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"Wir atmen Uran, wir essen Uran"

In Kirgisistan steht eine ganze Stadt auf den atomaren Altlasten des Kalten Krieges. Nun drohen 180.000 Kubikmeter Uranschlamm in einen Fluss zu rutschen und so das Trinkwasser in Kirgisistan und Usbekistan radioaktiv zu verseuchen.

Von Andrea Rehmsmeier | 10.10.2009
    Im Fluss spielen die Kinder: schlaksige, braun gebrannte Gestalten, die durch das tosende Wasser jagen. Die Mütter sitzen am Ufer unter einem Sonnenschirm. Dahinter, schneebedeckt, die zerklüftete Gebirgskette des Tian-Shan-Gebirges. Eine grandiose Naturlandschaft. Doch die Region ist in ganz Kirgistan berüchtigt. Das Flusswasser sei radioaktiv, heißt es. Die Region soll eine der schwerst verseuchtesten der Welt sein. Viele Bewohner von Mailuu-Suu wollen das nicht glauben.

    "Wir lieben unsere Stadt, wir vertrauen unseren Spezialisten. Und wenn wirklich etwas Schlimmes geschehen sollte, dann werden sie uns rechtzeitig warnen. Sie werden Maßnahmen ergreifen. Man wird uns doch nicht einfach in einer Umwelt leben lassen, die unserer Gesundheit schaden könnte!"

    Doch etwas Schlimmes kann tatsächlich geschehen. Das ist wissenschaftlich belegt und auch international bekannt. Denn: Die 25.000-Einwohner-Stadt Mailuu-Suu, nahe der usbekischen Grenze, war in den 50er-Jahren ein Uranbergbau-Gebiet. Das Spaltmaterial, das die Bergleute hier aus dem Gestein schlugen, soll die erste sowjetische Atombombe bestückt haben. Den Abraum - Uranschlämme und radioaktives Geröll - schütteten sie einfach in Mulden und bedeckten ihn mit Erde.

    Zu Sowjetzeiten hielt noch ein Zaun Menschen und Tiere von dem strahlenden Gelände fern. Doch als der in den Wirren von Kirgistans ersten Unabhängigkeitsjahren zusammengebrochen war, zogen sich Kühe und Schafe zum Grasen auf die erwärmte Erdoberfläche und die Bewohner von Mailuu-Suu bauten hier Häuser und Gärten.

    "Sehen Sie, dort hinten, wo der Baumstumpf steht: Dort ist die Radioaktivität hoch: Sie liegt zwischen 40 und 50 Mikroröntgen, wenn man dicht am Erdreich misst. Dabei darf die Hälfte davon als oberster Grenzwert nicht überschritten werden. Schon dort herumzustehen, ist gesundheitsschädlich."

    Am Stadtrand, wo auf der einen Seite der Fluss Mailuu-Suu vorbeirauscht, und sich auf der anderen steil ein Berghang erhebt, warnt heute ein Schild vor Radioaktivität. Doch es sind nicht die erhöhten Strahlenwerte auf dem Deponiegelände, die dem Katastrophenschutzbeauftragten Sorgen machen. Almasbek Umarlievs besorgter Blick ruht auf dem Abhang, auf dem zwischen losem Geröll Grasbüschel wachsen.

    "Das hier ist Deponie Nummer drei - die gefährlichste überhaupt, wegen ihrer Nähe zum Flussufer. Sehen Sie: Da unten fließt der Mailuu-Suu. Und der Berg ist in Bewegung, die Gegend ist erdbebengefährdet. Wenn die Geröllmasse ins Rutschen gerät, dann werden auch die Uranschlämme in den Fluss gelangen. Soweit ich weiß, handelt es sich um 180.000 Kubikmeter Masse, aber das ist noch nicht endgültig geklärt."

    Zehntausende Tonnen Geröll, giftig und noch immer radioaktiv: Sollten diese immensen Mengen in den Fluss gelangen, wäre das eine internationale Katastrophe gleich. Denn das gesamte Trinkwasser im dicht besiedelten Ferganá-Becken könnte verseucht werden. Auch Wasserreservoirs in Usbekistan wären davon betroffen - und das wiederum könnte die ohnehin angespannten Beziehungen der beiden Nachbarrepubliken Usbekistan und Kirgistan aufs Gefährlichste belasten: ein Horrorszenario.

    Immerhin hat es dazu geführt, Mailuu-Suu ins Rampenlicht zu rücken; mit der Folge, dass die Stadt und ihr Umfeld zum internationalen Projekt für Nuklearsicherheit erklärt wurden - mit Dutzenden von Gutachten und einer Finanzierung durch die Weltbank. Unter der Leitung einer deutschen Firma aus Chemnitz - wo es seit der Sanierung der Uranerz-Deponien Wismut eine breite Expertise zum Strahlenschutz gibt - soll der radioaktive Hügel jetzt abgetragen werden. Die kirgisische Regierung hat die finanzkräftige Hilfe aus dem Ausland freudig begrüßt. Und doch schleppt sich seitdem im internationalen Kompetenzenwirrwarr der Entscheidungsprozess quälend langsam dahin. Wann die Arbeit beginnen soll, ist bis heute nicht klar. Bei vielen Anwohnern der Deponie steigen unterdessen Unbehagen und Angst.

    "Viele haben hier Krebs. Jeden Tag sterben die Leute hier an Krebs! Wir leben auf Uran! Wir atmen es ein, und wir essen es in unseren Lebensmitteln. Auch bei den jungen Leuten, die gar nichts mehr mit dem Uranbergbau von früher zu tun haben: Krebs, Krebs, Krebs. Die Kinder: Die haben auch Krebs."

    Boris, der Rentner, wohnt am Rand der Risiko-Deponie Nummer drei. Als er mit seiner Frau Anna Anfang der 50er-Jahre hier herzog, lief der Uranbergbau noch auf Hochtouren. Die Bergleute waren keine Einheimischen, erinnern sich die beiden.

    "Das war doch direkt nach dem Krieg, da gab es viele Kriegsgefangene: Deutsche. Und Straftäter, die zu jahrelanger Haft verurteilt waren. Diese armen Männer! Sie waren so jung und sie konnten sich an die schwere Arbeit nicht gewöhnen. Viele sind krank geworden und hier gestorben. Sie klagten über Schmerzen. Die Beine, die Venen, alles tat ihnen weh."

    Drei Kinder brachte Anna in Mailuu-Suu zur Welt, alle drei gesund. Der Enkel aber war von Geburt an behindert. Anna und Boris wollen nicht mehr schweigen. Sie gehören zu den wenigen, die den Fluch, der auf ihrer Heimatstadt lastet, beim Namen nennen: Radioaktivität.

    Tatsächlich gibt es bislang kaum Studien und damit kaum Daten und Fakten über die Erkrankungen der Menschen in der Region. Die Behörden vermeiden jede Art der Panikmache. Allein Nemat Mambetov, der Amtsarzt, dokumentiert die Krebsfälle, erstellt Statistiken und Gesundheitsstudien.

    "Tja, dieses Problem mit dem Gesundheitszustand der Menschen gibt es. Die Krebsrate ist anderthalb bis zweimal höher als in anderen Teilen der Republik. Auch die Zahl der Totgeburten und Missbildungen bei Kindern ist vergleichsweise hoch. Aber es gibt bislang keine verlässlichen Studien. Wir können also nicht sagen, ob das tatsächlich von den Urandeponien herrührt. Obwohl dieser Gedanke natürlich nahe liegt."

    Die Entsorgung der strahlenden Altlasten ist ein internationales Sanierungsprojekt, das Millionen verschlingt. Insgesamt 36 Tailings und Halden gibt es in Mailuu-Suu, und an vielen Stellen müssen Ufer befestigt und Dämme gesichert werden.

    80.000 Kubikmeter strahlendes Geröll sind in den vergangenen Jahren bereits umgelagert worden - von einer Abraumhalde, die ebenfalls rutschgefährdet an einem Flussarm lag. Das hat die Weltbank knapp eine halbe Million Euro gekostet. Nach Auffassung der Chemnitzer Gutachter gilt die Gefahr damit - an dieser Stelle - als gebannt. Die Kirgisen sehen das anders. Der Katastrophenschutzbeauftragte Umarliev möchte, dass weiter gearbeitet wird. Er zeigt auf einen einsamen Bagger, der auf den menschenleeren Schuttbergen herumsteht und noch immer auf seinen Einsatz wartet. Er wünscht sich, dass weiteres Geld fließt, damit die Gefahren für die Menschen eingedämmt werden:

    "Wie soll ich das sagen - die Materialmenge, die umgelagert werden muss, hat sich als größer erwiesen als im Projektgutachten eingeplant war. Aber bei der Weltbank sagt man uns: Bitte warten Sie ab, im Moment haben wir Wirtschaftskrise. Wir würden aber gerne weitere 50.000 Kubikmeter umlagern. Und dazu brauchen wir die doppelte Summe, um die Arbeit zu Ende zu bringen."