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"Wir sind nicht mehr im Stadium der Unschuld"

Christian Füller hat zuletzt mit einem Artikel über Pädophilie bei den Grünen für eine Kontroverse gesorgt. Darüber und über die Aufklärung bei den Parteien freue er sich zwar, trotzdem müsse die Politik mehr für missbrauchte Kinder tun.

Christian Füller im Gespräch mit Rainer Brandes | 30.08.2013
    Christine Heuer: Christian Füller hat das Buch "Sündenfall" über den Missbrauch an der Odenwaldschule geschrieben und zuletzt einen Artikel für die "TAZ", in dem er behauptet, dass Pädophilie, "in der grünen Ideologie angelegt sei". "TAZ"-Chefredakteurin Ines Pohl verhinderte den Abdruck. Gestern Abend sprach mein Kollege Rainer Brandes mit Christian Füller, ihr gemeinsames Thema: die Bilanz, die der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung gestern vorgelegt hat. Erste Frage an Christian Füller: Hat der Missbrauchsbeauftragte versagt, weil die Länder immer noch nicht ihren Anteil in den Entschädigungsfonds eingezahlt haben?

    Christian Füller: Das wäre jetzt ein bisschen unfair, das dem Missbrauchsbeauftragten in die Schuhe zu schieben. Ich glaube, dass das sozusagen ein, ja, man kann sagen, so eine Art kollektive Verantwortungslosigkeit ist. Also die Länder müssen einfach wirklich ihren Teil beitragen. Die Länder können nicht auf der einen Seite die Fachberatungsstellen hängen lassen – die über 250 Fachberatungen in den Ländern sind ja Kommunen und die Länder zuständig – und auf der anderen Seite aber auch nicht ihren Anteil zahlen, weil wir haben einfach vieles an Therapien für Opfer von sexualisierter Gewalt, teilweise auch lange anhaltende Probleme. Der Missbrauchsbeauftragte, finde ich, ist so wertvoll, wie er nie war, also so eine Art Klosterfrau-Melissengeist-Effekt, und wir brauchen ihn unbedingt, weil das Thema nicht mehr uns verlässt. Ich finde, er müsste manchmal etwas deutlicher sagen, was er eigentlich meint. Er sagt ganz oft das Richtige, aber es kommt nicht so richtig an, und ich finde, er hätte noch deutlicher skandalisieren können, dass die Länder sich aus diesem Fonds quasi verabschiedet haben.

    Brandes: Das heißt, Sie finden ihn zu zaghaft im Auftreten?

    Füller: Ich finde, dass er ein sehr guter Beamter und Verwalter ist, aber das war natürlich das Problem. Als Frau Bergmann, die einfach Standing hatte als Bundesministerin, als ehemalige, diesen Job übernommen hat und ihn wirklich sehr gut ausgefüllt hat – diese Frau sozusagen war bekannt, wenn die die Stimme erhoben hat, und sie hat ja auch eine relativ sanfte Tour gefahren, trotzdem hatte ihre Stimme Gewicht. Und Herr Rörig ist ein exzellenter Fachkenner und Herr Rörig hat wirklich wichtige Dinge wie zum Beispiel die unabhängige Untersuchungskommission als Idee auf den Weg gebracht oder will er auf den Weg bringen, aber ein Herr Rörig ist einfach Mitglied eines Ministeriums, aus dem er ausgeliehen ist jetzt.

    Brandes: Aus dem Familienministerium.

    Füller: Aus dem Familienministerium. Und wenn diese Stelle jetzt nicht mehr weiter existiert, was ja sein kann, sie ist ja formell nur bis zur Bundestagswahl, also noch vier Wochen, und dann bis Ende des Jahres, ich glaube nicht, dass man sie auslaufen lässt, aber wenn sie auslaufen würde, dann würde Herr Rörig wieder sozusagen in den Dienst als Beamter eintreten. Und das macht seine Stelle ein bisschen schwierig, weil er müsste einfach wirklich lauter und härter sein. Wir haben ganz viele Probleme im Moment noch, wir sehen, dass die Hasenburg-Skandale um die Kinderheime in Brandenburg, wo geprügelt wurde, quasi die alten Ostheim-Kinder wieder getriggert hat, wie man sagt, also sozusagen deren Leid neu hervorgerufen hat. Wir haben die Frage des Internets, wir sehen Kinder, die im Internet einfach sozusagen angegroomt werden, wie man sagt. Wir haben gerade einen ganz furchtbaren Fall in Cottbus, dass jemand im Gefängnis sozusagen aus dem Gefängnis sozusagen aus dem Gefängnis heraus via Internet eine 13-Jährige kontaktiert hat und beim Freigang die dann missbraucht hat. Also wir haben ganz große Probleme nach wie vor.

    Brandes: Aber wo Sie diese, wenn ich Sie da kurz unterbrechen darf, wo Sie diese Fälle aktuell gerade ansprechen: Das Thema ist also weiter virulent. Warum hat sich die Bundesregierung denn noch nicht dazu positioniert, ob diese Stelle des Missbrauchsbeauftragten weiter bestehen soll?

    Füller: Na ja, das kann die Bundesregierung ja nicht so einfach, weil die Bundesregierung ja jetzt zu Ende geht. Also diese Bundesregierung kann natürlich sagen, wenn wir drankommen, machen wir weiter damit, aber es wird ein neuer Bundestag, ein neuer Souverän gewählt, und aus diesem Bundestag wird eine neue Regierung gewählt, und letztlich muss dann aus der Mitte des Bundestages heraus oder aus der Regierung heraus die Initiative ergriffen werden, zu sagen, wir verlängern diese Stelle des unabhängigen Beauftragten, oder wir sichern sie sogar gesetzlich ab.

    Brandes: Haben Sie denn das Gefühl, dass dazu ein politischer Wille vorhanden ist?

    Füller: Wissen Sie, das ist eine komplizierte Frage. Wir stehen ja in einer ganz komplizierten Situation in dem Moment. Natürlich sagen ganz viele: Wir brauchen diesen Missbrauchsbeauftragten. Also alle Missbrauchseinrichtungen sagen: Wir haben seit drei Jahren gleichbleibend hohe Konjunktur dieses Themas. Es kommt immer was Neues. Jetzt kommen wir, wenn wir ehrlich sind, zum ersten Mal bei den politischen Parteien, bei den Grünen und durch die Aufklärung von Franz Walter aus Göttingen auch bei der FDP an, also in der Vergangenheit, was da sozusagen an Schreibtischtätertum, an Ideologie, an krimineller, verbreitet wurde. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Parteien das so lustig finden im Moment, dass sie jetzt selbst aufgeklärt werden.

    Brandes: Jetzt haben Sie die Grünen gerade angesprochen, die stehen ja im Moment so ein bisschen im Zentrum der Kritik, weil sie in den 1980er-Jahren eine Strömung in der Partei hatten, die Sex mit Kindern legalisieren wollte. Sie selbst haben in einem Artikel argumentiert, dies sei in der Gründungsideologie der Grünen angelegt gewesen, und die Grünen verweigerten sich, sich – immer noch – dieser Vergangenheit richtig zu stellen. Dieser Artikel sollte in der "TAZ" veröffentlicht werden, die Chefredakteurin hat das verhindert. Aber die Grünen haben ja inzwischen eine Untersuchung beauftragt, ein erstes Zwischenergebnis liegt vor, und das sagt: Es gab diese Strömungen, aber die Grünen hätten sich längst davon verabschiedet. Kann man den heutigen Grünen also denn wirklich noch einen Vorwurf machen?

    Füller: Also ich finde, man muss einfach denjenigen, die nicht wirklich konsequent aufklären, einen Vorwurf machen. Herr Walter macht einen guten Job und es ist gut, dass die Grünen ihn beauftragt haben. Was die Grünen abstreiten bis heute, ist, dass es möglicherweise Opfer gegeben habe, und wir sind nicht mehr im Stadium der Unschuld, wir wissen seit acht Wochen, dass sozusagen die Grünen – durch Recherchen eben auch bei Daniel Cohn-Bendit und seiner Vergangenheit –, … dass es viel mehr Strömungen gab, und es gab nicht nur die Schwulen und Päderasten, es gab Knastgruppen und es gab sogenannte Kinderrechtsgruppen in vielen Bundesländern bei den Grünen, die wollten die Kinder auch sexuell befreien. Zu welchem Zweck, frage ich? Und ich glaube, dass die Parteien gut daran täten, diese unabhängige Kommission, die Herr Rörig vorgeschlagen hat, einfach wirklich aufzustellen, damit man endlich mit Psychologen rangehen kann.

    Heuer: Der Autor Christian Füller im Gespräch mit Rainer Brandes.

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