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"Wir müssen den Euro stabilisieren"

Die EU sei auf dem Weg zu einer Transferunion, "obwohl der Unionsvertrag diesen Weg nicht vorgibt", meint der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof und warnt gleichzeitig vor einer europäischen Finanz- und Wirtschaftsregierung.

Paul Kirchhof im Gespräch mit Jürgen Liminski | 08.12.2010
    Jürgen Liminski: "Europa brennt!", so überschreibt der Spiegel diese Woche seine Titelgeschichte, und jüngst hatte die Wirtschaftswoche auf ihrer ersten Seite eine Totenanzeige auf den Euro präsentiert, auch in den Wirtschaftsredaktionen der großen Tageszeitungen wächst spürbar die Skepsis über die Gemeinschaftswährung. Aber gibt es überhaupt eine Alternative? Für die Politik ist offenbar keine zu sehen. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ist sogar bereit, über eine weitgehende Europäisierung der nationalen Finanzpolitik innerhalb der Eurozone zu verhandeln und das Budgetrecht des Deutschen Bundestags an die EU abzutreten. Sind wir über die Währungsunion auf dem Weg in den europäischen Bundesstaat? Gibt es eine Alternative zu den Schulden? Zu diesen und anderen Fragen begrüße ich Professor Paul Kirchhof, den früheren Bundesverfassungsrichter und heutigen Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht der Universität Heidelberg. Guten Morgen, Herr Kirchhof.

    Paul Kirchhof: Schönen guten Morgen.

    Liminski: Herr Kirchhof, Irland, demnächst vielleicht Portugal oder Spanien oder sogar Italien, es sind nicht wenige, die Zuflucht suchen unter dem europäischen Rettungsschirm, und es sind nicht wenige, die für Euro-Bonds plädieren. Sind wir noch auf dem Weg zur Transferunion, oder schon mitten drin?

    Kirchhof: Wir sind im Moment auf dem Weg zur Transferunion, obwohl der Unionsvertrag diesen Weg nicht vorgibt. Wir müssen uns bewusst machen, dass jeder Transfer, also das heißt, jede Absicherung von finanzwirtschaftlicher Leichtfertigkeit durch andere Staaten, ermutigt, in dieser Leichtfertigkeit fortzufahren. Wir müssen den Euro stabilisieren, indem alle Mitgliedsstaaten, die den Euro tragen, 16 Staaten der Europäischen Union, in einer Haushaltsdisziplin das Fundament schaffen, dass dieses eine harte Währung bleibt.

    Liminski: Sehen Sie denn noch eine Alternative zum Euro?

    Kirchhof: Ich meine, wir haben diesen Weg zum Euro beschritten und wir sind jetzt zum Erfolg verdammt. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Währung, die sich ja in ihren ersten Jahren sehr gut bewährt hat, die Stabilität und Weltbedeutung behält, die sie bisher hat.

    Liminski: Sind dann die Schulden auch alternativlos?

    Kirchhof: Die Schulden sind keineswegs alternativlos, sondern die überhöhte Staatsverschuldung ist der Kern des Übels. Das Unionsrecht sagt, dass die Staaten sich nicht höher neu verschulden dürfen als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts und als 60 Prozent der Gesamtschulden. Diesen rechtsverbindlichen Maßstab haben alle Länder außer Luxemburg verletzt. Das heißt, die Länder leben in der Illegalität, sie haben das verbindliche Recht, das den Schwächsten, die nächste Generation, unsere Kinder vor zu hohen Rückzahlungs- und Zinszahlungspflichten schützt, nicht beachtet, und das ist der Kern des Übels. Wenn wir uns mal einen Moment vorstellen, wir hätten diese europaverbindlichen Normen beachtet - wir hätten fast keine Finanzkrise. Also man muss in dieser Situation schon darüber nachdenken, dass der Schutz des Rechts in seiner Verbindlichkeit ein Schutz gegen Fehlentwicklungen und insbesondere gegen ökonomische Torheit ist.

    Liminski: Wenn es nun keine Alternative zum Euro beziehungsweise zum Schuldenabbau, wenn ich Sie recht verstehe, gibt, dann lautet die Frage, die sich der Politik ja auch immer deutlicher stellt, doch so: Muss dieser Weg zur Transferunion nicht zwangsläufig auch zu einer Steuerunion führen?

    Kirchhof: Also zunächst einmal meine ich, wir müssen den Weg zur Transferunion sofort verlangsamen und sehr bald stoppen, sonst wird das ganze System, das Faszinosum Europäische Union gefährdet. Was nun die Vereinheitlichung der Steuern angeht, da müssen wir sehen: Wir haben diesen Weg ja für die Umsatzsteuer, die Mehrwertsteuer längst beschritten. Da haben wir in der Systemrichtlinie ein einheitliches europäisches Steuerrecht, was die Struktur der Steuer angeht, nicht die Steuersätze. Aber das Umsatzsteuerrecht ist europäisiert, das ist auch folgerichtig im Sinne der Europäischen Union, die ja die Grenzen für das Wirtschaften, für Kapital, Personen, Arbeitnehmer, vor allem für Waren, eingeebnet hat, und dann braucht sie auch für den grenzüberschreitenden Warenverkehr einheitliche Steuern. Ganz anders bei den direkten Steuern, bei der Einkommenssteuer, bei der Körperschaftssteuer. Das ist Sache der Mitgliedsstaaten und soll auch Sache der Mitgliedsstaaten bleiben, weil wir hier doch in den verschiedenen Staaten eine sehr unterschiedliche Steuerkultur haben.

    Liminski: Aber eine gemeinsame Währung kann auf Dauer nur stabil und gerecht sein, wenn die Wirtschaftssysteme der einzelnen Länder weitgehend einander angeglichen sind. Das ist nicht der Fall, der Süden Europas hat, wie Sie ja auch sagen, eine andere Steuerkultur als der Norden und vor allem auch als Mitteleuropa. Brauchen wir eine europäische Finanz- und Wirtschaftsregierung, die diese Harmonisierung oder auch Differenzierung bewerkstelligt?

    Kirchhof: Ich sage ein ganz deutliches Nein, weil wir ja gerade gegenwärtig in der Krise des Finanzmarktes und in den sogenannten Rettungsschirmen erleben, dass die politischen Akteure unbedingt das, was sie tun, vor ihrem Wähler verantworten müssen, und diese demokratische Verantwortlichkeit gegenüber dem Wähler, der etwa einen schuldenfinanzierten Rettungsschirm später einmal bezahlen muss, gelingt nur in den Staaten. Dort haben wir die echte Demokratie, das Staatsvolk wählt das Parlament, das Parlament die Regierung. Da haben wir diese Verantwortungsstrukturen unmittelbar sichtbar. Je mehr wir Zwischenebenen wie etwa eine Wirtschaftsregierung Europas einschieben würden, wäre diese unmittelbare parlamentarische und damit demokratische Verantwortlichkeit geschwächt, und das wäre im Grunde eine Verletzung, oder zumindest eine Gefährdung des Demokratieprinzips.

    Liminski: Das Bundesverfassungsgericht, das ja diese Prinzipien sozusagen für uns mindestens wahrt, hat in seinem Lissabon-Urteil die Rechte des Bundestages gestärkt. Ich darf den entscheidenden Satz einmal einspielen:

    O-Ton Andreas Voßkuhle: Das Grundgesetz sagt Ja zum Lissabon-Vertrag, verlangt aber auf nationaler Ebene eine Stärkung der parlamentarischen Integrationsverantwortung.

    Liminski: Das war Ihr Kollege oder jedenfalls Ihr früherer Kollege Voßkuhle. Wenn nun, Herr Kirchhof, der Bundesfinanzminister in einem Interview andeutet, Haushaltsrechte an die EU abzugeben, kann oder muss das Bundesverfassungsgericht dann diesen Weg in den Bundesstaat nicht stoppen?

    Kirchhof: Zunächst einmal ist die Aussage des Bundesverfassungsgerichts absolut richtig. Das Grundgesetz will, dass Deutschland an der Europäischen Union mitwirkt. Das Grundgesetz ist fasziniert von dieser Idee des stetigen Friedens, der wirtschaftlichen Offenheit, des Austausches und der Begegnung der Menschen in Europa, und wir erleben ja die Vorzüge dieses Rechtsprinzips. Das steht völlig außer Zweifel. Aber weil etwa die Gesetze in der Europäischen Union im Wesentlichen vom Rat beschlossen werden, also von einem Gremium, in dem die Regierungen der Länder sitzen – das Europäische Parlament hat nur mitentscheidende Funktion, kann aber aus sich heraus kein Gesetz hervorbringen -, bedarf es einer Stärkung dieser elementaren Demokratie durch eine Stärkung der Rechte des Bundestages auch für die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Regierung in der Europäischen Union. Wenn jetzt das Haushaltsrecht, eine der Domänen des Parlaments, einer der Gründe, weswegen Demokratie in Deutschland erkämpft worden ist – es sollen die Steuerzahler selbst, repräsentiert durch ihre Abgeordneten, über Art und Höhe der Besteuerung entscheiden und damit über Art und Höhe der Ausgaben selbstverständlich und der Verschuldung -, wenn hier Rechte nach Europa weggegeben würden, wäre das demokratische Prinzip verletzt. Das müsste erst mal eine Vertragsänderung sein, da müssen alle Mitgliedsstaaten zustimmen, also bei uns in Deutschland der Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit, da wird man diese Dinge sehr kritisch würdigen, ob das wirklich der richtige Weg ist. Aber darüber hinaus wäre dann möglicherweise das Bundesverfassungsgericht anzurufen, um die Frage zu prüfen, ob hier nicht letztlich zu viel Demokratie in der Substanz an Europa verloren geht.

    Liminski: Die Alternative zu Rettungsschirmen, Euro-Bonds und anderen Umverteilungsmethoden wäre das Sparen, also die Schulden abbauen, wie Sie eingangs schon gesagt haben. Das ist politisch schwierig. Wäre eine kontrollierte Inflation nicht einfacher oder realistischer?

    Kirchhof: Eine Inflation ist immer deswegen höchst bedenklich, weil sie den Geldeigentümer trifft. Sie mindert den Wert des Geldes, während derjenige, der etwa ein Grundstück hat, Industriebeteiligungen hat, davon weniger betroffen ist. Inflation ist immer eine Finanzbereinigung zulasten einer Gruppe derer, die im Geld sparen. Deswegen schafft er Ungleichheiten, deswegen schafft er, wenn es eine sehr intensive Inflation ist, soziale Unruhen. Nein, der Weg ist, wie Sie andeuten, eine sparsame Haushaltswirtschaft. Wir müssen die Staatsaufgaben überprüfen, alle. Wir müssen den Bürger der Erwartung entwöhnen, er könnte alle seine Finanzprobleme durch Griff in die Staatskasse lösen. Wir haben gegenwärtig die Entwicklung, dass die Menschen hoffen, vom Staat Geld zu bekommen. Sie verdichten diese Hoffnung zu einem Rechtsanspruch. Sie setzen diesen Rechtsanspruch notfalls mithilfe der Gerichte durch. Gleichzeitig flüstern ihnen die Parteien und Verbände ein, es könnte mehr sein, der Anspruch könnte höher sein. Dann haben die Bürger ihr Geld vom Staat bekommen und sind trotzdem unzufrieden, weil es ja mehr sein könnte. Dieses System entsolidarisiert, dieses System nimmt dem Staatsvolk die gemeinsame Mitte des Staatsverständnisses als eines schlanken Staates, der vor allem Recht gibt, also dem Bürger im Gesetz seine Rechte gibt, aber weniger Geld gibt. Wir müssen diesen aufgeblähten Staat, diese Bereitschaft, über unsere Verhältnisse zu leben, zulasten unserer Kinder, stoppen und nicht Rettungsschirme aufbauen, die dieses zu viel, dieses Übermaß, dieses Leben über die gegenwärtig möglichen Verhältnisse fördern und weiter voranschreiten lassen.

    Liminski: Der Euro, seine Zukunft und Alternativen. Das war hier im Deutschlandfunk Professor Paul Kirchhof, früher Bundesverfassungsrichter und heute Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht der Universität Heidelberg. Besten Dank für das Gespräch, Herr Kirchhof.

    Kirchhof: Bitte schön.