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Wissenschaftler zur NS-Zeit
Warum Großvater vielleicht tat, was er tat

Als sich Naomi Schenck an die Arbeit machte, die Biografie ihres verstorbenen Großvaters zu schreiben, wusste sie durchaus, dass der Chemiker einst Mitglied der NSDAP war. Doch im Laufe ihrer Recherchen entdeckte sie, in welchem Ausmaß Günther Schenck und seine Kommilitonen Mitläufer waren. Und wie locker sie das später wegwischten.

Von Eva Pfister | 11.08.2016
    Die Schriftstellerin Naomi
    Die Schriftstellerin Naomi (Deutschlandradio-Maurice Wojach)
    Günther Otto Schenck war ein selbstbewusster Mann und ein leidenschaftlicher Forscher. Er studierte Chemie in Heidelberg, arbeitete in Halle und Göttingen und wirkte zuletzt in Mülheim an der Ruhr. Dort erlebte ihn Naomi Schenck als Wissenschaftler im Ruhestand, der immer noch eine Sekretärin beschäftigte, eine natürliche Autorität ausstrahlte und ein liebevoller Opa war. Als er im Jahr 2003 starb, vermachte er seiner Enkelin die Rechte an seiner Biografie, die es aber noch zu schreiben galt.
    Naomi Schenck führte viele Gespräche mit Familienmitgliedern, ehemaligen Kollegen und Kommilitonen. Dass ihr Großvater Mitglied der NSDAP war, wusste sie schon, ein Kapitel würde sie wohl dem Thema "Wissenschaftler im Dritten Reich" widmen müssen, dachte sie. Als sie aber aus dem Internet erfuhr, dass Günther Schenck schon 1933 als Student in die SA eingetreten war, kamen ihr doch Zweifel. Mit ihren Brüdern erörterte sie die Frage, ob das wirklich ein überlebensnotwendiger Schritt war.
    "Ich denke, Günther hat immer geguckt: Welche Optionen habe ich", sagt Toby. - "Also meinst du, es war eigentlich okay, dass er in die SA und in die Partei eingetreten ist?" – "Du, sonst hätte er seine ganze Forschung überhaupt nicht machen können." Er schaut mich überrascht an. Ich bin ebenso überrascht. - Jost sagt: "Natürlich ist es kein Ruhmesblatt. Es ist keiner umgebracht worden, wenn er nicht in die SA oder in die Partei eintrat. Andererseits, guck mal. Du befindest dich in einem Land, das einen Weg geht, den du nicht gut findest. Willst du dich jetzt aus der Forschung ausklinken?" (S. 71)
    Anders als ihre Brüder ist Naomi Schenck schockiert, als sie im Laufe ihrer Recherchen entdeckt, in welchem Ausmaß Günther Schenck und seine Kommilitonen Mitläufer waren. Und wie locker sie das später wegwischten, auch noch 70 Jahre danach. Als sie ein Foto der damaligen Freunde in SA-Uniform präsentierte, wiegelte ein ehemaliger Studienkollege ab: Das hätte nichts zu bedeuten, das musste man halt, sonst hätte man nicht weiter studieren können. Und immer wieder hörte die Autorin den Satz: Deswegen war man doch kein Nazi.
    "Manchmal schäme ich mich, dass mich diese Zeit so sehr interessiert"
    Der Titel von Naomi Schencks Buch "Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12" bezieht sich auf einen Traum der Autorin. Sie schreibt sehr persönlich, reflektiert ihre Reaktionen auf ihre Entdeckungen und räumt ihren Zweifeln breiten Raum ein. In ihrem Urteil aber hält sie sich zurück. Zuweilen ist sie empört, aber dann erschrickt sie auch wieder über ihren eigenen Forschereifer:
    "Manchmal schäme ich mich, dass mich diese Zeit so sehr interessiert, und obwohl mich bisher niemand darauf angesprochen hat, suche ich nach Rechtfertigungen für mein Interesse. Ich möchte nicht, dass meine Familie denkt, ich würde Günther auf sein Leben während dieser Zeit reduzieren." (S. 170)
    Es sind Außenstehende, die Naomi Schenk darauf aufmerksam machen, dass auch sie vielleicht ihren Großvater entschuldigen will. Ein Amerikaner deutscher Abstammung, den Naomi Schenck für ihr Buch "Kann ich mal Ihr Wohnzimmer sehen?" traf, forderte sie energisch dazu auf, ein deutlicheres Urteil über ihren Großvater zu fällen. Ihren Einwand, dass das Anklagen nicht ihre Sache sei, wischt er weg:
    "Ja, wessen denn dann? Ist es nicht sogar Ihre Pflicht? Schweigen ist das größte Verbrechen. ... Vielleicht verteidigen Sie ihn ja, weil Sie spüren, dass er verteidigt werden muss. Weil da etwas ist, was nicht so ganz in Ordnung war. Sagen Sie doch einfach: Da hat der moralische Kompass versagt." (S. 252)
    Aber Naomi Schenck überlässt das Urteil den Lesern. Natürlich ist dieses persönliche Offenlegen ihrer ambivalenten Gefühle eine Qualität dieses Buches. Eine andere ist die spannende Erzählweise. Die Autorin schildert das Haus ihrer Großeltern ebenso anschaulich wie die Milieus, in denen sie ihre Gesprächspartner trifft. Bei den Recherchen taucht sie gleichsam in die vergangene Zeit ein; vor allem das Heidelberg der 30er-Jahre faszinierte sie. Günther Schenck hatte sich dort mit einigen Kommilitonen zu einer sogenannten "Wildwest"-Bande zusammengeschlossen; sie machten gemeinsam Ausflüge und Musik, und hielten auch nach dem Krieg noch regelmäßig Kontakt. Ein Album protokolliert die Aktivitäten, die auf den ersten Blick so unbeschwert und unpolitisch wirkten.
    Später machte Naomi Schenck allerdings die Entdeckung, dass einer der Wildwestbande ein Kriegsverbrecher war, - und dass ihr Großvater in seiner Trauerrede noch dessen Warmherzigkeit hervorhob. Ob er dies in Treu und Glauben tat oder wider besseres Wissen, bleibt für die Autorin ein Rätsel, wie so vieles im Leben ihres Großvaters. Ihr Fazit klingt bitter:
    "Ich werde nie wissen, ob er sich wegen irgendetwas schuldig fühlte. Aber ich weiß, dass meine Erinnerungen an ihn nie wieder so unschuldig sein werden, so unabhängig von den Zeiten, in denen er lebte, wie zuvor." (S.233)
    Naomi Schenck: "Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12"
    Hanser Verlag, Berlin 2016, 336 Seiten, 22,90 Euro