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Wirtschaftskrise
Harter Überlebenskampf in Venezuela

Die Wirtschaftskrise in Venezuela ist dramatisch - der Alltag problematisch. Versorgungsengpässe und Verbrechen stehen auf der Tagesordnung. Der Staat lässt die Leute im Stich. Das betrifft auch die Krankenhäuser, die Schulen, überall herrscht Unordnung. Die Lebensqualität der Venezolaner ist stark gesunken.

Von Andreas Behn | 13.06.2015
    Kunden stehen im Supermarkt in Caracas, Venezuela, vor leeren Regalen.
    Kunden stehen im Supermarkt in Caracas, Venezuela, vor leeren Regalen. (picture alliance / dpa)
    "Wir brauchen höhere Löhne. Jede Woche steigt der Preis für die Arepas, für das Brot. Wir arbeiten hart, aber der Lohn bleibt gleich."
    Marco redet sich in Fahrt. An einer belebten Straßenecke mitten Zentrum von Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, hat er gerade eine Zigarette bei einem Straßenhändler gekauft. Obwohl er sich auch die eigentlich nicht mehr leisten kann.
    "Das Leben ist so teuer, weil sie alles außer Landes schaffen. Wenn sie die Grenze dicht machen würden, gäbe es keine Probleme. Der Schmuggel tötet uns! Von jeder Schiffslieferung, die hier ankommt, geht nur ein Viertel an die Bevölkerung. Die Hälfte der Produkte verschwinden irgendwie."
    Viele Dinge sind knapp
    Der Straßenhändler nickt. Er blickt zum Supermarkt gegenüber, vor dem an die 50 Menschen Schlange stehen. Viele Dinge des täglichen Bedarfs sind knapp. Zum Beispiel Milch, Mehl aber auch Toilettenpapier oder Shampoo sind in den meisten Geschäften nicht mehr in den Regalen zu finden.
    "Das Problem ist, dass der Staat alles subventioniert. Damit will er die Kaufkraft der Löhne schützen. Aber deswegen sind bestimmte Produkte oft nicht mehr zu haben. Es ist schwierig, den Lebensunterhalt zu verdienen, genug zu essen zu haben und zu überleben. Aber wir beschweren uns nicht, wir sind uns der Situation im Land bewusst. Wir haben immer noch die Hoffnung, dass das Leben mit dieser Regierung besser wird."
    Nase voll von der Regierung
    Einig sind sich die Venezolaner nur darin, dass die Wirtschaftskrise dramatisch ist. Marco und der Straßenhändler halten trotz aller Kritik zu der chavistischen Regierung. Der sozialistische Kurs, den der verstorbene Hugo Chávez vor über 15 Jahren einschlug, hat den armen Venezolanern mehr Wohlstand gebracht. Sie werfen den Unternehmern und der konservativen Opposition vor, für die schlechte Stimmung im Land mit verantwortlich zu sein.
    Die Menschenrechtlerin Liliana Ortega hingegen hat die Nase voll von der Regierung. Wieder einmal kann sie nicht in ihrem Büro arbeiten, da der Strom im ganzen Gebäude ausgefallen ist.
    "Der Leben in Venezuela ist für jede Hausfrau schwierig. Das betrifft alle Besorgungen im Alltag. Grund dafür sind die Versorgungsengpässe und die extrem hohe Verbrechensrate. Trotz des milden Klimas ist Caracas nach sechs Uhr Abends wie ausgestorben. Die Leute haben Angst voreinander."
    "Der Staat lässt die Leute im Stich, zum Beispiel beim Verkehr, der völlig chaotisch ist. Das betrifft auch die Krankenhäuser, die Schulen, überall herrscht Unordnung. Die Lebensqualität der Venezolaner ist stark gesunken. Es ist doch kein Luxus, in einem Erdölland Strom und fließend Wasser zu haben. Eine Schande, dass wir mit den vielen Ressourcen des Landes nicht richtig umgehen."
    Drastische Währungspolitik
    Auch die Währungspolitik macht den Venezolanern zu schaffen. Die Regierung kontrolliert die Wechselkurse und den Zugang zu Devisen. Dies hat dazu geführt, dass der inoffizielle Kurs für den US-Dollar mittlerweile ein Vielfaches des staatlich festgelegten Kurses beträgt. Wer Dollar auf der Straße tauscht, kann sich Vieles leisten. Wer auf sein Gehalt in der Landeswährung Bolivianos angewiesen ist, sollte Geschäfte mit importieren Waren meiden: Dort kostet eine einfache Jeans schnell das Doppelte des gesetzlichen Mindestlohnes.
    Die meisten Ökonomen stimmen mit der Opposition überein, dass die Wirtschaftspolitik verändert werden muss. Auch Luis Zambrano von der Nationalen Akademie der Wirtschaftswissenschaften plädiert für eine Kehrtwende, sieht aber große Hindernisse:
    "Die Inflation ist ein großes Problem, das Haushaltsdefizit ist enorm und die Handelsbilanz ist durch den Fall des Ölpreises unter Druck geraten. All dies muss korrigiert werden, doch die Regierung schiebt Veränderungen auf die lange Bank. Sie ist praktisch handlungsunfähig und nicht in der Lage, wirtschaftspolitische Entscheidungen zu treffen."
    Schon lange vor der Zuspitzung der Wirtschaftskrise hoffte die Mehrheit der wohlhabenden Venezolaner auf ein Ende der chavistischen Regierung. Vergangenes Jahr gingen Oppositionelle wochenlang auf die Straßen und forderten den Rücktritt von Präsident Nicolas Maduro. Über 40 Menschen aus allen politischen Lagern kamen bei den teils sehr gewalttätigen Protestaktionen ums Leben. Hunderte wurden verhaftet. Einige von ihnen, darunter auch führende rechte Politiker, begannen im Mai einen Hungerstreik, um ihre Freilassung durchzusetzen.
    Die Opposition setzt auf die Parlamentswahl Ende dieses Jahres. Die Chancen, im Kongress die Mehrheit der Mandate zu erringen, stehen gut, sagt Oscar Schémel, Direktor des Meinungsforschungsinstituts Hinterlaces:
    Opposition könnte mit einem Wahlsieg rechnen
    "Derzeit kann die Opposition mit einem Wahlsieg rechnen, und zwar mit deutlichem Vorsprung. Dennoch wird die Regierung von Nicolas Maduro immer noch von rund 40 Prozent der Bevölkerung unterstützt."
    Der Chavismus wäre aber auch nach einer Wahlniederlage keineswegs am Ende, glaubt der Meinungsforscher. Denn eine politische Alternative haben die Konservativen nicht wirklich zu bieten.
    Der Chavismus ist mehr als eine Regierung. Er ist eine politische Kultur, eine emotionale Gemeinschaft, eine Art Klassenidentität. Das sind Dinge, über die die Opposition nicht verfügt. Sie wird nicht für ihre politischen Ideen gewählt werden, sondern weil die Leute einfach unzufrieden sind.