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Wilma Geldof: "Reden ist Verrat"
Niemals so werden wie der Feind

Das Mädchen mit den Zöpfen, Freddie, ist 15 Jahre alt, als sie sich einer Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialisten anschließt. Nur ein Jahr später besitzt sie eine Pistole. Wilma Geldofs Roman ist nach Erlebnissen der niederländischen Widerstandskämpferin Freddie Oversteegen erzählt.

Von Ute Wegmann | 25.04.2020
Wilma Geldof und Freddie Oversteegen
Wilma Geldofs Roman basiert auf den Erinnerungen der Widerstandskämpferin Freddie Oversteegen (© Rob van Weegen)
Haarlem 1940, die Niederlande unter deutscher Besatzung. Widerstandsbewegungen bilden sich und kämpfen gegen das Naziregime. Freddie und Truus sind 15 und 17 Jahre alt, als ihre kommunistische Mutter untertauchen muss und sich von den Töchtern mit folgenden Worten verabschiedet:
"Ich weiß nicht, was ihr tun werdet, und das wisst ihr selbst auch noch nicht, aber (...) bleibt immer menschlich! (...) Niemals so werden wie der Feind. Nicht die Hände schmutzig machen. Kein ‚Befehl ist Befehl’. Immer noch selbst nachdenken."
Diese Worte werden in mehrfacher Hinsicht zum Schlüsselsatz der Geschichte des Mädchens Freddie. Wie weit darf man im Widerstand gehen? Darf man jemanden töten, der unschuldige Menschen gequält, gefoltert und ermordet hat? Darf man Gleiches mit Gleichem vergelten?
Keine einfachen Antworten
Der Jugendroman "Reden ist Verrat" wirft diese moralischen Fragen auf und zeigt aus Freddies Perspektive, wie schnell jemand in den Zugzwang einer Gruppe gerät, überzeugt handelt durch den Ansporn der Anderen. Der Roman vermittelt Freddies persönliche Entschlossenheit, ihren Kampfgeist, ihre Verachtung der Nationalsozialisten und wie die Überschreitung der moralischen Grenzen ihr Leben verändert. Am Ende müssen die Leser selber entscheiden, denn die Geschichte - nach wahren Erlebnissen der Widerstandskämpferin Freddie Oversteegen - zeigt, dass es keine einfachen Antworten auf die großen Fragen des Lebens gibt.
Wilma Geldof erzählt von ihrer ersten Begegnung mit Freddie Oversteegen.
"Mit Hilfe einer Zweite-Weltkriegsstiftung konnte ich Kontakt mit ihr aufnehmen. Sie hatte keine E-Mail, keinen Computer. Ich durfte kommen und sie besuchen, aber das Erste, was Freddie zu mir sagt, als sie noch in der Tür steht, ist: ,Ich würde es nicht tun.' Kein ,Hallo', nur: ,Ich würde es nicht tun. Ich will nicht darüber reden, das ist zu schwer.' Aber ich konnte reinkommen, und aus ihrem Nein wird ein Ja, und am Ende ist sie sehr froh, dass dieses Buch veröffentlicht wird."
In der Geschichte ist Freddie ein beherztes, junges Mädchen, trotz hin und wieder aufkommender Zweifel überzeugt davon, dass sie richtig handelt. Wie aber blickte die wahre Freddie zurück?
"Im Allgemeinen dachte Freddie, sie hätte das Richtige getan. Aber es gab auch schmerzhafte Dinge, Handlungen mit schwerwiegenden, schlimmen Folgen. Zum Beispiel Liquidationen gefolgt von Repressionen durch die Deutschen. Aber darüber konnte und wollte sie nicht mehr reden. Und ich wollte keine Schmerzen bereiten."
Freddie Oversteegen und das Cover von "Reden ist Verrat"
Freddie Oversteegen und das Cover von "Reden ist Verrat" (Buchcover Gerstenberg Verlag / Bild F. Oversteegen © Erben Freddie Dekker-Oversteegen )
Freddie als "Moffenbraut"
Fred, laut Wehrmachtsberichten "Das Mädchen mit den Zöpfen", und ihre Schwester Truus lehnen die Gewalt zuerst ab, aber dann erinnern sie sich an den menschenunwürdigen Abtransport einer Jüdin und deren Sohn und an die Brutalität der Nationalsozialisten. Im August 1941 beginnen die Mädchen mit kleinen Aktionen: Botengänge. Besonders Freddie eignet sich, weil sie mit ihren Zöpfen kindlich aussieht. Im September 1942 sollen sie und ihre Schwester einen für seine Brutalität bekannten Nazi in einen Park locken, wo die anderen ihn "liquidieren" werden. So sprechen sie über das Töten. Es ist Freddie, die den Mann in den Hinterhalt führt, geschminkt wie eine "Moffenbraut": Mof – schon von jeher das Schimpfwort der Niederländer für die Deutschen, wird zum Synonym für "Nazi".
Das Mädchen muss sich küssen und anfassen lassen, Momente, die sie nicht mehr vergessen wird. Genauso wenig wird sie vergessen, wie nach dem tödlichen Messerstich seine Hand aus ihrer Hand gleitet. Sie wird das auch nicht vergessen können, wenn sie sich mit Peter verabredet, der Junge, in den sie verliebt ist. Dabei hatte sie sich bemüht, den Deutschen nicht als Mensch wahrzunehmen.
"Er mustert mich unverfroren und grinst breit, der Mof. Heinrich. Ich will, dass er eine Uniform bleibt, kein Mann mit einem Namen. Ich will nicht einmal sein Gesicht sehen. Ich versuche, die einzelnen Teile seines Gesichts zu betrachten, ohne ein Ganzes daraus zu machen. Die dicke Unterlippe, die breiten, schwarzen Augenbrauen, die Augen blau, wie ich es mir schon gedacht hatte. Es klappt nicht. Er wird ein Mensch, ein Mann mit einem Namen."
Man kann nicht töten, ohne sich zu verändern
Die Erinnerungen an den Deutschen, an seine Berührungen, an seinen Tod, kleben an ihr. Freddie vertraut sich einer jüdischen Professorin an, weil sie das Schweigen nicht mehr aushält. Diese Frau, die sich versteckt, hört zu, urteilt nie und macht dem Mädchen klar, dass sie traurig sein darf und dass man nicht töten kann, ohne sich zu verändern: "Jemanden töten", sagt sie, "schafft eine Verbindung fürs Leben." Freddie darf eigentlich mit niemanden über ihre Aktivitäten sprechen. Auch nicht mit Peter. Sie streiten. Er wirft ihr vor, dass sie ihm nicht vertraut. Sie wirft ihm vor, dass er nicht handelt. Der deutsche Titel des Buches lautet: "Reden ist Verrat". In Freddies Augen ist auch das Nicht-Handeln eigentlich Verrat. Wilma Geldof dazu:
"Die junge Freddie glaubt das in dem Buch. In Wirklichkeit war die alte Freddie eine milde Frau."
Sind die Mädchen anfangs noch Köder und Botinnen, werden sie bald selbst eine Pistole besitzen. Die Schwestern leben getrennt, müssen sogar für kurze Zeit die Stadt verlassen. Es ist ein Leben für den Widerstand, in einer Gruppe von Männern, mit der ständigen Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges. Als die beiden Schwestern einen ausspionierten Nationalsozialisten auf offener Straße erschießen sollen, der tödliche Schuss von jemand anderem getätigt wird, es in Folge dessen aber zu einer öffentlichen Erschießung von zehn jungen, unschuldig Inhaftierten kommt, da fragt sich Freddie zum ersten Mal, ob das alles richtig ist. "Alles klingt plötzlich hohl", heißt es im Buch. Erst später wird sie erfahren, dass einer der jungen Männer Peters Bruder war. Aber der Kampfgeist siegt über Zweifel und Moral: "Wir sind Frontsoldaten, keine Laufmädchen", beschweren sich die Schwestern über einen in ihren Augen unnötigen lebensgefährlichen Botengang.
Fakten und Fiktion
Wilma Geldof hat einen starken, Diskussionen anregenden Roman geschrieben, der Denken und Fühlen einer jungen Widerstandskämpferin nahebringt. Trotz der Politisierung durch das Elternhaus sind anfangs die Entschlossenheit und Kühle irritierend. Und doch taucht man in die Innenwelt der Protagonistin ein und die Manipulierbarkeit der jungen Menschen sowie ihr Kampfgeist, aber auch Einsamkeit, Ängste und die Sehnsucht nach der Rückkehr in einen Alltag werden mehr und mehr transparent. Wie hat Wilma Geldof die Geschichte aus Fakten und Fiktion gebaut?
"Ich hab so viel wie möglich geschrieben, was bekannt war. Aber ich habe einen Plot hinzugefügt, sonst wäre es eine Liste von Vorfällen. Es muss einen roten Faden geben. Aber natürlich gab es eine Menge, was Freddie nicht mehr wusste. Zum Beispiel hat sie sich während des Krieges in vielen verschiedenen Verstecken aufgehalten, aber sie konnte mir nicht mehr sagen, wie das ging. Also musste ich woanders recherchieren. Ich musste es mir vorstellen können, um Lücken zu füllen. Peter und sein Bruder Steen, das war das Wichtigste, was ich erfunden habe. Freddie ist sehr verliebt, und Peter ist mit Freddies Widerstandsarbeit nicht einverstanden. So ist er ein feines Gegengewicht, und das braucht eine Geschichte. Aber auch die Liebe in dem Buch gefällt mir. Ich hab von allem hinzugefügt, und manchmal weiß ich es nicht mehr genau."
Überschreiten moralischer Grenzen
Ein wichtiges Buch, das einerseits Menschen zeigt, die bereit sind, für die Demokratie ihr Leben aufs Spiel zu setzen und für die Gesellschaft und die Gemeinschaft aktiv zu werden. Andererseits erzählt Geldof auch, wie leicht moralische Grenzen im Krieg überschritten werden, wie schnell Gerechtigkeitsdenken in Fanatismus umschlagen kann.
Nur, ohne den Widerstand gegen das Hitlerregime, ohne die Menschen aller Nationen, ohne jeden Einzelnen, der Leben gerettet hat, Juden versteckt hat, Essen geteilt hat - in welchem Staat würden wir jetzt leben? Und somit ist der Roman auch ein Denkmal für eine Widerstandskämpferin, für Freddie Oversteegen, die sich - gemeinsam mit ihrer Schwester - mit all ihren Möglichkeiten den Nationalsozialisten in den Weg gestellt hat.
Wilma Geldof: "Reden ist Verrat. Nach der wahren Geschichte der Freddie Oversteegen"
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Gerstenberg Verlag, Hildesheim. 346 Seiten, 18 Euro. Ab 14 Jahren