Dienstag, 19. März 2024

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"Wir hauen die Natur entzwei! Um etwas Neues daraus zu machen."

Daniil Charm war ein russischer Lyriker, Dramatiker und Kinderbuchautor, der während der Schreckensherrschaft Stalins lebte. Seine Werke konnten erst postum nach dem Wandel der Sowjetunion in den 1990er-Jahren einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Sie werden der Avantgarde zugerechnet.

Von Rainer Schmitz | 01.04.2012
    Daniil Charms wurde gleich drei Mal geboren. Und das kam so:

    Meine Empfängnis fand am 1. April des Jahres 1905 statt. [ ... ] da ich eine Frühgeburt war und vier Monate vor der Zeit geboren wurde [, geriet] Papa dermaßen in Rage, dass die Hebamme, die mir auf die Welt geholfen hatte, vollkommen fertig mit den Nerven, begann, mich dahin zurückzustopfen, wo ich eben erst hergekommen war. [ ... ], was denn auch gelang, in der Eile allerdings, wie sich erst später herausstellte, ins falsche Loch.
    Man musste einen erfahrenen Arzt holen. Der erfahrene Arzt untersuchte die Erzeugerin und breitete resigniert die Arme aus, hatte allerdings begriffen und gab der Erzeugerin eine ordentliche Dosis Bittersalz. Die Erzeugerin bekam Durchfall, und auf diese Weise erblickte ich zum zweiten Mal das Licht der Welt. Da geriet Papa erneut in Rage, das könne man ja wohl nicht als Geburt bezeichnen, das sei ja wohl noch kein Mensch, sondern eher ein halber Embryo und den müsse man entweder retour befördern oder in den Brutkasten legen. Also legte man mich in den Brutkasten.
    Im Brutkasten verbrachte ich vier Monate. Ich erinnere mich nur noch, dass der Brutkasten aus Glas und durchsichtig war und dass er ein Thermometer hatte. Ich hockte mitten in dem Brutkasten auf Watte. [ ... ]
    Nach vier Monaten nahm man mich aus dem Brutkasten heraus. Das tat man just am 1. Januar 1906. So wurde ich gewissermaßen zum dritten Mal geboren. Mein Geburtstag war von da an genau der 1. Januar.


    Eine völlig verrückte Geschichte! Absurd, grotesk, bizarr und dennoch wunderbar bis zur Wunderlichkeit, wie vieles auch im Leben des Daniil Iwanowitsch Charms.

    Mich interessiert nur der 'Quatsch'; nur das, was keinerlei praktischen Sinn hat. Mich interessiert das Leben nur in seiner unsinnigen Erscheinung.

    Mit bürgerlichem Namen hieß er Juwatschow. Er wurde zwar nach dem alten, dem julianischen Kalender, am 17. Dezember 1905 in St. Petersburg geboren, was nach dem neuen, dem gregorianischen, der 30. Dezember ist.

    Natürlich wurde Charms nicht dreimal geboren. Aber er lebte eine dreifache literarische Existenz: Er war Lyriker, Dramatiker und Kinderbuchautor.

    Schon früh legte er sich das Pseudonym Charms zu, das im Laufe der Jahre zahlreich variiert wurde, Chcharms etwa, oder Chorms, in Kinderbüchern tauchen außerdem Kolpakov und Karl Iwanowitsch Schusterling-Chaarms auf. Etwa dreißig Pseudonyme sind bekannt.

    Charms wuchs im großrussischen Reich heran. Eine belastete Kindheit. Sein Vater war nämlich ein Narodowelez, ein Volkstümler, der wegen Beteiligung an einem Attentat auf den Zaren zum Tode verurteilt, später aber zu lebenslänglicher Verbannung begnadigt wurde. Irgendwann kam er ganz frei und heiratete und führte ein bürgerliches Leben. Eine belastete Kindheit auch, weil die Familie durch die Oktoberrevolution mittellos wurde.

    Er zeigte sich begabt, dachte sich aber auch viele Streiche aus. So fantasievoll er seine Eskapaden inszenierte, soll er in der Schule auch Disziplinarmaßnahmen mit humorvollen und schlagfertigen Antworten abgewendet haben.

    Im Spätsommer 1924 begann er ein Hochschulstudium am 1. Leningrader Eletrotechnikum. Wegen seltener Anwesenheit und "Inaktivität in der gesellschaftlichen Arbeit" hat man ihn im Februar 1926 exmatrikuliert.

    Im Oktober desselben Jahres nahm Charm ein weiteres Studium in der Filmabteilung des neugegründeten staatlichen Instituts für Kunstgeschichte auf. Hier formierte sich eine avantgardistische Kultur, die neue Grundlagen für das Theater, für Kunst, Literatur und Film schuf. Auch dieses Studium schloss er nicht ab. Aber es sind Einflüsse nachweisbar, die sich in der grotesken Exzentrizität von Figuren und Gegenständen, in Nonsense- und Slapstickelementen niedergeschlagen haben.

    Bereits als Student machte Charms sich einen Namen als Rezitator und Interpret von Gedichten Majakowskis und Bloks, die er virtuos mit Zauberkunststücken begleitete. Er trat meist auf kleinen Szenebühnen auf, oft in musikalischer Begleitung des Komponisten Paul Marcel, des Bruders von Charms' erster Frau Esther. Manchmal hatte er auch eine Ballerina dabei.

    In Leningrad bewohnte Charms eine Gemeinschaftswohnung - eine Kommunalka, die bevorzugte Wohnform in der jungen Sowjetunion. Sein Zimmer war die Hälfte eines ehemals größeren, in das eine Zwischenwand eingezogen war, und höchstens 15 Quadratmeter groß und sehr karg möbliert: nichts außer Tisch, Stuhl und ein durchgelegenes Sofa. Nicht einmal ein Bücherschrank. Vor den Fenstern hingen Vorhänge aus Bettlaken. An den Wänden aber standen Sprüche, groß wie Plakatlosungen.

    Eines Nachts weckte Charms seine Frau:

    Lass uns den Ofen anstreichen.

    "Wozu in aller Welt das?"

    Wir haben doch noch rosa Farbe, wir sollten ihn rosa streichen.

    "Und dann bekam noch alles, was irgend ging, einen rosa Anstrich. Andere Farbe hatten wir ja nicht. Beim Streichen haben wir gelacht, hielten uns die Bäuche vor Lachen. Irgendwie fanden wir die Sache sehr lustig."

    Und sie verbrachten die restliche Nacht damit, den Ofen mit dieser idiotischen Farbe anzustreichen. Einmal gingen sie sogar auf eine imaginäre Rattenjagd.
    Solche dadaistischen Streiche hinderten ihn nicht, tags als Dandy zu erscheinen.

    "Sein Aufzug war immer eigenwillig: kariertes Jackett, Extraanfertigung irgendeines Schneiders; stets ein sauberer Kragen, Knickerbocker und Gamaschen. So zog sich sonst keiner an, er aber lief immer so herum. Unvermeidlich die große, lange Tabakspfeife im Mund. Er rauchte auch im Gehen. Den Stock in der Hand. Am Finger ein großer Ring mit einem Stein, ich glaube, es war ein sibirischer Diamant, ein Gelber."

    Eine gepflegte Eleganz und Manieren ganz im Stil des viktorianischen Meisterdetektivs Sherlock Holmes.

    Eine solche anachronistische Haltung passte nicht zu dem heroischen Pathos, das mit und nach der Oktoberrevolution erwacht war. Die Erinnerungen an Charms aus den 30er-Jahren aber sind verknüpft mit seinem wunderlichen Erscheinungsbild.

    "Er war groß, obwohl er etwas krumm ging. Und er hatte einen Tick: eine ruckartige Bewegung beider Hände, die - genauer gesagt, die Zeigefinger - unter der Nase zusammenfanden, sodass sie ein Dach bildeten; dabei gab er einen Laut von sich, der wie ein Räuspern klang, beugte sich leicht nach vorn und tippte mit der rechten Fußspitze ein paar Mal leicht und schnell gegen den Boden."

    Sein "westlich" bizarrer Lebensstil, das Zelebrieren vorrevolutionärer Manieren - er nahm seinen Hut ab und küsste Damen mit etwas altmodischer Höflichkeit die Hand - erregte Verwunderung, aber auch Anstoß. Vor allem, wenn er sich noch einen Schnuller um den Hals gehängt hatte. Das verordnete "Neue Sein" erblickte darin nicht nur einen Verstoß, sondern verfolgte nur wenig später unter Stalin solcherart "Kosmopolitismus" als "Verrat an der Heimat".

    Ende 1927/Anfang 1928 gründeten einige Schriftsteller und Künstler in Leningrad, dem ehemaligen St. Petersburg, die Vereinigung Oberiu.

    Abkürzung für: Ob-edinenjie real'nowo iskusstwa - Vereinigung der realen Kunst.

    Charms war einer der Initiatoren und Hauptvertreter dieser Gruppe futuristisch-surrealistischer Kunst, zu der noch Alexander Wedenski, Igor Bachterew, Nikolai Sabolotzki, Konstantin Waginow gehörten. Mit dabei war auch der Maler Kasimir Malewitsch, dessen Kunst und Ästhetik Charms sehr schätzte.

    Sie alle suchten nach einer Erneuerung der Kunst durch Lösung vom kanonisch werdenden proletarischen Realismus und durch den totalen Bruch mit dem Überkommenen. Die völlige Auslöschung eines kulturellen Gedächtnisses, die einer Sinnvernichtung gleichkommt, führte zu einem radikalen Utopismus. Neue megalomanische Weltformeln schlugen sich in Neologismen einer Sprache von Agitation und Propaganda, Reklame und Presse und auch der Bürokratie nieder. Die poetischen Verfahren etwa der "Zaumnike", einer Kunstsprache der Futuristen um Burljuk und Chlebnikow, wirkten auch bei Charms:

    Bäume, alle alle alle piff
    Steine alle alle alle paff
    Natur ganz ganz ganz puff

    Mädchen alle alle alle piff
    Männer alle alle alle paff
    Ehe ganz ganz ganz puff

    Slawen alle alle alle piff
    Juden alle alle alle paff
    Russland ganz ganz ganz puff


    Oder ein Prosabeispiel:

    Ein altes Mütterchen hatte nur vier Zähne im Mund. Drei Zähne oben, einen unten. Kauen konnte das alte Mütterchen mit diesen nicht mehr. [ ... ] Und da beschloss das alte Mütterchen, sich sämtliche Zähne entfernen und sich ins untere Zahnfleisch einen Korkenzieher einsetzen zu lassen, ins obere eine kleine Zange. Das alte Mütterchen trank Tinte, aß rote Rüben und putzte sich die Ohren mit Streichhölzern. Das alte Mütterchen hatte vier Hasen. Drei Hasen oben, einen unten. Das alte Mütterchen fing Hasen mit den Händen und setzte sie in enge Käfige. Die Hasen weinten und kratzten sich mit den Hinterpfoten die Ohren. Die Hasen tranken Tinte und aßen rote Rüben. Ssa-ssa-ssa! Die Hasen tranken Tinte und aßen rote Rüben!

    Eine solche erzählerische Nullperspektive war im Kulturverständnis der Apparatschiks nicht zu gebrauchen und dementsprechend zu unterdrücken. Als sie am staatlichen Institut für Kunstgeschichte ihre Gedichte vortrugen, wurde darüber gestritten, ob sie noch mehr Gedichte rezitieren sollen. Als der Leiter des literarischen Zirkels sagte: "Nein, lohnt sich nicht", stieg Charms auf einen Stuhl, erhob mit einer "großen Geste" und - so wird kolportiert - einem Stock bewaffnet, seinen Arm und erklärte:

    Genossen, nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich weder in Pferdeställen noch Bordellen auftrete!

    Das löste einen Tumult aus. Die gleichgeschaltete Presse empörte sich.

    Als Ende 1925 Malewitsch die Leitung des "Instituts für künstlerische Kultur" offiziell entzogen wurde, verblieb nur noch das "Haus der Presse" als das einzige noch verbliebene Zentrum unangepasster "linker" Kultur in Leningrad. Es verfügte seit 1926 über ein eigenes Theater.

    Hier wurden die Oberiuten mit offenen Armen empfangen. Eine große Präsentation im "Haus der Presse" am Abend des 24. Januar 1928, angekündigt als "Drei linke Stunden", zog einige Hundert Neugierige der Kunstszene an.

    "In der ersten literarischen Stunde kam Charms auf einem schwarz lackierten Schrank hereingefahren, der von meinem Bruder und einem Freund geschoben wurde, die sich im Innern des Schranks befanden. Daniil stand obendrauf. Geschminkt, bleichgesichtig, in einem langen, mit einem roten Dreieck verzierten Rock, das goldene Lieblingsmützchen mit Fransen auf dem Kopf, stand er da wie eine fantastische Statue oder ein Spielmann aus unbekannten Zeiten. Er las mit lauter Stimme, ein wenig singend, 'phonetische Gedichte'..."

    Die Kunst ist ein Schrank!

    Hier wurde eines der Postulate der Oberiuten sinnbildlich vorgeführt.

    Wedenski fuhr auf einem Dreirad herum und schmetterte Verse ins Publikum, Waginow wurde von einer Ballerina umtanzt, andere Teilnehmer sollen auf allen Vieren durch die Korridore des Hauses gekrochen seien, während Charms bunte Kugeln aus seinem Mund zauberte. Darauf folgten die Uraufführung von Charms' Stück "Elisaweta Bam" und des Antikriegs-Stummfilms "Der Fleischwolf".

    Ein denkwürdiger Abend - ganz im Stil eines dadaistisches Happenings, eines futuristischen Spektakels.

    Charms hatte in kürzester Zeit das Stück "Elisaweta Bam" verfasst, das unter seiner Regie aufgeführt wurde. Es ist ein Stück ohne rechte Handlung, ein Stück absurdes Theater - zwanzig Jahre vor "Warten auf Godot".

    Elisaweta Bam erwartet in ihrem Zimmer die Verhaftung wegen eines angeblich von ihr begangenen "abscheulichen" Verbrechens. Schon nach wenigen Minuten verlässt das Stück jedoch die Realitätsebene und mündet in eine Revue von banalen und tragischen, komischen und grotesken Szenen, von purem Nonsense, philosophischen Exkursen, hochpoetischen Sentenzen und lautmalendem Gestammel.

    Die Aufführung geriet zum Skandal, wurde von offizieller Seite als "bis zum Zynismus unverblümter Wirrwarr" degradiert. Heute werden Charms' Stücke, insbesondere "Elisaweta Bam", in einem Atemzug mit den Meisterwerken des absurden Theaters von Ionescu und Beckett genannt. Bis auf sein Stück "Zirkus Schardam", das im Oktober 1935 auf die Bühne gebracht und ebenfalls gleich wieder abgesetzt wurde, erlebte Charms keine weiteren Aufführungen.

    Denn die Parolen und Losungen der "literarischen Rowdys", wie sie jetzt beschimpft wurden, lauteten:

    Zerschlagung der Kunst!

    Wir hauen die Natur entzwei! Um etwas Neues daraus zu machen.

    Die Oberiuten sind eine neue Formation revolutionärer Kunst!

    Wir sind Oberiuten und keine schreibenden Saisonarbeiter!

    Wir sind nicht Lieferanten zeitkonformer Literatur!

    Und Gedichte müsse man so schreiben,...

    ...dass das Glas zerspringt, wenn man sie gegen ein Fenster schmeißt.


    Solche Provokationen entfachten den lautstarken Protest der tonangebenden Literaturfunktionäre. Publikationen wurden unterbunden, die Veranstaltungen angegriffen und diffamiert. Das Ende läutete ein Schmähartikel in der Zeitschrift "Smena" vom 9. April 1930 ein, in dem den Oberiuten Widerstand gegen die Diktatur des Proletariats unterstellt wird.

    Das war das praktische Verbot. Oberiu war die letzte eigenständige "linke" avantgardistische Gruppierung in Leningrad vor der offiziellen Gleichschaltung.

    Zu Lebzeiten sind deshalb nur zwei Gedichte von Charms in Almanachen erschienen, für sein 1927 fertiggestelltes Buchmanuskript "Die Leitung der Dinge" fand er keinen Verlag. Um 1930 muss ihm klar gewesen sein, dass er nur für sich und den Freundeskreis schrieb.

    Seit dem Verbot ist Charms weitgehend nur als Kinderbuchautor wahrgenommen worden. Samuil Marschak - ein beliebter Autor für Kinder und Jugendliche und Leiter der Kinderbuchabteilung des Staatsverlages in Leningrad - hatte Charms schon im Frühjahr 1927 zur Mitarbeit herangezogen. Hier erschienen ab 1928 zahlreiche Verse und kleine Gedichte in den Monatszeitschriften "Igel" und "Zeisig" und die ersten Kinderbücher.

    Dabei waren Kinder ihm Zeit seines Lebens ein Graus, erzählt Marina Durnowo, Charms' zweite Ehefrau.

    "Er konnte sie einfach nicht ausstehen - eine Abneigung, die an Hass grenzte. Und dieser Hass fand sein Ventil in dem, was er für Kinder machte. Ausgerechnet dieser Hass kam bei Kindern wahnsinnig gut an. Die Kinder konnten sich totlachen, wenn er vor ihnen auftrat."

    "Man kann sich nicht vorstellen, was losging, wenn Danja die Bühne betrat: Die Kinder schrien, kreischten und klatschten, trampelten vor Begeisterung. Sie liebten ihn über alles. Er begann mit Zaubertricks. Plötzlich hatte er eine Spielzeugkanone in der Hand. Keine Ahnung, wie und wo er sie hervorgezogen hatte. Aus dem Ärmel vielleicht. Als Nächstes irgendwelche Kugeln. Er holte sie hinterm Kragen hervor, aus Ärmeln, Schuhen, Hosenbeinen, ja, aus der Nase... Die Kinder brüllten, es war nicht zum Aushalten."

    Einmal in einem Pionierlager, von wo es ein ziemlich weiter Weg bis zum Bahnhof war, erhoben sich nach seinem Auftritt alle seine Zuhörer und folgten ihm, wie dem Rattenfänger von Hameln, bis zum Zug, standen da und sahen ihm nach, wie er abfuhr.

    "Wo immer er hinkam, gab es ein großes Hallo. Man vergötterte ihn. Weil er alle zum Lachen brachte. Er musste bloß in irgendeiner Runde auftauchen, schon ging das Gelächter los und hörte nicht mehr auf, solange er da war."

    Für die Kinder, die er doch wohl gar nicht so abgrundtief hassen konnte, wie es heißt, schrieb er einige der schönsten Kinderbücher, die bis heute immer wieder und in vielen Sprachen der Welt verlegt werden: "Zirkus Schardam" etwa oder "Erstens und zweitens", das 1929 von Wladimir Tatlin illustriert wurde.

    Im Dezember 1931 wurde seine Wohnung durchsucht, Charms verhaftet. Sein Gedicht "Million" stelle eine Verhöhnung der Pionierbewegung dar. Offiziell hieß die Anschuldigung: antisowjetische Tätigkeit.

    Er wurde für drei Jahre nach Kursk verbannt, bekam aber schon nach einem Jahr die Erlaubnis zurückzukehren und durfte weiter für den Kinderbuchverlag schreiben.

    Charms erlebte weiterhin Schikanen, denn die Politisierung auch der Kinderliteratur nahm zu, am Ende wurde die Redaktion zerschlagen, Marschak vertrieben.

    Anfang 1937 war Charms' folgenreichster Text erschienen, allgemein bekannt unter dem Titel "Einst ging ein Mensch aus seinem Haus", hier in der neuen Übersetzung von Alexander Nitzberg:

    Ein Mann mit Säckchen und mit Stock
    Trat einmal aus dem Haus
    Und in die Wolt,
    und in die Wult,
    und in die Welt hinaus.

    Er schaute nur geradeaus,
    geradeaus er lief,
    wobei er
    weder trank noch aß
    noch aß noch trank noch schlief.

    Bis er sich eines Morgens früh
    Im dunklen Wald befand,
    worauf er dinn,
    worauf er donn,
    worauf er dann verschwand.

    Und trifft ihn einer unter euch
    So rein eventuell,
    dann sagt es ins,
    dann sagt es ans,
    dann sagt es uns ganz schnell.


    Nur scheinbar ein harmloses Kindergedicht. Doch 1937 war das Jahr, in dem die großen Schauprozesse Stalins ihren schaurigen Höhepunkt fanden.

    Viele von Charms Texten sind datiert. So manches Ereignis während des stalinistischen Terrors lässt sich im Fakt oder in der Stimmung belegen, ähnlich wie bei Michail Bulgakow in seinem in der gleichen Zeit entstehenden Roman "Der Meister und Margarita". Da werden Menschen von Herren in Ledermänteln abgeholt, und Tote, eben hat man sie begraben, stehen plötzlich wieder in der heimischen Küche...

    Als Veröffentlichungen auch im Kinderbuchverlag unmöglich geworden waren, verlegte Charms sich, um Geld zu verdienen, aufs Übersetzen von unverdächtigen Texten.

    Die Honorare, die Danja bekam, waren das einzige Geld, das wir fürs tägliche Leben hatten. Verdiente er etwas und bekam das verdiente Geld ausbezahlt, gab es für uns etwas zu essen.

    Und wenn es mal wieder nicht reichte, blieben sie den ganzen Tag im Bett und verschliefen den Hunger. Im Oktober 1937 klagte Charms:

    "Haben zum letzten Mal lecker gegessen (Würstchen mit Makkaroni). Denn morgen ist kein Geld in Sicht, und es kann auch gar keins geben. Zu verkaufen haben wir auch nichts. Vorvorgestern habe ich die Partitur des "Ruslan", die mir nicht gehörte, für 50 Rubel verkauft. Ich habe Geld ausgegeben, das mir nicht gehörte. Mit einem Wort, ich habe zum Äußersten gegriffen."

    Die Vereinsamung nahm zu. Verhaftung, Verbannung und Tod dezimierten den Freundeskreis. Der Hunger wurde zum täglichen Begleiter.

    Am 23. August 1941 wurde Charms erneut verhaftet. Unter Vorwand lockte man ihn in den Hof, wo er - halb angezogen und barfuß in Pantoffeln - abgeführt wurde. Der Vorwurf lautete: "Verbreitung defätistischer Propaganda". Zwei Monate zuvor, am 22. Juni, waren deutsche Soldaten in die Sowjetunion eingefallen. Der "Große Vaterländische Krieg" hatte begonnen. Nur wenige Tage später, am 8. September, begann die Blockade Leningrads durch deutsche und finnische Truppen.

    Charms' Wohnung in der Uliza Majakowskaja wurde bei einem der ersten Bombenangriffe unbewohnbar, aber nicht zerstört. Ein Freund, Jakov Druskin, rettete, was an Manuskripten zu retten war. Den Koffer mit den kostbaren Papieren trug er während all der Schrecken der
    900-tägigen Blockade stets bei sich.

    Charms hatte psychische Störungen simuliert, um nicht als Soldat in den Krieg ziehen zu müssen. Was sich zunächst als hilfreich erwies, wird schon bald zur tödlichen Falle: Nach einer gerichtsmedizinischen Untersuchung erklärte man ihn am 10. September für schizophren. Als Kranker verblieb er in der belagerten, geschundenen, hungernden Stadt. Evakuiert wurden zuerst die Gesunden. Am 2. Februar 1942 ist er in der psychiatrischen Abteilung des Gefängniskrankenhauses in Leningrad vermutlich verhungert. Die genauen Todesumstände sind nicht bekannt.

    Das letzte Bild aus der Untersuchungshaft zeigt ein ausgemergeltes Gesicht, knochig mit blicklosen Augen.
    1956 wurde Charms rehabilitiert. Es dauerte aber noch Jahrzehnte, bis 1986/87 in der Sowjetunion der Durchbruch erfolgte. In Deutschland hat sich der Slawist Peter Urban in den letzten Jahrzehnten mit seinen Übersetzungen russisch-sowjetischer Avantgardisten auch Verdienste um Charms erworben. Seine in Auswahlausgaben erschienenen Übersetzungen machten Charms vor allem als Autor skurriler Humoresken und surrealer Alltagsgeschichten bekannt.

    Die Werkausgabe des Galiani Verlages - vier schön gestaltete Bände mit Fotografien und Zeichnungen von Charms - erfasst und erschließt nun erstmals systematisch die Prosa, die Gedichte, die Dramen sowie Autobiografisches . Der überwiegende Teil der nahezu 1200 Druckseiten ist neu übersetzt von Alexander Nitzberg und Beate Rausch. Sie geben Charms eine frische, jüngere und frechere Stimme, die auf Effekthascherei nicht verzichtet. Stilistische Eigenheiten werden genauer wiedergegeben, ebenso idiomatische Feinheiten des Leningrader Slangs. Das macht bisherige offene Widersprüche verständlicher, die mit der "Absurdität" des Textes und in ausgiebigen Fußnoten erklärt worden sind.

    Charms' Grundmuster ist ein plötzlich eintretendes unvorhersehbares Ereignis, das er schildert, aber nicht erklärt. Und wenn man sich schon an den Kopf fassen will, dann schließt er seinen Text, oft sogar lapidar mit der Floskel "Das ist alles". Für ihn ist die Sache damit erledigt. Doch im Leser - vor allem aber im Zuhörer - beginnt es zu wirken wie eine Droge.

    Fröhlich-düster und schaurig-schön geht es bei Charms zu. Häufig fallen Frauen von Dächern oder aus Fenstern. Da gibt es einen Wundertäter, der sein Leben lang kein einziges Wunder vollbringt. Einem Mädchen wachsen plötzlich zwei Schleifen aus der Nase...

    Man kann sich ausschütten vor Lachen, wenn Charms ein neues Schriftstellertalent vorstellt, oder traurig-nachdenklich dem Schicksal einer Professorengattin nachsinnen, die im Irrenhaus endet und auf dem Fußboden unsichtbare Fische angelt.

    Charms ist nicht nur ein Meister des existenziell Absurden, der totalen komischen Sinnvernichtung, sondern dabei ein Wortzauberkünstler und Nonsensvirtuose par excellence! Ob makaber oder scheinbar leichthin lustig - die neue Werkausgabe bietet ein grandioses Vergnügen!

    Der Verlag flankiert seine Ausgabe mit den Erinnerungen von Marina Durnowo, Charms zweiter Ehefrau. Sie erzählt lebendig und eindringlich sowohl von den Repressalien der dreißiger Jahre, von der Blockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg, aber auch von der Lebens- und Liebeslust der Petersburger Bohème. Charms war offensichtlich ein rechter Schürzenjäger. Und das Sexuelle spielte in seinem Leben eine große Rolle.

    "Diese ewigen Leidenschaften, Affären, er hatte ja buchstäblich mit jeder Frau, die er kannte, ein Verhältnis. [ ... ] Den einen Tag ging er mit dieser ins Bett, den anderen mit jener... Immer irgendeine Affäre. Oft noch eine zweite, dritte, vierte dazu... Es hörte nie auf!"

    Sogar mit der Schwester seiner Frau hatte er ein Bettverhältnis.

    Frauen haben mich immer interessiert. Immer schon habe ich Frauenbeine aufregend gefunden, besonders ab dem Knie aufwärts. Viele meinen, Frauen seien lasterhafte Wesen. Ich überhaupt nicht! Im Gegenteil, ich meine, sie sind irgendwie sehr angenehm.
    Eine etwas rundliche, appetitliche junge Frau! Was soll daran lasterhaft sein? Überhaupt nichts!


    Von Charms sind einige pornografische Gedichte überliefert. Im letzten, dem vierten Band der Werkausgabe mit biografischen Texten finden sich erstaunliche obszöne Notizen über seine sexuellen Fantasien:

    Ich will, dass die Frauen meinen Schwanz betrachten und ihn toll finden und erregt werden bei seinem Anblick und dass es davon aus ihren Fotzen nur so fließt. und mein Schwanz würde riesig und schön werden. Ich will, dass eine schöne und liebe Frau mir ihre feuchten Geschlechtsorgane darbietet, damit ich sie saugen und lecken kann.

    Notierte Charms im Juli 1933. Er war ein Erotomane, wie er im Buche steht. Das war bislang nicht bekannt. Ebenfalls unbekannt sind eine Werbegedichte, und sogar Propagandagedichte finden sich.

    Wer nach der Lektüre der vier Bände süchtig nach Charms geworden ist, der greife zu Grudrun Lehmanns Biografie "Fallen und Verschwinden Daniil Charms", die den Aktionskünstler auch als Maler ausführlich vorstellt.

    Noch nie gab es hierzulande soviel von und über Daniil Charms als Dichter und Dandy, als Verweigerer und Bohèmien im Reich des Jossif Wissarionowitsch Stalin zu lesen.

    Mit "unsinnigen" Werken, mit "Quatsch" und paradoxen Wendungen hat Charms den Terror seiner Epoche sensibler und tiefer erfühlt als jene, die glaubten, die Realität "realistisch" darzustellen.

    Hier ist ein subversiver Anarchist kennenzulernen - urkomisch, bitterböse und verblüffend aktuell.

    Daniil Charmes:
    Werkausgabe in vier Bänden. Galiani Verlag, Berlin 2010 bis 2011. Herausgegeben von Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg. Aus dem Russischen von Beate Rausch und Alexander Nitzberg. Je 24,95 Euro

    Gudrun Lehmann:
    Fallen und Verschwinden Daniil Charms. Leben und Werk. Wuppertal Arco Verlag 2010. 39,90 Euro

    Marina Durnowo:
    Mein Leben mit Daniil Charms. Aus Gesprächen zusammengestellt von Vladimir Glozer. Galiani Verlag, Berlin 2010. 16,95 Euro