehmen Sie die Wahl an? – Ja Herr Präsident. Ich nehme die Wahl an!"
Nur zwei Stimmen Mehrheit machen ihm zum Nachfolger des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Kiesinger, ihn, der 1934 vor den Nazis nach Norwegen floh. Beginn einer neuen Ära.
"Ich habe die FDP wissen lassen, dass wir zu Gesprächen mit ihr bereit sind, dies ist der jetzt fällige Schritt von unserer Seite - über alles andere wird morgen zu reden sein!"
Koalition mit der FDP
Schon in der Wahlnacht hatte Brandt gegen Widerstand aus SPD-Reihen angekündigt, eine Koalition mit der FDP anzustreben.
"Ein Mann, auf den die Welt blickt. Für Deutschlands Zukunft frische Kräfte – deshalb Willy Brandt!"
Früh setzen die Genossen ganz auf ihn. "Wandel durch Annäherung" – als Kanzler kann er mit Egon Bahr seine Ostpolitik verwirklichen.
"Der Tag wird kommen, an dem das Brandenburger Tor nicht mehr an der Grenze liegt!"
Wolfgang Thierse: "Willy Brandt steht in meiner Erinnerung für einen großen historischen Aufbruch. Ich hab ja damals als DDR-Bürger seine Wahl 69 mit unerhörter Aufregung verfolgt!"
Auch für ihn ist Willy Brandt Hoffnungsträger. "Damals bin ich innerlich wirklich Sozialdemokrat geworden", sagt der langjährige Bundestagspräsident, der heute Kuratoriumschef der Willy-Brandt-Stiftung ist: "Dass da einer sich auf den Weg macht und eine neue Politik versucht in einer verfahrenen weltpolitischen Situation, die wir heute kalten Krieg nennen, das war ein Abenteuer und er hat dafür Mehrheiten gewonnen und das finde ich, ist der Erinnerung wert!"
Thierses Nach-Nachfolger Schäuble eröffnet morgen in Berlin eine Ausstellung über Willy Brandt, die zum Jubiläum durch ganz Europa wandern soll – erarbeitet von Stefan Paul Jacobs. Für ihn hat der Ex-Kanzler bis heute Gewicht, "weil Willy Brandt Themen gesetzt hat, die bis heute wichtig sind. Umwelt zum Beispiel. 'Der Himmel über der Ruhr muss wieder blau werden', das hat Willy Brandt 1961 formuliert. Lange, lange vor den Grünen."
Hohn und Spott der Konservativen
Damals allerdings ist Brandt eine Hassfigur der Konservativen. Unehelich 1913 als Herbert Frahm geboren muss er Hohn und Spott über sich ergehen lassen.
"Ich bestreite nicht gewisse Fähigkeiten an ihm. Auch die Fähigkeit der einschmeichelnden Rede, die Fähigkeit, an sich sehr primitive Formulierung durch die Art ihrer sprachlichen Darbietung als große Weisheiten zu verkaufen."
CSU-Chef Franz-Josef Strauß ätzt. Und mit der Figur des Ekel Alfreds in der Fernsehserie "Ein Herz und eine Seele" wird diese Sicht perfekt illustriert.
"Der hat einen Sonderzug, muss man sich mal vorstellen, nen ganzen Zug für nen einzigen Emigranten. Wenn der Brandt ins Ausland fährt, dann muss man sich ja direkt schämen als Deutscher!"
Als Willy Brandt im März 1970 mit dem Zug in ein Ausland reist, das Deutschland heißt, und sich mit DDR-Ministerpräsident Willy Stoph trifft, kennt die Begeisterung keine Grenzen. "Willy Brandt ans Fenster" steht bis heute über dem Hotel in Erfurt, an dem sich der Kanzler zeigte.
"Dieser Besuch ist in der Erfurter Bevölkerung ganz tief verwurzelt. Da kommen immer noch Leute und bringen mir Fotos, die sie heimlich auf dem Bahnhofsvorplatz gemacht haben, als er am Fenster zu sehen war und auch gewunken hat", erzählt ein Erfurter, der erst sechs Jahre später geboren wurde und heute Fraktionsgeschäftsführer der SPD ist: Carsten Schneider.
"Es ist der Beginn des Tauwetters und des Gefühls derjenigen, die da in der DDR gelebt haben, es könnte was gehen, und das da drüben ist die Freiheit. Und der Geruch dieser Freiheit und des anderen Deutschlands, der ist nie wieder aus der Nase gegangen und hat letztendlich auch zur Wende geführt!"
"Die amerikanischen Rundfunkhörer wurden heute Morgen mit den ersten Direktberichten aus der Stadt in Thüringen geweckt. Vor allem anderen waren es die Ovationen, die die amerikanischen Reporter beeindruckten –US-Reportage."
1972 wird Brand fast gestürzt
Brandts Erfurt-Besuch sorgt für Aufsehen, auch in den USA. Ähnlich Monate später sein Besuch in Warschau am Ort des ehemaligen Ghettos: "Als der Kanzler dann vor dem Denkmal stand, fiel er – ja man muss es wirklich so sagen – fiel er plötzlich auf die Knie."
Um ein Haar wird Brandt 1972 gestürzt, bei den dann folgenden Wahlen aber holt die SPD fast 46 Prozent, der größte Erfolg ihrer Geschichte.
"Willy Brandt war jemand, wegen dem ganz viele in die Partei eingetreten sind, und er hat uns teilweise Orientierungen gegeben, die bis heute richtig sind", meint Parteivize Ralf Stegner, der sich im aktuellen Rennen um den SPD-Vorsitz oft auf Brandt beruft.
"Sein Satz 'Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts', dessen Bedeutung merkt man gerade in den Zeiten, die wir heute haben. Wir müssen wieder an der Spitze der Friedensbewegung stehen!"
Dass sich aber die AfD im Wahlkampf in Ostdeutschland ausgerechnet auf Willy Brandt stützte, dürften ihr viele Sozialdemokraten nie verzeihen. Wolfgang Thierse:
"Die AfD pervertiert den Aufbruch von Willy Brandt, die Losung 'Mehr Demokratie wagen' denn damals ging es ja auch darum, das war die andere wichtige Losung in seiner Regierungserklärung, wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, und die AfD will das genaue Gegenteil, sie will wieder Grenzen schließen!"
Der Mann mit der Mandoline, er dürfte verzweifelt zu Klampfe und Kippe greifen, würde er erleben, wie schlecht es in einem gespaltenen Land um seine SPD steht, die er bis 1987 führte. Allerdings: Gut spielen, offenbarte sein enger Weggefährte Egon Bahr kurz vor seinem Tod dem Deutschlandfunk, konnte er nie.
"Brandt war musikalisch ein Banause!"