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"Wir müssen das Heft des Handelns in der Hand behalten als Parlament"

Wenn nicht einmal die Bundestagsabgeordneten Entscheidungen für die gesamte EU nachvollziehen könnten, dann seien diese auch den Bürgern nicht vermittelbar, meint die Grünenpolitikerin Katrin Göring-Eckardt. Deshalb sei es richtig, dass der Bundestag auf seinem Mitbestimmungsrecht beharrt - auch wenn er im Einzelfall Entscheidungen an das neue Neunergremium abgibt.

Katrin Göring-Eckardt im Gespräch mit Stephan Detjen | 01.01.2012
    Stephan Detjen: Frau Göring-Eckardt, ein schönes Neues Jahr wünsche ich Ihnen zunächst.

    Göring-Eckardt: Ebenfalls. Und den Hörerinnen und Hörern auch natürlich.

    Detjen: Danke. Was wollen Sie als Politikerin 2012 tun, damit es wirklich ein gutes neues Jahr wird?

    Göring-Eckardt: In so einer krisenhaften Zeit ist es ja für die Politik nicht so, dass man sagen kann: Wir haben folgenden Plan für das neue Jahr. Sondern im Grunde ist die Herausforderung, so gut wie möglich die Prozesse jetzt zu begleiten, dafür zu sorgen, dass sie möglichst nachhaltig werden. Wir haben eine ganze Reihe großer Themen. Die Eurofinanz-Wirtschaftskrise wird uns weiterhin beschäftigen, aber natürlich auch die Klimakrise, das Thema Atomausstieg. Und insofern wird es ein wieder sehr herausforderndes Jahr, sicherlich auch sehr anstrengend mit vielen politischen Entscheidungen, die jedenfalls zum Teil noch nicht absehbar sind. Und insofern sicherlich auch ein aufregendes Jahr.

    Detjen: Aufregend war das letzte Jahr ja allemal. Es war geprägt von Ereignissen, Umbrüchen, die jedes für sich an sich epochal waren: Das Seebeben vor Japan mit seinen nuklearen Auswirkungen, die Eurokrise haben Sie erwähnt, der Sturz von Diktaturen und Despotien in der arabischen Welt. Sie haben gesagt "in krisenhaften Zeiten". Man kann das aber von beiden Seiten sehen. War das für Sie - das letzte Jahr - vor allen Dingen ein Jahr von Krisen oder vielleicht auch von Aufbrüchen und Chancen?

    Göring-Eckardt: Das ist ja fast immer so, dass aus einer Krise eine Chance erwachsen kann oder erwächst und dass es dann neue Aufbrüche gibt. Natürlich ist die Atomkatastrophe in Fukushima eine fürchterliche Zäsur, besonders für die Menschen dort, auch der Umgang damit bis heute, dass jetzt amtlich erklärt wird, wir haben jetzt alles im Griff und weiß gleichzeitig, dass die Menschen, die dort in der Umgebung leben, dort weiterhin auf viele Jahrzehnte und Jahrhunderte im Grunde nicht leben können. Das erinnert mich sehr an den Umgang mit den Menschen damals und bis heute in der Region von Tschernobyl. Und gleichzeitig ist damit aber zumindest für uns auch der Atomausstieg besiegelt und wir werden weiter darum kämpfen müssen, dass das nicht nur eine nationale Veranstaltung bleibt. Also insofern natürlich ein Aufbruch. Wer hätte gedacht, dass ein Umweltminister der CDU/CSU einmal sagen würde, die Atomkraft ist eine Energiegewinnung von gestern. Die Umbrüche in der arabischen Welt - als jemand, der aus Ostdeutschland kommt, ist das etwas, wo ich sage, das erfüllt mich mit großer Freude, mit viel Leidenschaft auch für die Menschen, die sich dort gewagt haben, getraut haben, auf die Straße zu gehen. Das ist ja wahrscheinlich noch weit mehr, als das für uns damals in Osteuropa in den unterschiedlichen Ländern gewesen ist. Und gleichzeitig wissen wir aber auch, dass es eben nicht einfach wird. Man kann nicht einen Schalter umlegen und dann hat man plötzlich die Demokratie und das ist alles leicht und einfach. Das bedeutet etwas für die Menschen dort und für diejenigen, die Demokratie aufbauen, aber natürlich auch für uns. Wir können nicht einfach aufhören, uns zu engagieren. Wir können nicht aufhören, partnerschaftlich mit diesen Ländern zu agieren und beim Demokratieaufbau, sofern wir gewollt sind, auch zu unterstützen. Das kann nicht einfach so aus dem Fokus geraten. Und insofern also auch ein Aufbruch, der aber auch Arbeit bedeutet, auch für die internationale Gemeinschaft. Und das dritte, Europa . . .

    Detjen: Wenn ich da noch mal einhaken darf, bei den Entwicklungen in der arabischen Welt, die auch gerade in den letzten Tagen wieder mit Desillusionierungen verbunden sind: Wenn wir nach Ägypten schauen, da hat es Ende der zurückliegenden Woche Razzien in Büros von internationalen Organisationen, auch deutschen, der Konrad-Adenauer-Stiftung gegeben, von amerikanischen Organisationen, die sich darauf vorbereitet haben, die nächste Runde der Parlamentswahlen in Ägypten zu beobachten. Kann man da noch von einer so uneingeschränkt demokratischen Entwicklung überhaupt sprechen?

    Göring-Eckardt: So was hat ja immer Rückschläge auch. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern auch gefährlich, weil man nicht weiß, wie ein Rückschlag endet. Also gibt es noch mal die Kraft, dafür zu sorgen, dass es weiter nach vorne geht und dass demokratische Entwicklung vorangeht, oder endet das Ganze mit einem echten Rückschlag, der über viele Jahre dann wieder zu alten Verhältnissen führt. Ich kann nur hoffen, dass es gelingt, von innen heraus und mit Unterstützung von außen tatsächlich in demokratische Verhältnisse zu führen. Aber das ist nicht ausgemacht, das ist nicht sicher. Das bedeutet tatsächlich viel, viel Arbeit, viel, viel Engagement und auch, dass wir uns nicht zurückziehen. Ich glaube, die Frage, was von außen für eine Aufmerksamkeit auf eine solche Entwicklung gelegt wird, das ist ganz entscheidend. Auch das ist ja eine Erfahrung aus anderen Demokratisierungsprozessen. Sobald die internationale Gemeinschaft oder auch die Nachbarländer nicht mehr danach schauen, die Bewegung aus den Augen verlieren, kann es solche Rückschläge geben.

    Detjen: Der Bundesaußenminister hat nach den Durchsuchungsaktionen der ägyptischen Militärs den ägyptischen Botschafter einbestellt. Welche Reaktionsmöglichkeiten hat deutsche Politik da noch?

    Göring-Eckardt: Ja, das ist zumindest eine sehr deutliche Reaktion zu sagen: Wir nehmen das nicht nur wahr, sondern wir akzeptieren das nicht. Und insofern wird es dabei bleiben müssen, auch die demokratischen Kräfte tatsächlich im Land zu unterstützen. Das ist Kleinarbeit. Da kann man auch nicht mit einer großen Überschrift was Großes erreichen, sondern das ist sozusagen die absolute Mühe der Ebene. Aber bei Demokratisierungsprozessen wird man es tun müssen.

    Detjen: Sie sind Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und pflegen damit auch die Beziehungen des Bundestages zu anderen demokratischen Parlamenten. Welche Voraussetzungen müssen denn erfüllt sein, damit das jetzt zu wählende Parlament in Ägypten für Sie ein adäquater, demokratischer Ansprechpartner ist?

    Göring-Eckardt: Zunächst mal muss es demokratische Wahlen geben. Diese Wahlen müssen offen und frei sein, ganz klar und selbstverständlich. Und gleichzeitig haben wir als Parlament immer gesagt, es gibt natürlich Übergänge, wo wir nicht sagen, wir pflegen keine Beziehungen zu einem anderen Parlament und tun das übrigens auch in großer Intensität gerade auch mit Verwaltungsmitarbeitern, gerade mit jüngeren, wo es Austausche gibt. Und was die arabischen Länder angeht, so haben wir während des Arabischen Frühlings sehr schnell beschlossen, dass wir unsere wichtigen Texte, also die Verfassungstexte und andere wichtige Gesetzestexte in die arabische Sprachen übersetzen, einfach weil wir gesagt haben, wenn man sich Demokratie anschauen will, dann soll man nicht auf englische Übersetzungen angewiesen sein, sondern auch von uns aus deutlich gemacht, wir wollen gerne unterstützen, was wir können, aber natürlich nicht von außen und paternalistisch, sondern so, dass man fragen kann, dass man einen Austausch haben kann, aber eben auch einen realen Austausch.

    Detjen: Frau Göring-Eckardt, wir haben über die großen Entwicklungen des vergangenen Jahres jetzt gesprochen. Sie wollten gerade eben die europäische Schuldenkrise ansprechen. Das ist ja eine Entwicklung, die eigentlich die Handlungsfähigkeit, die Reaktionsfähigkeit von Politik ganz generell infrage stellt. Kann Politik überhaupt noch und wie kann demokratisch verfasste Politik auf solche globalen wirtschaftlichen, finanzwirtschaftlichen Entwicklungen reagieren? Kann sie das noch adäquat oder haben wir da im letzten Jahr auch die Grenzen von politischer Handlungsfähigkeit erlebt?

    Göring-Eckardt: Wir haben zumindest erlebt, dass wir nicht immer gleich konsequent gehandelt haben. Und die Grenzen von politischer Handlungsfähigkeit setzen wir ja zunächst mal selbst auch mit den Strukturen, die wir haben. Die Frage ist ja im Moment, brauchen wir jetzt mehr oder brauchen wir weniger Europa. Und es gibt einige, die sagen, wir brauchen weniger Europa. Es gibt einige, die sagen, wir brauchen weniger Europa. Es gibt sogar einige, die sagen, wir brauchen keinen Euro mehr und damit können wir als Nationalstaat gut überleben, weil es uns ganz gut geht. Ich halte das für nicht besonders zielführend, schon allein deswegen, weil wir eine Exportnation sind und das auf uns zurückschlagen würde. Aber die Frage ist ja, ob wir aus dieser Krise, die wir sozusagen nur versucht haben, Stück für Stück zu bewältigen, wo klar war, ganz wesentlich geht es um Einsparungen in den unterschiedlichen Ländern, aber wo erst mal keine wirklichen Perspektiven eröffnet worden sind. Was heißt also mehr Europa? Ich bin überzeugt, dass wir mehr Europa brauchen, gerade was das Thema Finanzpolitik, was das Thema Steuerpolitik, was das Thema Bankenaufsicht angeht. Nur dann werden wir auch gemeinsam handlungsfähig sein.

    Detjen: Was heißt das konkret? Denn in Deutschland sind ja auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes einer weiteren Integration Grenzen gesetzt. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Lissabon-Urteil gesagt: Eigentlich ist das Ende der Integration erreicht. Brauchen wir am Ende in diesem jetzt beginnenden Jahr eine neue Verfassungsdebatte in Deutschland?

    Göring-Eckardt: Was wir auf jeden Fall brauchen, ist eine Union, die sich um soziale und ökologische Standards kümmert, auch ökonomische natürlich. Und wen wir eine Sozialunion wollen, dann bedeutet das, dass wir bei den Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechten weiterkommen in Europa mit einer Vereinheitlichung und auch so vielleicht einfache Sachen wie eine gemeinsame Initiative gegen Jugendarbeitslosigkeit - aus deutscher Sicht im Moment nicht ein sehr großes Problem, aber wenn wir uns das in Europa insgesamt anschauen, dann wird die Frage von Jugendarbeitslosigkeit, von Integration von jungen Menschen ganz entscheidend sein, übrigens nicht nur aus sozialen Gesichtspunkten, sondern auch, wenn es um wirtschaftliche Erfolgsaussichten geht.

    Detjen: Eine in diesem Sinne erweiterte Europäische Verfassung würde aber doch wahrscheinlich eine Spaltung der Europäischen Union, so wie sie jetzt ist, bedeuten. Zumindest England würde das nicht mitmachen. England hat ja schon die ersten Schritte jetzt in einen ferneren Bereich der EU unternommen.

    Göring-Eckardt: Das ist wahr und die Frage steht natürlich, ob wir sagen, wir müssen alle mitnehmen und bleiben deswegen bei dem allerkleinsten gemeinsamen Nenner, oder ob wir sagen müssen, vielleicht müssen eben einige Länder tatsächlich voran gehen und mit anderen Standards auch zeigen, dass das erfolgreich ist. Also, ich glaube, das was England gemacht hat, hat ja nicht dazu geführt, dass man sagen kann, das hat national zu großen Erfolgen geführt oder auch nur zu großer Zustimmung. Und diese Erfahrung ist vielleicht gar nicht so unwichtig gewesen für das, was in Europa demnächst weiter geschieht. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass wir anfangen müssen und dass wir nicht mehr Europa behandeln können wie eine Verwaltungsunion, die uns eigentlich nichts angeht. Deswegen sind wir, glaube ich, auch gerufen. Auch das wird eine Herausforderung für die Politik sein, aber auch für Nichtregierungsorganisationen, für viele andere deutlich zu machen, das Europa wird nur funktionieren, wenn wir da auch mit Leidenschaft rangehen und wenn wir uns als Europäer verstehen bis hin zur europäischen Außenpolitik.

    Detjen: Welche Rolle können nationale Parlamente und das Europäische Parlament in einem künftigen demokratisch verfassten Europa noch spielen? Im letzten Jahr gab es ja immer wieder den Eindruck, dass parlamentarische Mitspracheverfahren eigentlich eher eine Bremse in der notwendigen Dynamik sind. Auch der Bundestag hat diese Erfahrung ja machen müssen.

    Göring-Eckardt: Der Bundestag hat die Erfahrung gemacht, dass ihm zunächst vorgehalten worden ist, dass es eher eine Bremse ist und dass sich dann aber herausgestellt hat, dass natürlich vernünftige Beratungen auch absolut sinnvoll sind für den Prozess, also nicht nur dafür, die Entscheidungen nachzuvollziehen, gegebenenfalls auch verändern zu können - das schwingt ja da immer mit -, sondern es geht auch um Kommunikation. Also, wenn nicht mal die Parlamentarier des Deutschen Bundestages nachvollziehen können, was beschlossen worden ist, dann wird man es nicht erklären können. Dann wird man Sie als Journalistinnen und Journalisten bitten können, doch hoffentlich genau zu berichten, was da beschlossen worden ist. Aber wenn es die Parlamentarier nicht können, wenn die nicht erklären können, wenn die nicht diskutieren können, es kritisieren, es verteidigen können, dann haben wir auch keinen öffentlichen demokratischen Prozess.

    Detjen: Was heißt das für ein Parlament, wenn die stellvertretende Präsidentin des Parlaments eingesteht, viele Parlamentarier können eigentlich gar nicht mehr nachvollziehen, was sie da entscheiden müssen. Der Bundestag hat jetzt konkret reagiert und hat ein Gesetz verabschiedet, in dem er die Entscheidungsbefugnisse über riesige Haushaltsbelastungen an ein Minigremium von neun Abgeordneten delegiert hat. Das hat das Bundesverfassungsgericht dann erst mal wieder kassiert. Also, das ist noch offen, ob das überhaupt ein gangbarer Weg ist.

    Göring-Eckardt: Na eher anders herum, sondern der Bundestag hat ja zunächst einmal gesagt, wir wollen ordentliche und geordnete Beratungen haben und wir wollen bestimmte Entscheidungen, die schnell getroffen werden müssen, auf ein Gremium, das wir selbst bestimmen, übertragen können. Das ist der Punkt. Zunächst mal haben wir gesagt: Stopp, auf die Bremse, wir müssen die Entscheidung nachvollziehen können. Und ich sage auch, die allermeisten Abgeordneten können das auch, sicherlich nicht in jedem Detail, aber darum geht es auch nicht. Das können wir bei anderen Gesetzesvorhaben auch nicht in jedem Detail, weil es dafür auch Fachpolitiker gibt. Aber wichtig und entscheidend ist, dass wir immer im Einzelfall sagen können: Moment, diesen Punkt entscheidet das Parlament insgesamt, andere Punkte kann dieses sogenannt Neunergremium entscheiden, aber wir müssen das Heft des Handelns in der Hand behalten als Parlament und nicht abgeben an irgendjemanden, nicht abgeben an Verwaltungs- an Regierungshandeln, auch nicht an ein Gremium, das keine Rechenschaft schuldig wäre. Das genau ist es nämlich nicht.

    Detjen: Werden dennoch am Ende des Prozesses, der weitgehend von der Regierung, von der Exekutive gesteuert worden ist, die Parlamente die Verlierer der Entwicklung einer weiteren europäischen Integration sein?

    Göring-Eckardt: Ich glaube, das würde eine große Ungleichzeitigkeit bedeuten und das würde auch bedeuten, dass es zu riesigen Konflikten kommt. Die Parlamente müssen beteiligt werden auch deswegen, weil die Bürgerinnen und Bürger sich nicht gefallen lassen werden, dass komplett über ihre Köpfe hinweg die Regierungen, Verwaltungen Dinge entscheiden, die von so großer Relevanz sind. Und dafür ist die echte Beteiligung der Parlamente, auch des Europäischen Parlaments übrigens, also die Frage, entscheidet die Europäische Kommission mit dem Europäischen Parlament oder haben wir Entscheidungen, die tatsächlich nur zwischen den Regierungen ausgehandelt werden, wird dafür ganz entscheidend sein. Natürlich sagen die Bürgerinnen und Bürger, in einer großen Krisensituation kann man einmal oder auch zweimal so handeln, wie in der Vergangenheit gehandelt worden ist. Aber für die realen Prozesse, die vor uns stehen, brauchen wir eine echte Beteiligung, auch so, dass man als Wählerinnen und Wähler sagen kann, das, was ihr da entschieden habt, gefällt uns nicht und wir wählen nächstes Mal jemand anderes. Das gehört ja zur Demokratie dazu.

    Detjen: Das Interview der Woche, am ersten Tag des neuen Jahres mit der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, mit Katrin Göring-Eckardt von Bündnis 90/Die Grünen. Frau Göring-Eckardt, wenn wir über die europäische Schuldenkrise sprechen, geht es für viele Menschen beim Ausblick auf das nächste Jahr zunächst einmal um die Frage, ob das Geld seinen Wert behält, ob Ersparnisse schrumpfen, ob man den Lebensstandard halten kann, den man gewohnt ist und den man erhalten möchte.

    Göring-Eckardt: Eine Frage, die viele umtreibt und uns in der Politik natürlich auch. Und niemand wird sagen können, da können Sie ganz sicher sein, da passiert überhaupt nichts, und es wäre aber auch verfehlt zu sagen, da ist jetzt ganz große Krise angesagt. Sondern ich glaube, die Frage was Lebensstandard und Lebensstil angeht ist etwas, was uns ja insgesamt beschäftigt und was sind die Dinge eigentlich wert, das wird uns auch im nächsten Jahr noch weiter befassen.

    Detjen: Was macht den Reichtum unserer Gesellschaft aus?

    Göring-Eckardt: Ich würde sagen, für uns zunächst mal geht es um andere Werte als die Frage, wie viel ist nun das Grundstück wert, auf dem das Eigenheim steht. Und zwar immer mehr geht es um andere Werte, auch weil wir in einer Gesellschaft leben, wo Arm und Reich weiter auseinander geht, wo wir quasi in unterschiedlichen Welten nebeneinander her leben. Deswegen würde ich sagen, was macht den Wert einer Gesellschaft aus? Zunächst einmal Solidarität und natürlich auch Vertrauen. Und da haben wir in der Tat einiges vor uns, was die nächsten Monate und Jahre angeht. Aber auch der Lebensstil selbst. Wir leben in einer Rohstoffknappheit, in Klimakrise, wir stoßen so viel Co2 aus wie nie zuvor. Das ist nicht nur eine nationale, das ist eine globale Frage. Und schon allein deswegen werden wir unsere Art zu leben umstellen müssen.

    Detjen: Was heißt das? Wie können wir das bemessen? Es gibt ja Versuche, es gibt eine Enquetekommission im Deutschen Bundestag, die versucht, Indikatoren für den Wohlstand, für das Wohlbefinden einer Gesellschaft zu finden, die nicht allein ökonomisch bestimmt sind, die sich nicht allein an wirtschaftlichen Kennzahlen bemessen. Was kann man damit erreichen?

    Göring-Eckardt: Wahrscheinlich würde das auch niemand für sein privates Leben sagen, dass er sein Glück, seinen Wohlstand alleine daran bemisst, wie viel auf dem Konto ist oder wie viel da jeden Monat rein kommt. Und insofern ist es gut, das auch für eine Gesellschaft zu versuchen zu beschreiben. Und das macht die Enquetekommission, die sagt, es gibt mehr Indikatoren. Also die Frage, wie ist es mit der Lebenserwartung, wie ist es mit Solidarität und Zusammenhalt, wie ist es mit Umweltverträglichkeit, wie ist die Situation zwischen den Generationen, was bedeutet uns Wachstum eigentlich und von welchem Wachstum reden wir tatsächlich? All das gehört heute zusammen. Ich will es vielleicht an einem Beispiel machen: Es gibt den Earth-Overshoot-Day, das ist der Tag im Jahr, an dem wir so viel verbraucht haben an Rohstoffen wie wieder nachwachsen kann. Der war im Jahr 2011, im letzten Jahr also, der 23. September weltweit, da haben wir alles verbraucht gehabt. Für Deutschland war der Tag der 15. Mai und für die Vereinigten Staaten war es schon ein Tag im April. Und daran kann man sehen, wie unterschiedlich auch der Umgang mit Ressourcen ist und wie stark wir auf Kosten anderer leben. Das wird auf Dauer nicht gehen und die Frage ist jetzt, gestalten wir das selbst und überlegen wir, was uns unser Lebensstil wirklich wert ist oder was daran wir tatsächlich behalten wollen und worauf wir ganz gut verzichten können, ohne eine andere Lebensqualität im Sinne von 'weniger' zu haben. Oder machen wir so weiter und werden damit große Konflikte heraufbeschwören, die wir dann überhaupt nicht mehr steuern können. Damit muss man ja rechnen.

    Detjen: Wo sinkendes Wachstum zu Verzicht zwingt, wirkt sich das für die meisten Menschen ja doch sehr praktisch in ihrem alltäglichen Leben aus. Das heißt, man kann die Schulden für das Haus nicht mehr bezahlen, man kann den Klavierunterricht für die Kinder nicht mehr bezahlen oder die Gebühren für Schulen oder Kindergärten, soweit sie anfallen.

    Göring-Eckardt: Genau das ist die Frage. Und da ist für meine Begriffe die entscheidende Frage an die Solidargemeinschaft, was ist das, was vorgeht. Und ich würde sagen, da, wo es um öffentliche Güter geht, das geht zunächst einmal vor. Dass die einen den Musikunterricht sowieso schon nicht bezahlen können, weil sie überhaupt keine Mittel dafür zur Verfügung haben, heißt ja für die öffentliche Hand, das ist etwas, das müssen wir zur Verfügung stellen, weil es nicht darum gehen kann, wie viel Geld die Eltern zufällig verdienen, sondern weil es darum gehen muss, welches Talent wer hat oder was einem Kind tatsächlich gut tut. Und ob es da um Musikunterricht geht oder um das Theater oder was auch immer, da geht es um öffentliche Güter. Und ich glaube tatsächlich, dass wir eine reale Grundausstattung mit diesen Zugängen schaffen müssen, die nicht für alle gleich sein kann - das ist ganz klar, weil die Voraussetzungen unterschiedlich sind -, aber die zumindest gleiche Zugänge eröffnen kann, soweit wir das organisieren können in einer Gesellschaft. Also sprich, wenn die Lehrerin sagt, das ist ein wirklich sehr talentiertes Kind an dieser oder jener Stelle, dann muss es auch möglich sein, dass dieses Talent gefördert wird. Und da mehr öffentliches Geld hinein zu tun ist, glaube ich, ein entscheidender Punkt.

    Detjen: Frau Göring-Eckardt, dieses Interview der Woche im Deutschlandfunk am 1. Januar 2012 findet an einem Tag statt, der für unseren Sender, für den Deutschlandfunk, auch ein besonderer Tag ist. Es ist ein Jubiläum. Heute vor 50 Jahren nahm der Deutschlandfunk seinen Sendebetrieb auf, damals noch als ein Sender für beide Teile Deutschlands, für das geteilte Deutschland. Sie sind in der DDR aufgewachsen, einige Jahre jünger als der Deutschlandfunk. Trotzdem gehörten Sie zu der Zielgruppe derer, die damals dieses Programm gemacht haben. Haben Sie in Ihrer Jugend, in den 70er-, 80er-Jahren Deutschlandfunk gehört? Hat der ein Rolle gespielt in Ihrem Leben?

    Göring-Eckardt: Ja, das war schon ein bisschen das Tor zur Welt, das kann man schon sagen. Man konnte ja im Deutschlandfunk auch noch anders als im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, was in meiner Heimat jedenfalls auch zu empfangen war, viel an Hintergrundinformationen bekommen. Und für mich ganz persönlich, ich bin ja später zu Bündnis 90/Die Grünen gekommen, war die Entwicklung in den 80er-Jahren über den Deutschlandfunk wahrgenommen ganz besonders spannend. Ich konnte politische Prozesse nachvollziehen. Es war auch so ein bisschen ein Lernort für jemanden, der eben nicht in einer Demokratie aufwächst, um sich klar darüber zu werden, wie funktioniert das eigentlich, welche Aufbrüche gibt es, welche Rückschläge gibt es. Und das habe ich schon mit großer Spannung immer wieder nachvollzogen. Zugleich hieß das natürlich immer auch, dieses Wissen konnte man nicht anwenden, jedenfalls nicht in der Schule und nicht in der Öffentlichkeit. Und dieses geteilte Sein war schon schlimm genug. Mich hat das auch so ein bisschen dann in die kirchliche Oppositionsbewegung geführt, wo diese freien Diskussionen dann unter dem Schutz der Kirche möglich waren. Aber Deutschlandfunk war schon etwas für uns sehr Besonderes. Wenn es keine Meinungsfreiheit gibt, wenn man bestimmte Bücher nicht bekommen kann, bestimmte Zeitschriften nicht lesen kann etcetera, dann hat das schon für uns eine wichtige Rolle gespielt.

    Detjen: Sie sind dann als aktive Politikerin in den 90er-Jahren noch mal ganz anders mit uns, mit dem Deutschlandfunk, als regelmäßige Interviewgeberin, als Gesprächspartnerin in Sendungen wie dieser, in Diskussionen konfrontiert worden, auch mit natürlich allen anderen Medien. Wie nehmen Sie Medien heute in der Demokratie wahr? Medien stehen ja auch immer wieder in der Kritik als diejenigen, die Debatten beschleunigen, verflachen. Was macht für Sie guten politischen Journalismus aus?

    Göring-Eckardt: Einerseits das Erklären wirklich komplizierter werdender Prozesse. Das gehört dazu. Und ich weiß, wovon ich spreche, wenn ich sage, das ist eine große Herausforderung. Denn gerade, wenn politische Entscheidungen sehr schnell getroffen werden, gerade wie im letzten Jahr sehr viel auf einmal passiert, dann ist es natürlich auch für Journalistinnen und Journalisten nicht einfach, es immer weiter nachzuvollziehen. Und das andere ist, ich finde, wir kommen auch nicht aus ohne Meinung. Wir können zwar über das Internet, über die neuen Medien an immer mehr Informationen herankommen, aber die Bewertung der Informationen von kundigen Menschen gehört eben auch dazu. Und deswegen bin ich froh, dass es Zeitungen, dass es Medien gibt, dass es Radios gibt, die sich auch nach wie vor trauen, Meinungen zu veröffentlichen, und vielleicht sogar zwei unterschiedliche mit einem Pro und einem Kontra und zu sagen, wir machen uns damit auch angreifbar, wir sind nicht nur einfach Nachrichtenweitergeber, sondern wir bewerten sie auch, weil ich davon überzeugt bin, dass Demokratie und demokratischer Streit auch nur durch Meinungsmache und Angreifbarmachen funktionieren kann.

    Detjen: Das werden wir auch im Deutschlandfunk weiter betreiben. Frau Göring-Eckardt, vielen Dank für dieses Gespräch am ersten Tag des neuen Jahres, dem 50. Geburtstag des Deutschlandfunks. Danke.

    Göring-Eckardt: Ich danke Ihnen herzlich.