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"Wir müssen zurückkehren zu einer paritätisch finanzierten Versicherungsform"

Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbands Deutschland, hält weder eine kapitalgedeckte Pflegeversicherung noch private Vorsorge für den richtigen Ansatz zur Reform der Pflegeversicherung. Bei genauer Betrachtung sei das umlagefinanzierte System "im Grunde genommen das sicherste" weltweit.

Adolf Bauer im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 03.11.2011
    Dirk-Oliver Heckmann: Man könnte in diesen Tagen und Wochen ja den Eindruck gewinnen, es gebe derzeit nur ein Thema, den Euro und die Griechenlandkrise. Dabei stehen Probleme auf der Agenda, die gigantischen Herausforderungen gleichkommen: Beispiel die Reform der Pflegeversicherung. Immer weniger junge Menschen werden sich um immer mehr alte kümmern müssen. Mit der jetzigen Pflegeversicherung sind die damit verbundenen Belastungen bei Weitem nicht zu stemmen. Die Freien Demokraten hatten dieses Jahr als "Jahr der Pflege" ausgegeben, aber geschehen ist seitdem so gut wie nichts. Am Sonntag aber trifft sich die Koalition und will über das Thema beraten. Die Erwartungen an einen großen Wurf allerdings sind noch einmal gesunken.

    Am Telefon begrüße ich jetzt Adolf Bauer, den Präsidenten des Sozialverbands Deutschland. Schönen guten Morgen, Herr Bauer.

    Adolf Bauer: Schönen guten Morgen, Herr Heckmann.

    Heckmann: Herr Bauer, Sie rücken das Thema Pflege in den Mittelpunkt Ihrer Bundesverbandstagung in Berlin, die heute beginnt, und sehen Anlass, einen Pflegeweckruf auszugeben. Das hört sich irgendwie nach Aktionismus an, denn man kann doch sicherlich nicht behaupten, dass die Koalition die Bedeutung des Themas bisher nicht erkannt hat, oder?

    Bauer: Wir fürchten doch, denn das Ganze, was man im Augenblick erlebt, ist ein einziges Gerangel um die Finanzierung dieser Pflegeversicherung und der Erweiterung des Personenkreises, der von dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff erfasst wurde. Wir möchten gerne, dass man den Schwerpunkt wieder auf die Inhalte legt und danach die Finanzierung in den Blick nimmt.

    Heckmann: Dennoch müssen wir ein bisschen über die Finanzierung reden, denn das ist ja ein Kernpunkt des ganzen Problems. Die Eckpunkte, die hat der zuständige Minister Bahr mehrfach verschoben, die Vorstellung derselben. Was erwarten Sie denn konkret, wenn es jetzt nicht langsam zu einer Einigung kommt?

    Bauer: Wir erwarten, dass die pflegenden Angehörigen noch mehr belastet werden und noch länger belastet werden, als das ohnehin der Fall ist. Der Minister kündigt Eckpunkte an und kündigt ein Gesetz an, ohne dass überhaupt in der Öffentlichkeit diese Eckpunkte klar gemacht worden sind. Es gibt die Punkte seit zwei Jahren. Der Pflegebeirat, der vor zwei Jahren, 2009, bereits den neuen Begriff und auch die Umsetzung vorgelegt hat, hat eine Arbeit geleistet, auf die die Regierung aufbauen könnte, die man umsetzen könnte, aber das ist in der Versenkung verschwunden. Im Gegenteil versucht man sogar, Zeit zu schinden und neu diese Diskussion aufzunehmen. Das halten wir für verfehlt.

    Heckmann: Was könnte das für Gründe haben, dass die Regierung versucht, Zeit zu schinden, wie Sie sagen?

    Bauer: Das ist genau darin begründet, dass die Union, CDU/CSU, und FDP sich intern nicht einigen können, nach welchem Finanzierungsmodell man diese Probleme dann bewältigen könnte. Wir müssen einfach wissen, dass wir über 2,4 Millionen Menschen zurzeit als pflegebedürftig anerkannt haben und dass davon mehr als zwei Drittel zu Hause gepflegt werden. Das heißt, die Familien müssen entlastet werden, die jetzt den Großteil der Pflege leisten, und das ist in der Diskussion in der Regierung viel zu kurz gekommen.

    Heckmann: Union und FDP, Herr Bauer, hatten sich ja in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt, eine verpflichtende kapitalgedeckte Pflegeversicherung einzuführen. Die Union hat sich ja von diesem Ziel offenbar bereits verabschiedet und die FDP, die besteht offenbar auch nicht mehr auf einer Pflichtversicherung, sondern will die freiwillige private Vorsorge stärken, verweist auf das Modell der Riester-Rente. Das hört sich doch eigentlich vernünftig an, oder?

    Bauer: Das hört sich auf den ersten Blick nur vernünftig an. Aber wir müssen feststellen, dass die freiwillige Versicherung ja viele Menschen in eine Problematik hineintreibt, der sie nicht gewachsen sind. Wir haben einen sich ausweitenden Niedriglohnsektor. Wir haben viele Menschen, die über ein Einkommen verfügen, mit dem sie schon heute ihren Lebensstandard kaum bestreiten können, und somit ist eine privat gedeckte Versicherung der falsche Weg.

    Außerdem haben wir festgestellt, die Kapitaldeckung, die auch diskutiert wird und besonders in der FDP, ist der falsche Weg. Wir haben gerade gemerkt und wir erleben es aktuell, wie schnell Milliarden auf dem Kapitalmarkt verbrannt werden.

    Heckmann: Aber was heißt das? Weiterwursteln wie bisher? Denn das umlagefinanzierte System, das kann die Kosten doch auf Dauer gar nicht tragen.

    Bauer: Das ist auch nicht richtig. Wenn wir das umlagefinanzierte System uns einmal genauer ansehen, dann stellt sich heraus, dass das im Grunde genommen das sicherste ist, welches es überhaupt weltweit gibt. Wir müssen zurückkehren zu einer paritätisch finanzierten Versicherungsform, wir müssen alle Bürger mit einbeziehen, wir können es uns nicht länger leisten, dass gesetzliche Pflegeversicherung und private Pflegeversicherung nebeneinander hergeführt werden. Die Risiken sind ungleich verteilt. Wir brauchen eine Bürgerversicherung, eine Pflegeversicherung, in die alle einbezahlen, in der Arbeitnehmer und Arbeitgeber paritätisch ihren Beitrag leisten, in der auch Besserverdienende ihren Beitrag angemessen leisten, und dann ist das, was wir brauchen, auch finanzierbar.

    Heckmann: Und Sie glauben nicht, dass Beitragserhöhungen ohne Ende dann damit ins Haus stünden?

    Bauer: Nein. Ohne Ende sicherlich nicht. Wir wissen alle, dass die Pflege zu den derzeitigen Beiträgen zukünftig nicht finanzierbar sein wird. Wir wissen, dass es mehr pflegende Menschen geben wird. Diese Zahl wird auf etwa 3,4 Millionen Menschen ansteigen. Das heißt, es wird fast die Hälfte dazukommen bis zum Jahre 2030. Und schon bei der Einführung der Pflegeversicherung war den damaligen Autoren klar, dass für diesen derzeitigen Beitragssatz von 1,95 Prozent plus 0,25 für über 23-jährige kinderlose Erwachsene, dass für diesen derzeitigen Beitrag die Pflege nicht finanzierbar sein würde. Aber das, was an Horrormeldungen aufgebaut wird, das ist absolut unerträglich. Es wird teurer werden, es könnte sein, dass es auf zweieinhalb bis etwa drei Prozent ansteigt. Im Gegenzug diskutiert man ja aber im Augenblick schon wieder die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge. Das Ganze ist unlogisch, was in der politischen Landschaft zurzeit geführt wird.

    Heckmann: Die CSU, Herr Bauer, die möchte ja die Leistungen für Demenzkranke und besonders schwere Pflegefälle stärker über Steuern finanzieren. Glauben Sie im Ernst, dass dafür Geld im Haushalt noch übrig ist?

    Bauer: Wenn man die Pflege ernst nimmt, wenn man die Demenzerkrankten mit einbeziehen will, dann ist es sicherlich nicht auszuschließen, dass auch Steuern für die Finanzierung dieser Versicherungsleistungen herangezogen werden müssen. Aber das ist, glaube ich, nicht ungerechter als das, was man diskutiert, wenn man sagt, eine private Vorsorge. Auch dazu werden steuerliche Zuschüsse gezahlt. Das ist bei unserem System auch heute schon nicht systemwidrig. Insofern macht das zwar abhängig von dem jeweiligen Haushalt, aber es ist nicht sozial ungerecht.

    Heckmann: Die Koalition streitet weiter über eine Reform der Pflegeversicherung. Hier im Deutschlandfunk war das Adolf Bauer, der Präsident des Sozialverbands Deutschland. Herr Bauer, danke Ihnen für das Gespräch.

    Bauer: Gerne!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.