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Wintersport
Warum Norwegen so erfolgreich ist

Norwegens sportliche Erfolge im Wintersport sind erstaunlich. Nur 5,5 Millionen Einwohner hat das Land im Norden Europas. Bei den Olympischen Spielen 2018 holte Norwegen dennoch die meisten Medaillen und landete auf Platz 1 im Medaillenspiegel. Dahinter steckt System.

Von Victoria Reith | 08.12.2019
Jarl Magnus Riiber im Ziel der 10 km im Weltcup in Lillehammer 2019.
Der Norweger Jarl Magnus Riiber gewinnt ein Rennen in der Nordischgen Kombination (Mathias Bergeld/BILDBYRAN/imago)
Fragen nach der eigenen Stärke sind ja nicht immer ganz leicht zu beantworten: "Unsere Mutter und unser Vater ist the secret. (…) Unsere Mutter läuft Marathon und unser Vater ist sehr ruhig und hat immer die Kontrolle. Glück für unseren Sport."
So erklärt Tarjei Bö, gerade frisch Zweiter hinter seinem Bruder Johannes Thingnes beim Sprint in Östersund geworden, im ARD-Fernsehen den eigenen Erfolg.
Der norwegische Biathlet Tarjei Boe
Der norwegische Biathlet Tarjei Boe (picture alliance/Alexander Vilf/Sputnik/dpa)
Der Erfolg lässt sich auf die Bevölkerung hochrechnen, wie der Präsident des norwegischen Skiverbandes, Erik Röste, erläutert:
"Ski und Schnee, Skisport, das ist Teil unserer Kultur, unseres Erbes. Man sagt, dass Norweger mit Skiern an ihren Füßen geboren werden."
Aber nur weil etwas Volkssport ist, bedeutet das ja noch lange keinen Erfolg. Dazu gehört auch ein System. Norwegens Skipräsident Erik Röste:
"Wir haben im Skiverband zwei Hauptziele. Wir wollen die weltbeste Skination sein, in allen Disziplinen, und das gelingt auch von Zeit zu Zeit. Aber genauso wichtig ist es, dass wir eine Nation von Skifahrern sind. 1150 Klubs vom Süden bis in den Norden sind der Hauptgrund dafür, wieso wir so gut im Skisport sind."
"Stundenlang von der Teamkultur schwärmen"
Diese Arbeit, die in ganz Norwegen verrichtet wird, ist ehrenamtlich, betont Röste. Mehr als fünf Millionen unbezahlte Stunden im Jahr - ungefähr so viel wie die Einwohnerzahl Norwegens. Diese Clubs arbeiten zwar eigenständig, aber in engem Austausch untereinander - selbst zwischen den Sportarten.
Und aus diesen Klubs gingen dann Topathleten wie die aktuell so erfolgreichen Kombinierer um Jarl Magnus Riiber, Langläufer Johannes Klaebo oder Langläuferin Heidi Weng hervor.
Wieso es gerade jetzt so gut läuft, vermag Röste auch nicht so genau zu sagen. Die Stärke des norwegischen Wintersports sei die enge Zusammenarbeit in der Mannschaft, die er auch das norwegische Modell nennt:
"Die meisten guten Einzelergebnisse sind vor allem eine Mannschaftsleistung. Als der Skirennläufer Aksel Lund Svindal letzte Saison aufhörte, hätte er stundenlang von der Teamkultur schwärmen können und von der Arbeit, die die Mannschaft zusammen vollbracht hat. Das ist sehr stark in Norwegen."
6.000 Dosen Asthmaspray für 121 Sportler
Gleiches gelte für die Nordischen Kombinierer, die am ersten Dezemberwochenende einen Vierfachtriumph feierten, und für andere Disziplinen. Bei den Olympischen Spielen 2018 gewannen die Norweger 33 Medaillen - ein neuer Rekord für das Land, und mehr als alle anderen Nationen.
Damals entbrannte eine Debatte um ein Asthma-Spray, wie es zur Leistungsförderung in vielen Sportarten üblich - und unterhalb einer gewissen Dosierung auch ohne Sondergenehmigung erlaubt ist. Dazu sagt Skipräsident Röste:
"Wir sollten uns darauf konzentrieren, wieso so viele Athleten, nicht nur Norweger, sondern auch aus anderen Nationen Asthma haben, vor allem in Ausdauersportarten. Die Ärzte kümmern sich um die Gesundheit der Athleten. Wer Medizin braucht, bekommt sie, wer keine braucht, bekommt keine."
Die Norweger hatten 6.000 Dosen für 121 Sportler dabei. Allein die Menge macht stutzig.
Entspannung statt Siege
Mit den Vor- und Nachteilen des norwegischen Wintersportsystems beschäftigt sich Lisa Mari Watson. Die 35-Jährige war selbst professionelle Snowboarderin. Heute leitet sie eine staatlich geförderte Agentur namens Tverga, die den nicht organisierten Sport unterstützen will, zum Beispiel Skateboarder, Parcours-Sportlerinnen, Mountainbiker. Für Watson besteht die Stärke des norwegischen Systems auch hierin:
"Geld! Das norwegische Sportfinanzierungsmodell funktioniert gut. Es beruht auf den Profiten aus der norwegischen Lotterie und Glücksspiel, die durch ein staatliches Monopol reguliert sind. 64 Prozent dieser Profite gehen direkt an den Sport."
An den Sportdachverband, die unterschiedlichen Sportverbände und die lokalen Vereine. Acht von zehn Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren sind in Vereinen aktiv. Und die Wertvorgaben sind klar: Es geht um Entspannung und Spiel, nicht um Siege. Watson sagt:
"Man konzentriert sich kaum auf den Wettbewerb. Und wenn es einen Wettkampf gibt, kriegt jeder einen Preis und es geht mehr um die Gemeinschaft drum herum. Diese Leitlinien werden international als einzigartig angesehen. Und viele sagen, dass das einer der Hauptgründe ist, wieso wir vor allem im Wintersport so viele internationale Medaillen gewinnen."
Keine Vereine für Erwachsene
Kein Wettbewerb im jungen Alter, um nachher umso erfolgreicher zu sein, so das Credo, das zunächst etwas widersprüchlich klingt. Die Kinder ließen sich nicht so leicht frustrieren, würden geschützt vor zu hohem Druck. Die Verspieltheit, so Lisa Mari Watson, sorge dafür, dass junge Menschen sich auf das Positive im Sport konzentrieren können. Das endet dann mit dem 13. Geburtstag, dann platzt die Blase, und mit 17 seien nur noch 30 bis 40 Prozent in Vereinen aktiv. Die Gründe neben der Tatsache, dass einige einfach die Lust verlieren: Hoher Druck, teure Ausstattung, Reisen.
Lisa Mari Watsons Kritik: "Es gibt keine Möglichkeit für uns Ältere, sportlich aktiv zu sein innerhalb des organisierten Sports. Wir müssen dann auf selbstorganisierten Sport ausweichen, und es wäre toll, wenn es die Möglichkeit gäbe, in einer Art Verein aktiv zu sein."
Und so gibt es - neben der Frage nach den Asthma-Sprays - doch einen Wermutstropfen in einem System, das so viele Sieger hervorbringt. Der Wunsch der ehemaligen Profi-Snowboarderin Lisa Mari Watson, damit das norwegische Sportsystem nachhaltig bleibt: Es soll sich mehr den Wünschen und Interessen aller Menschen anpassen, die Interesse daran haben, Sport zu treiben. Und sich nicht nur um die Spitzensportler kümmern.