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"Wir haben dafür eine gesellschaftliche Mehrheit"

Ende Januar finden in Hessen und Niedersachsen Landtagswahlen statt. Dort entscheiden die Wähler, ob die CDU weiter ihr Bundesland regiert. In Hessen will die SPD in der nächsten Woche eine Unterschriftenkampagne für den Mindestlohn starten. Sie setze auf Rot – Grün, sagt die hessische SPD-Landeschefin Andrea Ypsilanti.

Moderation: Jochen Spengler | 29.12.2007
    Jochen Spengler: In vier Wochen entscheiden die Wähler in Niedersachsen und Hessen bei den Landtagswahlen darüber, ob die CDU weiter ihr Bundesland regiert. Offiziell will die CDU Hessens in einer Woche die sogenannte heiße Phase des Wahlkampfs eröffnen, aber schon gestern hat Roland Koch in der "Bild"-Zeitung den U-Bahn-Überfall auf einen Rentner in München zu markigen Äußerungen über zu viele junge kriminelle Ausländer genutzt, was ihm nicht nur von parteipolitischen Gegnern als allzu durchsichtige billige Wahlkampfrhetorik angekreidet wird. Auf Ausländerpolitik in Wahlkampfzeiten wollen wir nun nicht weiter eingehen im Interview mit der Landesvorsitzenden und Spitzenkandidatin der hessischen Sozialdemokraten, mit Andrea Ypsilanti, die ich nun am Telefon begrüße und die nächste Woche eine Unterschriftenkampagne für den Mindestlohn starten will. Das erinnert dann doch an die Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft mit der Roland Koch 1999 im Wahlkampf gepunktet hat. Seit wann, Frau Ypsilanti, gilt denn für Sie das Motto: Von Roland Koch lernen, heißt siegen lernen?

    Andrea Ypsilanti: Wir haben nicht von Roland Koch gelernt, das würden wir nie tun, weil wir eine ganz andere Politik machen. Aber die Frage des Mindestlohnes gehört zu unserer Kampagne, weil es in unserer Kampagne auch um soziale Gerechtigkeit geht. Aber wir unterscheiden uns natürlich in dieser Unterschriftenkampagne von Roland Koch. Roland Koch hat damals die Unterschriftenkampagne als Spaltungsthema, als Angstthema angelegt. Unsere Unterschriftenkampagne heißt, wir kämpfen für, nämlich für gerechte Löhne, damit die Menschen von dem, was sie verdienen, auch wieder leben können.

    Spengler: Frau Ypsilanti, nun spaltet das Thema Mindestlohn auch die Gesellschaft. Sie haben nicht nur Roland Koch als Gegner, auch der Bundespräsident warnt heute in der "FAZ" vor einem Mindestlohn. Ist das Wahlkampfhilfe für den Ministerpräsidenten?

    Ypsilanti: Das kann ich nicht beurteilen, aber ich weiß, dass die Mehrheit der Menschen in dieser Republik auf unserer Seite steht, weil sie merken, dass das Land in eine soziale Schieflage geraten ist, dass die unteren Lohngruppen zunehmen und die Einkünfte aus Vermögen weiter sich entfernen. Und das regt die Gewerkschaft auf, das regt die Menschen in der Bundesrepublik auf, das regt übrigens auch die Menschen im Mittelstand und im Handwerk auf. Wir haben dafür eine gesellschaftliche Mehrheit.

    Spengler: Ich will nur ganz kurz auf das zu sprechen kommen, was Horst Köhler sagt. Er warnt vor einem Mindestlohn, der von den Arbeitgebern im Wettbewerb nicht gezahlt werden könne und deswegen Arbeitsplätze vernichte. Wollen Sie das, schlecht bezahlte Arbeitsplätze vernichten und die dann möglicherweise ins Ausland verlagern lassen?

    Ypsilanti: Wissen Sie, es gibt ja nun Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern, die das überhaupt nicht bestätigt haben, was Herr Köhler hier sagt, und es gibt genug Volkswirtschaftler, die sagen, es werden keine Arbeitsplätze vernichtet, sondern es gibt mehr Geld in die Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Damit konsumieren sie auch wieder, und das belebt auch die Binnennachfrage. Und das sehen übrigens auch die Mittelständler so.

    Spengler: Sie können aber auch als Politikerin, das wissen Sie, die Unternehmen vielleicht zu einem Mindestlohn in Deutschland gesetzlich zwingen, aber Sie können als Politikerin die Unternehmen nicht dazu zwingen, auch Arbeitsplätze mit diesem Mindestlohn zur Verfügung zu stellen. Was machen Sie, wenn es nicht hinhaut?

    Ypsilanti: Wir werden sehen, dass es hinhaut. Das zeigen uns auch die Erfahrungen aus den anderen Ländern, zum Beispiel aus Großbritannien. Und wir werden nie in Deutschland einen Wettbewerb um die billigsten Löhne gewinnen, sondern wir werden in Deutschland nur einen Wettbewerb im internationalen Vergleich gewinnen mit guten Produkten, mit Innovation, mit Forschung und mit guten Produkten. Und das funktioniert nicht, wenn die Menschen für Billiglöhne arbeiten.

    Spengler: Aber könnte es sein, dass es einfache Tätigkeiten gibt, die schon sinnvoll sind, für die aber niemand mehr zahlen würde, als sagen wir mal sechs Euro die Stunde.

    Ypsilanti: Wissen Sie, wir haben in Hessen die Diskussion mit Herrn Koch, der sagt, Menschen müssen für jeden Preis arbeiten, und wenn sie nicht für jeden Preis arbeiten, dann muss der Staat das aufstocken. Wir sind mittlerweile soweit, dass wir aus den Sozialkassen Dumpinglöhne von Unternehmen subventionieren. Und dafür sind die Sozialkassen nicht da. Ich bleibe dabei, es wird keine Abwanderung geben, und es wird auch keinen Arbeitsplatzverlust geben durch Mindestlöhne, sondern es wird dazu beitragen, dass die Menschen wieder Geld in ihrem Geldbeutel haben. Und ich halte es auch für eine Frage der Gerechtigkeit, dass Menschen, die den ganzen Tag arbeiten, von dem, was sie verdienen, sich und ihre Familie wieder ernähren können.

    Spengler: Frau Ypsilanti, was hat der Mindestlohn eigentlich zu tun mit einer Landtagswahl? Ist die Regierungsbilanz von Roland Koch so gut, dass Sie es mit landesspezifischen Themen nicht packen?

    Ypsilanti: Also wir haben natürlich schon – die SPD ist die einzige Partei, die seit einem halben Jahr schon Wahlkampf macht, und zwar mit Hessen-Themen. Von der CDU ist ja bisher überhaupt noch nichts zu sehen gewesen. Unsere Hessen-Themen sind die Bildungspolitik, da hat er eine grottenschlechte Bilanz, unsere Themen ist die Familienpolitik, weil wir sagen, wir brauchen eine moderne Familienpolitik. Unsere Themen ist die erneuerbare Energie, weil wir sagen, wenn wir aus der Atomkraft aussteigen, müssen wir sagen, wo der Strom herkommt. Dafür haben wir ein Programm aufgelegt. Wir haben die ganze Zeit die Hessen-Themen in den Vordergrund gestellt. …

    Spengler: Um bei einem Thema zu bleiben, die Bildungspolitik.

    Ypsilanti: … Und zum Thema Mindestlohn: Es nicht egal, wer in den Ländern regiert, wenn bundesweit ein Mindestlohn durchgesetzt werden soll.

    Spengler: Weil Sie die Mehrheit im Bundesrat brauchen?

    Ypsilanti: So ist es.

    Spengler: Bleiben wir kurz bei der Bildungspolitik, bleiben wir noch mal bei Horst Köhler. In demselben Interview in der "FAZ" sagt er, die Ungleichheit der Bildungschancen in Deutschland sei nicht hinzunehmen, die Durchlässigkeit des Bildungssystems habe abgenommen für Arbeiterkinder und für Kinder von Zuwanderern. Ist das Wahlkampfhilfe für Sie?

    Ypsilanti: An dieser Stelle kann ich Herrn Köhler nur zustimmen, denn wir wissen, dass unser Bildungssystem nicht durchlässig ist. Wir haben gerade in Hessen ein ganz schlechtes Bildungssystem. Wir müssen auf viel zu viele Talente von Kindern verzichten. Es ist eine Frage der Chancengleichheit in der Bildungspolitik, aber es ist eben auch eine Frage der politischen Vernunft. Wenn wir wissen, dass immer weniger Kinder geboren werden, dann müssen wir auch wissen, dass wir auf kein einziges Talent irgendeines Kindes in Zukunft mehr verzichten können.

    Spengler: Deswegen wollen Sie eine Art Einheitsschule bis zur zehnten Klasse. Was haben Sie denn gegen Gymnasien?

    Ypsilanti: Die Einheitsschule wollen wir natürlich nicht, sondern wir wollen die Schule der Vielfalt. Wir wollen vielfältige Chancen, wir wollen vielfältige Talente fördern, wir wollen vielfältige Persönlichkeiten fördern. Und das wollen wir in einer Schule, wo Kinder möglichst lange die Chance auf den besten Abschluss haben. Das heißt, wir wollen jedes Kind individuell fördern. Wir haben jetzt das Problem, dass in der vierten Klasse entschieden wird, in welche Schulform ein Kind geht, und dann ist es da drin auch fest. Aber wer kann denn schon ein Kind mit zehn Jahren beurteilen, ob es nicht später sich noch mal sehr gut entwickelt und vielleicht doch Abitur machen kann? Und deshalb wollen wir ein vollkommen durchlässiges Bildungssystem, wo Kinder sehr lange die besten Chancen haben, auch wenn es sich vielleicht erst mit 11 oder 12 oder 13 voll entwickelt.

    Spengler: Wäre das das Ende der Gymnasien?

    Ypsilanti: Das ist nicht das Ende der Gymnasien. Wir werden kein Gymnasium zumachen, sondern wir sagen, wir stellen es den Schulen, also den Schulen, den Schulträgern, den Eltern, den Lehrern frei, sich zu so einer Schule zu entwickeln. Sollten die Schulen und der Schulträger, die Eltern sagen, wir wollen unser Gymnasium behalten, können sie das tun. Ich glaube nur, dass diese Schule, wie wir sie beschreiben, möglichst lange gemeinsam lernen, individuell fördern, jedem Kind die besten Chancen geben, dass das eine Schule der Zukunft sein wird. Das zeigen uns ja auch die Vergleiche mit Ländern von integrierten Systemen, die bei PISA sehr viel besser abgeschnitten haben.

    Spengler: Nach der letzten Umfrage, Frau Ypsilanti, würde es für die SPD nur zu einer Regierung reichen in einem Bündnis mit den Grünen und den Linken oder der FDP. Ist Rot-Grün-Rot eine Option für Sie?

    Ypsilanti: Das habe ich immer gesagt, ich schließe die Option mit der Linkspartei aus.

    Spengler: Warum?

    Ypsilanti: Die Linkspartei in Hessen braucht niemand, außer Herrn Koch. Herr Koch braucht die Linkspartei, um seine Wähler an die Urne zu bringen, denn scheinbar hat er kein anderes Thema. Er macht Angst vor Kommunisten. Wir sagen, wir koalieren nicht mit ihnen, sondern ich setze auf Rot-Grün.

    Spengler: Warum nicht?

    Ypsilanti: Weil es eine rückwärtsgewandte Partei ist, die eigentlich keine gute Programmatik hat. Die einzige Programmatik, die sie hat, hat sie zum Teil bei uns abgeschrieben, wenn sie zukunftsgewandt ist. Ansonsten ist sie sehr rückwärtsgewandt.

    Spengler: Das hat aber Herrn Wowereit in Berlin nicht gehindert, mit ihr eine Koalition einzugehen.

    Ypsilanti: Das müssen die Länder für sich entscheiden. Ich spreche von den hessischen Linken, und die hessische Linke ist eine rückwärtsgewandte Partei. Sie möchte viele Räder zurückdrehen, aber die hessische SPD ist eine Partei der sozialen Moderne. Das heißt, wir stehen für Reformen, wenn sie sozial gerecht sind. Das Rad nur zurückzudrehen, wie das die Linke in Hessen will, das bringt überhaupt niemandem was. Und deshalb sind sie für uns auch keine Koalitionspartner.

    Spengler: Könnten Sie sich vorstellen, unter Ministerpräsident Koch Ministerin zu sein, in einer Großen Koalition?

    Ypsilanti: Nein. Wir machen einen sehr profilierten Wahlkampf. Wir zeigen sehr klar, wo sich die großen Parteien in Hessen unterscheiden. Es gibt keine deckungsgleichen Programme – in der Bildungspolitik nicht, in der Energiepolitik, auch nicht in der Integration oder in der Familienpolitik. Deshalb ist eine Große Koalition nicht denkbar.

    Spengler: Danke. Andrea Ypsilanti, Landesvorsitzende der hessischen Sozialdemokraten, im Deutschlandfunk.

    Ypsilanti: Bitte schön!