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"Wir leben vom kleinen Fortschritt für die arbeitenden Menschen"

Heute feiert sich der von Mitgliederschwund geplagte Deutsche Gewerkschaftsbund mit einem Festakt zum 60-jährigen Bestehen. Michael Sommer fordert die Politik auf, nicht "kontraproduktiv" über Steuersenkungen zu sprechen - und verlässt sich auf das Ehrenwort der Kanzlerin in Sachen Kündigungsrecht.

05.10.2009
    Michael Sommer: Guten Morgen, Herr Herter!

    Gerwald Herter: Herr Sommer, nicht nur die Vergangenheit spielt bei Jahrestagen eine Rolle, auch die mögliche Zukunft. Wird der Deutsche Gewerkschaftsbund die nächsten 60 Jahre noch überleben?

    Sommer: Ich glaube schon. Möglicherweise werden wir uns in diesen 60 Jahren verändern, wie wir uns auch in den vergangenen 60 Jahren verändert haben, die Gewerkschaftsbewegung insgesamt. Aber solange es Arbeit in Deutschland gibt, wird es auch organisierte Arbeit und damit Gewerkschaften geben, da bin ich mir völlig sicher.

    Herter: Aber quicklebendig ist der DGB mit 60 ja nun nicht mehr. Ihre Mitgliederzahlen gehen zurück. Immer mehr Unternehmen haben keine Betriebsräte. Warum?

    Sommer: Na ja, das ist der eine Teil, der andere Teil ist, Sie können auch sagen: In 60 Jahren hat sich die deutsche Gewerkschaftsbewegung als geachteter Teil dieses Landes konstituiert. Wir sind die Interessenvertretung, die Stimme der Arbeit und werden das auch bleiben. Auf der anderen Seite haben wir Mitgliederprobleme gehabt, ich sage, insbesondere gehabt infolge der Massenarbeitslosigkeit seit Beginn der 80er-Jahre. Das kann niemand verkennen. Durch die Änderung der Wirtschaftsstruktur sind wir in einige Probleme gekommen, ich will die heute in meiner eigenen Ansprache auch ansprechen, nur: Wir stellen uns der Zukunft, wir stellen uns neuen Herausforderungen. Wir ergänzen auch unsere Mittel und Wege. Neben dem Klassischen, was unsere Stärke ausmacht – die Wahrnehmung der Tarifautonomie, also die Tarifverträge, die Mitbestimmung, auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung, über die wir sicherlich noch reden werden –, müssen wir zum Beispiel sehen, dass wir in bestimmten Bereichen, wo es keine vernünftigen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerstrukturen gibt, die Menschen trotzdem schützen

    Herter: Hat der DGB in seiner Geschichte – ohne dass Sie jetzt persönlich verantwortlich sind – diese negative Entwicklung aber nicht beschleunigt? Denken wir mal an den "co op"-Skandal beispielsweise zurück.

    Sommer: Wir hatten insbesondere mit dem Neue-Heimat-Skandal und der Krise der Gemeinwirtschaft und damit eigentlich auch das Ende der Gemeinwirtschaft in den 80er-Jahren eine sehr, sehr schwere Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise, von der ich allerdings sagen würde, dass wir sie überwunden haben, indem wir uns ihr gestellt haben. Wir haben übrigens auch mit unserem Gewerkschaftsvermögen für die Fehler gehaftet und geradegestanden. Das war eine der schwierigsten Zeiten der deutschen Gewerkschaftsgeschichte, die dazugehört, aber von der ich sage, sie beweist zugleich die Stärke, die wir haben, wenn es darum geht, Probleme zu lösen.

    Herter: Ist es Ihnen ganz recht, dass es jetzt eine schwarz-gelbe Koalition geben wird, damit die Konfrontation vielleicht härter wird?

    Sommer: Nein, das ist uns nie recht, weil: Die Gewerkschaften leben weder von der Konfrontation, sondern von der Krise. Wir leben vom kleinen Fortschritt für die arbeitenden Menschen, für die wir da sind, und wir können uns natürlich auch die Arbeitsbedingungen nicht aussuchen. Wir sind parteipolitisch unabhängig und als solche müssen wir dann mit jeder Regierung auch leben, auch mit jedem Wahlergebnis, und wir werden das auch mit dieser Regierung tun. Ich freue mich weder über dieses Wahlergebnis noch ärgere ich mich besonders darüber als Gewerkschaftsvorsitzender, sondern ich sage: Wir werden jetzt mit Schwarz-Gelb sehen müssen, wie wir klarkommen – in Kooperation und, wenn es nottut, auch in Konfrontation.

    Herter: Wäre es nicht besser gewesen, sich doch deutlicher hinter die SPD zu stellen?

    Sommer: Nein, auf gar keinen Fall, und zwar aus mehreren Gründen heraus. Der Wichtigste ist, dass wir seit 60 Jahren sehr bewusst parteipolitisch unabhängig sind und weltanschaulich neutral. Das macht unsere Stärke aus. Wir haben Wähler aller Parteien in unseren Reihen, die wollen bei uns Interessenvertretung und keine politische Ersatzheimat. Zum Zweiten kann man sich nur hinter etwas stellen, hinter dem man auch steht, und das heißt, man muss auch programmatische Übereinstimmungen finden. Wir haben dort, wo wir programmatisch gemeinsame Punkte hatten, die auch benannt – nicht mit Blick auf die SPD, sondern mit Blick auf die Inhalte –, und an anderen Stellen, nehmen wir zum Beispiel die Rente mit 67, haben wir auch das genaue Gegenteil gesagt und das ist auch richtig so.

    Herter: Erwarten Sie, dass es den Arbeitgebern nach diesem Wahlergebnis nun leichter fällt, Kurzarbeiter in die Arbeitslosigkeit zu entlassen?

    Sommer: Es ist eine sehr schwierige Frage, Herr Herter, was ich erwarte, was ich wünsche und was ich hoffe. Wir haben bislang, in den vergangenen Monaten der Krise, einen, wie ich finde, guten Job gemeinsam gemacht, Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften und Betriebsräte. Wir haben gemeinsam dafür gesorgt, weitestgehend die Existenz von Menschen in den Betrieben zu sichern. Dass der eine oder andere Arbeitgeber – aufgrund der ökonomischen Situation, aber auch, weil er jetzt Morgenluft wittert mit der neuen Koalition – möglicherweise seine Haltung ändert, kann ich nicht ausschließen. Ich kann nur appellieren, sowohl an die Bundesregierung als auch die Arbeitgeber, den eingeschlagenen Kurs weiterzuverfolgen, denn er nützt den Menschen in diesem Land und mittel- und langfristig auch der Wirtschaft dieses Landes.

    Herter: Hat Ihnen die Bundeskanzlerin Ihr Wort gegeben – beim Schnitzel mit Pfifferlingen, so wie es im "Spiegel" stand –, kurz vor der Wahl, nichts beim Kündigungsrecht zu ändern?

    Sommer: Ein klares und eindeutiges Ja.

    Herter: Und was passiert, wenn es doch zu Änderungen kommt beim Kündigungsschutz?

    Sommer: Na, ich verlasse mich erst mal darauf, dass das Wort der Bundeskanzlerin gilt und ich verlasse mich auch darauf, dass heute bei unserem Festakt diverse Gäste – übrigens auch der neuen Koalition – da sein werden, Herr Westerwelle, Herr Seehofer, natürlich auch die Opposition, und wir die Gespräche vernünftig führen können und vernünftig führen werden. Ich habe in der vergangenen Woche, wie es auch meine Arbeit ist, natürlich auch mit den neuen Koalitionären gesprochen und ich gehe erst mal davon aus, dass ein gegebenes Wort hält, insbesondere das der deutschen Bundeskanzlerin.

    Herter: Was halten Sie denn von Steuererleichterungen in dieser Situation? Da haben die Koalitionsparteien auch ihr Wort gegeben. Deutschland ist bereits jetzt extrem hoch verschuldet.

    Sommer: Ja. Andererseits können wir uns, gerade in der Krise und angesichts der Herausforderungen dieses Landes, einen armen Staat nicht leisten. Ich halte es für nahezu kontraproduktiv – ich könnte da auch noch stärkere Worte finden–, jetzt über Steuersenkungen zu reden. Was wir brauchen, ist ein handlungsfähiger Staat, übrigens: Ohne den hätten wir auch die Krise, die Finanzkrise und die Bankenkrise überhaupt nicht meistern können, wenn nicht der Staat plötzlich mit 480 Milliarden Euro Garantien und echtem Geld eingestiegen wäre. Von daher ist es widersinnig. Wer jetzt Steuersenkungen verspricht, insbesondere für die Reichen, der will den armen Staat und schadet damit letztendlich allem, was wir brauchen: gut funktionierenden, öffentlichen Dienst, ein vernünftiges Bildungssystem, gute, öffentliche Infrastruktur, übrigens auch eine Bahn, auf die man sich verlassen kann, anders als hier in Berlin mit der S-Bahn, alles das. Wenn man eine andere Politik einleitet, dann kann man möglicherweise den einen oder anderen befriedigen, der sehr auf seinen eigenen Geldbeutel schielt – was ich auch verstehen kann, das tun die Gewerkschaften natürlich auch, wir sind ja auch dafür da, die Einkommenssituation der Menschen zu verbessern –, aber der schadet insgesamt dem Gemeinwesen. Deswegen halten wir es in der jetzigen Situation für falsch. Mittelfristig wird man sicherlich überlegen müssen, ob man Verwerfungen im Einkommenssteuersystem beseitigt.

    Herter: Der Bundesvorsitzende des DGB Michael Sommer im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Herr Sommer, vielen Dank und natürlich herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag des DGB!

    Sommer: Ich bedanke mich, Herr Herter!