Freitag, 29. März 2024

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Wirtschaft als Schulfach
Soziologe: Kein Mangel an deutschen Schulen

Wirtschaftsverbände beklagen, es werde zu wenig ökonomisches Wissen an deutschen Schulen vermittelt. Dem widerspricht der Soziologe Reinhold Hedtke: Seine Untersuchungen belegten, dass überraschend viel Lehrzeit mit ökonomischen Themen verbracht werde, sagte er im Dlf. Von Wirtschaft als eigenem Schulfach rät er ab.

Reinhold Hedtke im Gespräch mit Sandra Pfister | 18.12.2018
    Ein Tafelschwamm liegt unter der Tafel eines Klassenzimmers Foto: Fabian Sommer/dpa | Verwendung weltweit
    Wirtschaft als eigenes Schulfach - aus wissenschaftlicher Sicht gebe es keine Gründe, die dafür sprächen, sagt der Wirtschaftssoziologe Reinhold Hedtke (dpa)
    Sandra Pfister: Vor vier Jahren hat ein einziger Tweet einer Abiturientin eine Bildungsdebatte ausgelöst:
    "Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtanalyse schreiben. In vier Sprachen."
    Naina Kümmel, damals 17, hat damit einen Nerv getroffen. Zehntausende Male wurde sie retweeted, und die ohnehin alle Jahre wiederkehrende Diskussion, ob wir nicht doch mehr ökonomische Grundbildung in der Schule brauchen, die flammte neu auf.
    Wirtschaftsverbände und Unternehmen fordern seit langem mehr ökonomische Bildung. Die erste Landesregierung, die sie erhört hat, war die grün-rote in Baden-Württemberg. Jetzt zieht Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen nach: In knapp zwei Jahren wird dort das Schulfach "Wirtschaft" an allen allgemeinbildenden Schulen unterrichtet. So, alles in Sack und Tüten, da meldet sich ein Reinhold Hedtke zu Wort, Professor für Wirtschaftssoziologie aus Bielefeld, und sagt: Moment mal. Eigentlich lernen unsere Kinder schon ziemlich viel Ökonomie in der Schule. Guten Tag, Reinhold Hedtke!
    Reinhold Hedtke: Schönen guten Tag, Frau Pfister.
    Mehr Lernzeit für Wirtschaftsthemen als für Politik
    Pfister: Herr Hedtke, Sie haben sich die Lehrpläne und Stundentafeln mal genau angeschaut. Sie haben durchgezählt. Was genau kam dabei heraus?
    Hedtke: Wir haben nicht nur die Lehrpläne genommen, wir haben auch die Vorgaben des Ministeriums genommen für obligatorische, also verpflichtende Unterrichtselemente außerhalb der Schule, wie Betriebspraktika und Ähnliches. Und ich muss sagen, dass wir von unseren Ergebnissen außerordentlich überrascht waren. Wir hatten eine Vorstudie gemacht, da haben wir uns nur die Lehrpläne angeguckt. Und da haben wir gesehen, dass "Wirtschaft" nicht schlecht aufgestellt war, in den Gesamtschulen sogar sehr gut. Aber wir hätten niemals gedacht, dass am Ende, an der Lernzeit, zwei- bis dreimal so viel Lernzeit für Wirtschaft zur Verfügung steht wie für Politik.
    Pfister: Das hört sich fast ein bisschen so an, als müsste man die Politik unter Artenschutz stellen.
    Hedtke: Wir haben schon nicht den Eindruck aus unserer Studie heraus, dass wir in den Daten irgendeinen Hinweis darauf finden, dass die Landesregierung politische Bildung oder Bildung für die Demokratie besonders ernst nimmt. Die Indizien dafür sind zum Beispiel, es gibt diese außerunterrichtlichen Pflichtveranstaltungen, in der Berufsorientierung vier Stück an der Zahl, insgesamt dreieinhalb Wochen. Es gibt aber nichts dergleichen für die politische Bildung oder für die soziale, für die gesellschaftliche Bildung, sodass wir schon sagen würden, die Akzente sind hier, jedenfalls, wenn wir uns unsere Daten anschauen, sehr einseitig gesetzt.
    Einfluss von Wirtschaftsverbänden
    Pfister: Woher kommt denn Ihrer Ansicht nach die Annahme, dass die Wirtschaft an Schulen so viel zu kurz kommt dann?
    Hedtke: Die Annahme kommt meiner Meinung nach daher, dass seit ungefähr zehn Jahren, vielleicht ein bisschen kürzer, ein bisschen länger, die Wirtschaftsverbände, die Unternehmerverbände, einige Medien, einige Wirtschaftsstiftungen ganz massiv immer wieder in die Öffentlichkeit getragen haben, wir brauchen unbedingt mehr ökonomische Bildung, und dass in derselben Zeit alle darüber diskutiert haben, aber niemand genau hingeguckt hat, wie sieht es eigentlich an den Schulen wirklich aus, wie viel Lernzeit steht denn für Politik, und wie viel Lernzeit steht für Wirtschaft zur Verfügung. Stattdessen hat sich das immer höher aufgeschaukelt in der Öffentlichkeit, dass irgendwann alle dran geglaubt haben, dass wir unbedingt mehr ökonomische Bildung brauchen.
    Pfister: Also haben die Wirtschaftslobbyisten im Grunde genommen da gute Arbeit geleistet?
    Hedtke: Ich sag mal, man kann das nicht nur den Wirtschaftslobbyisten zuschreiben. Das ist sicherlich ein ganz zentraler Punkt gewesen an dem Erfolg. Aber es ist natürlich auch der Zeitgeist, der geherrscht hat, wo eben viele Menschen glaubten, dass das wirtschaftliche Handeln, das Denken an die eigenen Interessen, die Investition in Kapitalanlagen und so weiter, dass das doch ein wichtiger Punkt ist, den man lernen muss. Und hinzu kam, dass stark dafür getrommelt wurde, dass das Wirtschaftsleben so komplex sei, dass die Schülerinnen und Schüler unbedingt mehr Unterricht dafür brauchen. Dafür sehe ich aber keine Hinweise, dass das tatsächlich der Fall ist.
    Pfister: Sehen Sie das kritisch, dass die Lehrer so viel wirtschaftliches Informationsmaterial von der Wirtschaft oder von den Verbänden selbst in die Hand gedrückt kriegen? Denn auch das könnte es ja erleichtern, weil sie einfach eine bequeme Ausgangsbasis für den Unterricht haben.
    Hedtke: Man muss da vorsichtig sein. Erstens ist es völlig legitim in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft, dass Lobbyverbände Unterrichtsmaterial machen, und sie dürfen auch im Grundsatz Unterrichtsmaterial machen, das eher ihren eigenen Interessen entspricht. Was einen skeptisch machen muss und was sehr bedenklich ist, ist, dass das natürlich ungleich verteilt ist, weil die Wirtschaftsverbände sehr viel mehr Mittel haben, sehr viel mehr Geld, sehr viel mehr Personal, eigene Institute, als andere gesellschaftliche Organisationen, sodass das, was in die Schulen kommt, schon eine gewisse Tendenz hat.
    Weniger Berufsorientierung an Schulen?
    Pfister: Was Sie ja mit untersucht haben, sind Betriebspraktika, Berufsorientierung, die ja auch alle als wirtschaftliche Bildung zu zählen sind. Wenn man die nicht zurückdrehen will, weil sie vielen doch wertvoll und wichtig erscheinen, an welcher Stellschraube würden Sie drehen?
    Hedtke: Das ist schwer zu sagen, weil wir haben erst mal in unserer Studie darüber nicht geforscht, sondern wir wollten einfach nur wissen, was ist Stand der Dinge. Wir haben mittlerweile in Nordrhein-Westfalen ein Ausmaß an Lernzeit für die Berufsorientierung, dass viele Schülerinnen und Schüler schon sagen, das ist eigentlich zu viel. Ich denke, man sollte überlegen, ob man nicht in diesem Bereich Berufsorientierung doch deutlich zurückfährt und Zeit einspart. Das ist, glaube ich, sicher ein Punkt, an dem man auf jeden Fall ansetzen kann. Ansonsten müsste man da eine neue Untersuchung machen, eine neue Debatte. Das kann man nicht so aus dem Stand beantworten, woher die Zeit kommen soll.
    Pfister: Würden Sie der nordrhein-westfälischen Landesregierung trotzdem etwas raten? Jetzt wieder Abstand zu nehmen von diesem neuen Schulfach?
    Hedtke: Ich würde ihr auf jeden Fall raten, davon Abstand zu nehmen, weil das eine Politik ist, die von der überwältigenden Mehrheit der Fachleute für die Bildung in diesem Bereich abgelehnt wird. Die Leute, die die Lehrer ausbilden, an den Studienseminaren, an den Universitäten, auch die Lehrkräfte selbst, fünf Elternverbände lehnen dieses neue Fach Wirtschaft ab.Und es gibt aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt gar keine Studien, die belegen, dass wir ein Fach Wirtschaft brauchen. Es gibt nach unserer Studie auch keine Gründe dafür, dass wir mehr Wirtschaft brauchen. Wir haben schon mindestens genug, wenn nicht vielleicht mehr als genug, sodass man der Landesregierung eigentl ich nur raten kann, aus sachlicher Sicht muss man von diesem Projekt Abstand nehmen.
    Pfister: Reinhold Hedtke, Professor für Wirtschaftssoziologie in Bielefeld. Er hat zusammen mit seinem Kollegen Mahir Gökbudak in Bielefeld untersucht, wie stark wirtschaftliche Inhalte jetzt schon im Unterricht sind. Und das Resümee ist, es ist nur eine gefühlte Wahrheit, dass in Schulen zu wenig ökonomische Bildung vermittelt wird. Ganz herzlichen Dank!
    Hedtke: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.