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"Wir müssen die Neuwahlen nicht fürchten"

Bündnis 90/Die Grünen wollen sich nach Aussagen ihrer Fraktionsvorsitzenden Krista Sager bei der Vertrauensfrage erst festlegen, wenn Bundeskanzler Gerhard Schröder alle Informationen zum Prozedere auf den Tisch gelegt hat. Sager plädierte dafür, Schröder das Vertrauen auszusprechen, da die Bilanz der letzten sieben Jahre aus Sicht der Grünen positiv ausfalle.

28.06.2005
    Meurer: Der Countdown läuft. Am kommenden Freitag um 10 Uhr morgens wird Bundeskanzler Gerhard Schröder im Bundestag die Vertrauensfrage stellen. Anschließend stimmen die Abgeordneten dann namentlich darüber ab. Morgen will der Bundeskanzler zunächst seinen Ministern das Prozedere erläutern. Noch offen ist, wie genau sich die Grünen verhalten werden. Am Telefon begrüße ich Krista Sager, die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Frau Sager, sie persönlich wollen, wenn ich das richtig lese, für den Kanzler stimmen und ihm das Vertrauen aussprechen. Warum?

    Sager: Also wir Grünen sind ja in einer Situation, dass einerseits klar ist, dass wir diese Idee, jetzt in Neuwahlen zu gehen, nicht für eine besonders gute Idee gehalten haben, andrerseits aber die Neuwahlen auch nicht fürchten und glauben, dass wir ganz gute Chancen haben, da auch mit einem guten Ergebnis rauszukommen. Ob die SPD sich wieder davon erholt, muss man sehen. Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch so, dass wir inzwischen in einer Situation sind, dass es eigentlich zu Neuwahlen gar keine Alternative gibt und das auch den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger entspricht. Wir müssen jetzt versuchen, in dieser Woche einen Weg zu finden, der diesem Gesamtkomplex Rechnung trägt, und wir werden da sicher auch schauen, was vom Bundeskanzler im Kabinett vorgetragen wird, was am Donnerstag im Koalitionsausschuss vorgetragen wird und uns dann am Freitag früh um 9 Uhr noch mal treffen nach der Fraktionssitzung heute. Heute haben wir eine erste Beratung der Lage. Wir werden sicher auch über unser Verhalten als Fraktion reden. Da wird es möglicherweise auch unterschiedliche Meinungen geben. Dann werden wir am Freitag früh noch mal zusammenkommen.

    Meurer: Steht Ihre Entscheidung denn jetzt fest, so wie ich sie eingangs zitiert habe?

    Sager: Also das ist keine endgültige Festlegung, sondern das ist im Grunde eine Aussage gewesen auf Basis der zur Verfügung stehenden Informationen. Wir werden aber sicher die Gesamtlage auch noch bewerten müssen, weil wir ja einen Weg finden müssen, wo wir einerseits überlegen müssen, wo stehen wir als Grüne in Bezug auf das Thema Vertrauensfrage, und auf der anderen Seite sind wir auch der Meinung, dass es richtig ist, dass jetzt die Bürgerinnen und Bürger zurecht sagen, jetzt gibt es kein Zurück mehr, jetzt muss man da durch, jetzt müssen Neuwahlen her.

    Meurer: Der SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering will ja seiner Fraktion empfehlen, sich der Stimme zu enthalten. Wollen sich die Grünen da ein wenig von absetzen?

    Sager: Das werden wir heute in der Fraktion beraten, und dem möchte ich auch nicht vorgreifen.

    Meurer: Sie sind aber schon dafür, dass Neuwahlen herbeigeführt werden sollen?

    Sager: Also es war ja nicht unsere Idee, sondern es war die Idee des Bundeskanzlers, aber wir sind jetzt so weit in dem Prozess drin aus meiner Sicht, dass ein Zurück nun auch nicht mehr möglich ist. Deswegen glaube ich, dass man dem schon Rechnung tragen muss, was jetzt eigentlich auch die Bürgerinnen und Bürger erwarten und was sozusagen dann auch notwendig und richtig ist.

    Meurer: Wie groß ist die Distanz, die Sie mittlerweile zur SPD empfinden?

    Sager: Na ja, es gibt ja sozusagen politische Distanzen, und es gibt Distanzen, was die Verfahren angeht. Ich muss sagen, dass wir in den letzten sieben Jahren eine ganze Menge in die richtige Richtung bewegt haben, auch gerade was die grünen Inhalte angeht, die Energiewende, der Verbraucherschutz, Toleranz und Offenheit der Gesellschaft, eine vernünftige Außenpolitik. Da stehen wir auch zu, und das sehen wir nach wie vor positiv. Dass wir mit einem großen Koalitionspartner auch immer inhaltliche Differenzen haben, ist klar, das ist auch oft genüg deutlich geworden. Was die Verfahren angeht, da würde ich mir manchmal schon etwas weniger Sprunghaftigkeit wünschen.

    Meurer: Sie fühlen sich also schon noch ein wenig überfahren mit der Entscheidung?

    Sager: Überfahren ist vielleicht zu viel gesagt, weil hier ja letztlich eine Rolle gespielt hat die Einschätzung der Verhältnisse in der SPD. Die Entscheidung des Kanzlers ist ja nicht getroffen worden auf Grund der Beziehung in der Koalition, sondern auf Grund einer Einschätzung der Lage in der SPD. Aber gut, das muss er letztlich selber wissen, und ich habe auch keinen Hehl daraus gemacht, dass ich den Eindruck habe, dass da viele von dieser Entscheidung inzwischen nicht mehr so begeistert sind, wie das vielleicht zu Anfang der Fall gewesen ist.

    Meurer: Ist nicht die Option schon vom Tisch, dass die Minister mit ihrem Abstimmungsverhalten die Entscheidung herbeiführen sollen?

    Sager: Das ist sicher eine der Optionen, und das ist sicher auch eine der Optionen, über die man mit reden muss, wenn man jetzt über das weitere Verfahren spricht.

    Meurer: Es gibt ja da noch natürlich den Umstand, dass der Bundespräsident dem Antrag zustimmen muss, den Bundestag dann auflösen muss, und dann wird es mit Sicherheit zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes kommen. Wie groß ist bei Ihnen die Unsicherheit, dass vielleicht noch alles ganz anders kommen kann?

    Sager: Wenn es um Verfassungsrecht geht - das haben wir ja in den letzten Wochen gemerkt -, dann gibt es oft unterschiedliche Meinungen. Auf der anderen Seite muss man sehen, der Ermessensspielraum des Bundespräsidenten in dieser Angelegenheit ist doch relativ groß, und er wird nicht nur zu berücksichtigen haben, welchen Weg der Bundeskanzler vorschlägt, sondern er wird sicher auch zu berücksichtigen haben, wie die Fraktionen und Parteien stehen, was die Bürgerinnen und Bürger erwarten und was aus seiner Sicht das Beste für das Land ist. Das gibt ihm doch einen relativ großen Ermessensspielraum, und das Bundesverfassungsgericht wird eben auch nicht nur zu bewerten haben, wie es den Weg des Bundeskanzlers bewertet, sondern auch wie es den Ermessensspielraum des Bundespräsidenten einschätzt.

    Meurer: Nun will ja einer in Ihrer Fraktion, Werner Schulz, gegen Neuwahlen in Karlsruhe klagen. Ist er der einzige in Ihren Reihen?

    Sager: Das ist zumindest der einzige, von dem ich das bisher weiß. Jeder einzelne Abgeordnete hat verfassungsmäßige Rechte, und zwar auch unabhängig davon, wie seine Fraktion oder wie seine Partei über eine Frage nachdenkt.

    Meurer: Was sagen Sie dazu, dass Schulz das tun will und dass er den Bundeskanzler zum Rücktritt auffordert?

    Sager: Dass er jetzt sozusagen einerseits keine Neuwahl will und andrerseits zum Rücktritt auffordert, finde ich etwas widersprüchlich, weil durch den Rücktritt kommt man nicht zu Neuwahlen, sondern eher zu einer noch verworrenen Situation, die sich dann noch mal über Wochen hinziehen würde. Aber das verfassungsmäßige Recht, das Verfassungsgericht da in die Überprüfung zu holen, ist ihm gegeben als Abgeordneter. Das ist auch nicht zu beanstanden, auch wenn die Fraktion und die Partei der Grünen dort zu einer anderen politischen Bewertung kommen.

    Meurer: Alles in allem, drei Tage vor der Entscheidung, herrscht Endzeitstimmung unter Rot-Grün oder bei den Grünen oder Aufbruchstimmung?

    Sager: Also bei uns Grünen herrscht keine Endzeitstimmung. Wir wissen, dass es durchaus sein kann, dass die SPD sich nicht mehr erholt, und dann wird es natürlich auch keine rot-grüne Regierung mehr geben. Aber wir sehen, dass wir durchaus die Chance haben, ein gutes grünes Ergebnis zu bekommen, weil es nicht so ist, dass alles von Schwarz und Gelb vorgelegt wird, die Menschen in diesem Lande wirklich begeistert. Ich denke nur an das Beispiel "zurück zur Atomkraft". Also da sehen wir uns auch ganz gut aufgestellt, und ich habe mich davon überzeugen können, dass die Motivation bei uns in den Landesverbänden für diesen Wahlkampf sehr hoch ist und dass alle ganz froh sind, dass es losgeht.

    Meurer: Vielen Dank für das Gespräch.