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"Wir waren tief besorgt"

Vor 20 Jahren begann der sogenannte Zwei-plus-Vier-Prozess mit dem Ziel, am Ende einen Vertrag über die Souveränität eines vereinigten Deutschlands zu haben. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) sagt rückblickend, der schwierigste Verhandlungspunkt sei die Zugehörigkeit Deutschlands zur NATO gewesen.

Hans-Dietrich Genscher im Gespräch mit Christoph Heinemann | 12.02.2010
    Christoph Heinemann: Mathematiker bitte weghören bei zwei plus vier gleich eins. Jeder Fachmann wird sich bei dieser Gleichung die Haare raufen, in der Politik führte zwei plus vier tatsächlich zu eins. Genau vor 20 Jahren einigten sich die vier Mächte – USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – sowie die Bundesrepublik und die DDR auf einen Verhandlungsprozess. Das Ziel: einen Vertrag über die Souveränität eines vereinigten deutschen Staates. Dazu mussten viele und ausgesprochen knifflige außenpolitische Fragen beantwortet werden. Stichworte: Anerkennung der Grenzen, Deutschlands Zugehörigkeit zur NATO oder Truppenstärken. Wenige Tage vor dem Beginn dieses Zwei-plus-Vier-Prozesses verkündete Bundeskanzler Helmut Kohl in Moskau:

    Helmut Kohl: Ich habe heute Abend an alle Deutschen eine einzige Botschaft zu übermitteln: Generalsekretär Gorbatschow und ich stimmen darin überein, dass es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben will.

    Heinemann: Helmut Kohl am 10. Februar in Moskau. Am Telefon ist der ehemalige, der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Guten Morgen!

    Hans-Dietrich Genscher: Guten Morgen, Herr Heinemann!

    Heinemann: Herr Genscher, wir haben Helmut Kohl gehört, Sie waren damals mit in Moskau. War damit eigentlich alles klar, oder befürchteten Sie, die Zwei-plus-Vier-Gespräche könnten noch scheitern?

    Genscher: Zunächst mal ging es darum, ob überhaupt diese Zwei-plus-Vier-Gespräche zustande kommen. Die Erklärung, die wir damals in Moskau von der sowjetischen Seite, also Gorbatschow und Schewardnadse bekamen, war Sache der Deutschen, zu entscheiden, ob sie in einem Staat leben sollten. Aber welchen Status wird der Staat haben? Wird es ein neutralistisches Deutschland sein, wird es ein Deutschland in der NATO sein, wie sehen die Grenzen des vereinten Landes aus? Das musste besprochen werden, und das nicht nur zwischen Bonn und der Sowjetunion, Moskau, sondern hier hatten die drei Westalliierten ein Wort mitzureden, denn die vier Mächte – USA, Frankreich, England und Sowjetunion – waren ja für Deutschland als Ganzes verantwortlich, und deshalb besprach ich schon in Moskau am 10. Februar mit Eduard Schewardnadse, darüber müssen wir verhandeln. Und zwar wir, das sind die beiden deutschen Staaten, die Bundesrepublik und die DDR, und vier, das waren diese vier Mächte. Und ich schlug ihm vor, dass wir darüber reden in Ottawa, denn am 12., also heute vor 20 Jahren, begann in Ottawa die erste Konferenz aller Außenminister der NATO und des Warschauer Pakts. Open Sky, der offene Himmel sollte geschaffen werden, Transparenz, und das wolle ich für diese Gespräche nutzen. In Ottawa hatten wir eine massive Unterstützung durch die Vereinigten Staaten, aber auch Frankreich und England waren für diese Zusammenarbeit. Und dann zeigte sich doch, dass die Widerstände in Moskau sehr viel größer waren, als vielleicht mancher das von außen erwartet hatte, denn Eduard Schewardnadse hat während dieser Gespräche immer wieder unterbrochen, hat mit Michael Gorbatschow telefoniert. Und am Ende war dann das Ergebnis, zwei plus vier ist der Verhandlungsrahmen, also die zwei deutschen Staaten und die DDR nach der freien Wahl im März werden dann auf Außenministerebene diese Fragen, die sie angeschnitten haben – Stärke der Bundeswehr, Außengrenzen des vereinten Landes und die Frage, kann Deutschland frei über sein Bündnis entscheiden – erörtert werden.

    Heinemann: Herr Genscher, welcher war der schwierigste Verhandlungspunkt?

    Genscher: Während der Verhandlungen war der schwierigste Verhandlungspunkt die Zugehörigkeit zur NATO. Hier hatten wir allerdings eine gute Berufungsgrundlage, denn in der Schlussakte von Helsinki hatten wir mit Vorbedacht, wir, die deutsche Seite, Wert darauf gelegt, dass es dort heißt, jedes Land hat das Recht, sich einem Verteidigungsbündnis anzuschließen. Das taten wir damals im Blick auf eine mögliche Vereinigung, von der niemand wusste, wann sie kommen würde. Und darauf konnten wir uns jetzt berufen, und das hat letztlich den Ausschlag gegeben – natürlich auch eine Reihe anderer Zusagen. Dazu gehörte, dass die Armee des vereinten Deutschlands kleiner sein würde als die Bundeswehr bis zur Vereinigung – das waren 500.000, es waren in Zukunft höchstens 370.000, inzwischen sind es weniger – und auch, dass westliche Truppen nicht – also amerikanische, englische, französische – nicht auf dem Gebiet der früheren DDR stationiert werden. Also wir machten eine Reihe von Angeboten, um es Gorbatschow und Schewardnadse zu erleichtern, gegenüber den Gegnern in der sowjetischen Führung ihre Auffassung durchzusetzen. Dass es diese Gegner gab, haben wir ja dann genau ein Jahr nach Abschluss der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen erlebt mit dem Putschversuch.

    Heinemann: Herr Genscher, wie muss man sich die Atmosphäre in solchen Gesprächen vorstellen – freundschaftlich, kollegial oder wurde da auch mal jemand laut?

    Genscher: Nein, das muss man sagen, ich meine, unsere westlichen Freunde hatten sowieso keinen Anlass, mit uns in dieser Frage zu streiten, aber Eduard Schewardnadse, der es schwer genug hatte in Moskau, war sehr konstruktiv. Wir waren alle überzeugt, er wird sein Äußerstes versuchen, um das zu erreichen, und er konnte sich in dieser Frage natürlich in vollem Umfang mit der Unterstützung von Gorbatschow sicher sein.

    Heinemann: Da gab es doch von der britischen Regierung einen letzten Versuch, die Einigung zumindest zu verzögern. Douglas Hurd war es, der nach einer Wiedervereinigung forderte, auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR militärische Manöver abhalten zu dürfen. Das fand die sowjetische Seite überhaupt nicht komisch.

    Genscher: Nein, das kam auf am Abend vor der Unterzeichnung. Es war übrigens nicht Douglas Hurd, Douglas Hurd war voll unserer Meinung, es war Frau Thatcher, sie hatte das über einen Beamten veranlasst, ohne dass Hurd das überhaupt wusste. Und sie wollte noch eine Verzögerung haben, aber wir waren tief besorgt – da komme ich zu Ihrer ersten Frage zurück, hätte scheitern können –, wir waren tief besorgt, endlich die Unterschriften zu haben und dann später auch die Ratifizierung, weil man nie wusste, wie werden sich die Machtverhältnisse in Moskau gestalten. Und es waren wiederum die Amerikaner, der amerikanische Kollege, Außenminister Baker, die dann am nächsten Morgen uns unterstützt haben, genauso wie die französische Seite, französischer Außenminister Roland Dumas, haben beide gesagt, wir unterzeichnen auch ohne eine solche Klausel. Und da hat der englische Kollege auf eigene Kappe gesagt: Großbritannien unterschreibt auch.

    Heinemann: Helmut Kohl hat in der Wendezeit einmal gesagt, der damalige spanische Ministerpräsident Felipe González sei der einzige Spitzenpolitiker eines größeren europäischen Landes gewesen, der ohne Wenn und Aber zur deutschen Einheit Ja gesagt habe. Gab es damals tatsächlich die Sorge in Europa, dass die Deutschen irgendwann wieder die Stiefel anziehen könnten, oder war da auch Missgunst im Spiel?

    Genscher: Ich glaube, dass das hier gesagt werden sollte, dass er sich da öffentlich geäußert hat. Die Unterstützung für die deutsche Vereinigung war ganz eindeutig, Präsident Mitterand war daran interessiert, dass sichergestellt wird, dass das vereinte Deutschland seinen europäischen Kurs fortsetzt – das war sowieso der Fall. Wer womöglich Bedenken dagegen hatte und diese auch nicht verschwiegen hat, war Frau Thatcher, die ja bekanntlich in ihren Memoiren Mitterand vorwirft, er habe sie nicht unterstützt bei ihrem Bemühen, das zu verhindern. Nein, die Unterstützung war in Europa sehr breit – vielleicht mit unterschiedlicher Begeisterungsfähigkeit.

    Heinemann: Herr Genscher, wie wichtig waren damals Ihre und Helmut Kohls persönliche Beziehungen zu den Führungen der vier Mächte?

    Genscher: Ich glaube, dass persönliches Vertrauenskapital hier eine große Rolle spielte. Es war natürlich für die Westmächte sehr viel leichter, dazu Ja zu sagen und dafür zu sein, wenn Deutschland Mitglied der NATO wurde, deshalb habe ich ja in einer Rede Anfang Februar in Tutzingen gesagt, wir bleiben selbstverständlich in der NATO, um zum Westen hin das völlig klarzustellen. Es war voraussehbar, das wird der Hauptstreitpunkt.

    Heinemann: Diese NATO hat sich seither friedlich ostwärts vorgekämpft. Haben Sie, Herr Genscher, Verständnis für Einkreisungsängste in Moskau?

    Genscher: Also vorgekämpft würde ich nicht sagen, das könnte gerade in diesem Zusammenhang missverstanden sein. Ich habe Verständnis dafür, dass wir bisher keine Antwort gegeben haben auf den Vorschlag des russischen Präsidenten Medwedew, dass man sich verständigen soll über eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur. Die Regierung Bush senior/Baker hat mit der Bundesregierung, also Helmut Kohl und mir, unmittelbar nach der Vereinigung natürlich darüber gesprochen, was können wir jetzt tun, um die Sowjetunion enger mit dem Westen zu verbinden. Das war noch die Sowjetunion, und damals ist ein Kooperationsvertrag besprochen worden, der dann auch geschlossen worden ist. Und es hat später eine Reihe von Entscheidungen gegeben, die ich nicht in Ordnung fand, zum Beispiel, dass der NATO-Rat sich entschlossen hat, ein europäisches Abrüstungsabkommen bis heute nicht zu ratifizieren, obwohl konventionelle Abrüstung für uns immer besonders wichtig gewesen ist, oder dass man außerhalb der NATO, nämlich in Georgien, den NATO-Rat zusammentreten lässt. Das sind alles unbedachte Dinge. Es wird jetzt ganz entscheidend darauf ankommen, dass das westliche Bündnis – und das ist ja mit einem Präsidenten, wie es Obama ist, sehr viel leichter – konstruktive Schritte unternimmt, um hier eine Vertrauensbrücke zu bauen, denn Russland ist nicht unser natürlicher Feind, sondern ist unser natürlicher Partner, und so muss man die Politik auch gestalten.

    Heinemann: Der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Genscher: Auf Wiederhören!