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"Wir sind endlich aufgewacht und haben all das satt"

Den vielen Hundertausend Menschen auf Brasiliens Straßen geht es um mehr soziale Gerechtigkeit im Land. Brasilien hat keine Schulden, nach China die weltweit zweithöchsten Devisenreserven, das Land ist gesegnet mit Rohstoffen und dennoch ist der Wohlstand im Land ungleich verteilt. Ein Stimmungsbild aus Sao Paulo.

Von Julio Segador | 22.06.2013
    Brasilien erwacht, singen die jungen Leute auf der Avenida Paulista im Herzen von Sao Paulo. Dort, wo sich die Macht der Banken mit ihren mächtigen Wolkenkratzern manifestiert. Nun ist die Avenida Paulista fest in der Hand von jungen Wutbürgern wie Alex:

    "Wir sind endlich aufgewacht und haben all das satt, was hier passiert. Wir wollen der Welt zeigen, dass wir nicht stillstehen, jetzt sind wir aufgewacht und tun dies, was wir schon vor langer Zeit hätten machen sollen. Wir haben nie etwas gemacht, aber jetzt sind wir aufgewacht und handeln."

    Alex ist mit einigen Freunden zur Demo. Auch Emmanuella ist hierhergekommen. Im Internet hat sie sich mit ihren Freunden verabredet. Hundertausende werden über das Netz mobilisiert. Ohne großen Aufwand, in kürzester Zeit.

    Emmanuella:
    "Alle Proteste wurden per Internet organisiert. Und über das Netz erfährt man auch, was die Regierung falsch macht. Über Facebook kann man viele Menschen versammeln. Schlägt ein Polizist jemanden, verbreitet man es via Internet. Das schlägt hohe Wellen. Der arabische Frühling hat uns gezeigt, dass man nur etwas verändern kann, wenn man auf die Straße geht."

    Brasiliens Jugend geht auf die Straße. "Nieder mit den Fahnen” und "Opportunisten” skandieren die Demonstranten, als einige Politiker den Protest für ihre Zwecke instrumentalisieren wollen. Ziel der Kritik der meist jungen Protestierer, auch von Emmanuella, ist die gesamte Politklasse:

    "Die Brasilianer sind müde von soviel Korruption, in der Arbeiterpartei, in der Regierung, eigentlich bei allen Parteien. Ich frage mich, wofür wir überhaupt wählen. Die Brasilianer müssen endlich lernen, dass nicht die Politiker entscheidend sind. Die Brasilianer sind es. Wir sind das Volk und die Politiker müssen uns dienen, nicht wir ihnen. "

    Protest im einstigen Boomland. Über mehr als ein Jahrzehnt ging es in Brasilien nur in eine Richtung - nach oben. Der Run auf Brasiliens Bodenschätze und eine kluge Sozialpolitik bereiteten den Boden, dass mehr als 30 Millionen Menschen aus der Armut in die Mittelschicht gelangten.
    Nun ist Brasilien Opfer der eigenen Prosperität. Denn diese inzwischen aufgeklärten Menschen sind es, die ihre Finger in die Wunden legen, weil sie sehen, dass vieles falsch läuft.

    Die sozialen Unterschiede in Brasilien sind immens. Die Armut ist trotz aller Fortschritte unübersehbar. Die Schere zwischen Arm und Reich ist riesig, die sozialen Sicherungssysteme sind marode, haben den Aufschwung der Menschen nicht begleitet. Auch Emmanuellas Mutter Janaina, die ihre Tochter auf der Demo begleitet, sieht das so.

    Janaina:
    "Die Jugend ist eigentlich in einer stabilen Wirtschaft aufgewachsen. Aber mit nicht einmal mittelmäßigen Institutionen. Und da hat sich in den letzten zehn Jahren in der Zeit des Wachstums eine paradoxe Situation ergeben. Die Mittelschicht ist extrem angewachsen und gleichzeitig sind auch die Ansprüche gestiegen, an das, was die Regierung anbieten sollte. "

    Janaina war schon vor mehr als 20 Jahren dabei, als die Macht der Straße den sagenhaft korrupten Staatspräsidenten Fernando Collor de Mello stürzte, es waren die letzten nennenswerten größeren Demonstrationen, die es in Brasilien gab. Janaina, eine 39-jährige Journalistin und typische Vertreterin der brasilianischen Mittelklasse war neugierig, was sie nun auf den Straße erwartet.

    Janaina:
    "Ich bin erst am dritten Protesttag dazugestoßen. Ich wollte wissen, was sind das für Jugendliche, die da demonstrieren? Was haben sie vor? Was fordern sie? Sind es Randalierer? Meinen sie es ernst oder geht es ihnen nur um Radau. Oder sind es nur einige wenige, die sich über das Internet verabreden? Also bin ich hingegangen, und ich stellte fest, dass die Menschen genau wussten, weshalb sie dort sind. Obwohl nichts organisiert wurde, war den Menschen klar, um was es geht."

    Und klar ist, es geht um mehr als nur um die Tariferhöhung im Nahverkehr, die die Bürgermeister in den meisten Städten des Landes ohnehin wieder kassiert haben. Mit der Erhöhung um 20 Centavos – umgerechnet nur wenige Euro-Cent – sollte ein Teil der WM- und Olympia-Ausgaben wieder hereingeholt werden.

    Den vielen Hundertausend Menschen auf Brasiliens Straßen geht es um mehr soziale Gerechtigkeit im Land. Brasilien hat keine Schulden, nach China die weltweit zweithöchsten Devisenreserven, das Land ist gesegnet mit Rohstoffen und dennoch ist der Wohlstand im Land ungefähr so ungleich verteilt wie in Südafrika, Namibia oder Haiti.

    Emmanuella will das nicht hinnehmen, sie will keine Ruhe geben, bis die Regierung Antworten gibt auf drängende Fragen. Dass sie dabei an der Seite ihrer protesterfahrenen Mutter ist, macht die 19-Jährige stolz:

    Emmanuella:
    "Wenn man mit jemanden unterwegs ist, der die gleichen Ideale hat, die Dinge ähnlich sieht, das gibt schon einen großen Impuls. Mit meiner Mutter unterwegs zu sein zeigt mir, dass auch ich Teil einer Revolution bin. Auch ich kann etwas verändern."