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Wissenschaftspoetik
Sichtweisen verändern

Von Joachim Büthe | 17.12.2014
    Das Genre der Poetikvorlesungen ist inzwischen kaum noch zu überblicken. Jedes Jahr kommen ein paar hinzu, der neugierige Blick in die Dichterwerkstatt ist unersättlich und für den Dichter springt ein hübsches Honorar dabei heraus. Wolfgang Ullrich ist zu seiner Wissenschaftspoetik nicht eingeladen worden, er hat seine Vorlesungen nicht gehalten, gleichwohl liegen sie jetzt vor. Denn so weit auseinander liegen die Schriftsteller und die Geisteswissenschaftler in seinem Verständnis nicht.
    "Ich stehe da sicher in einer Tradition der Geisteswissenschaftstheorie, die schon einige prominente Vertreter mehrerer Generationen vorweisen kann. Mir stehen Philosophen wie Richard Rorty, Paul Feyerabend sehr nahe, die in ihrer Arbeit sehr überzeugend deutlich machen konnten, dass Theorien nicht danach zu bemessen sind, ob sie jetzt in einem absoluten, in einem objektiven Sinne wahr sind, sondern ob sie erschließend sind, ob sie in gewissen Situationen, in gewissen Zusammenhängen nützlich sein können, praktikabel sein können und denjenigen, die damit umgehen, einen Dienst erweisen können. In dieser Tradition verstehe ich mich ausdrücklich und verstehe daher Geisteswissenschaft eher als eine Form von Gestaltung als von Entdeckung."
    Natürlich folgt die poetische Gestaltung anderen Prinzipien als die geisteswissenschaftliche Gestaltung, der Schriftsteller will z. B. eine Geschichte erzählen, der Wissenschaftler hingegen eine These plausibel machen. Und natürlich müssen in einer Wissenschaftspoetik auch die Mittel, mit denen Thesen plausibel gemacht werden, zur Sprache kommen. Wolfgang Ullrich führt die rhetorischen Figuren, die zur Unterstützung der Überzeugungskraft angewendet werden, vor, ohne ihnen ihre Berechtigung abzusprechen. Wer sich nicht hinter einer Fachsprache verschanzen will, muss der sprachlichen Gestaltung einen höheren Stellenwert zumessen, und er muss seine Mittel offenlegen. Dazu gehört auch die Warnung vor leerlaufender Rhetorik, die mit den immer gleichen Textbausteinen immer neue Diagnosen in die Welt setzt. Beides wird Ullrich nicht nur neue Freunde bescheren.
    "Für mich ist eine Theorie immer eine Art von Setting. Man überlegt sich je nach Interesse, je nach Situation einen bestimmten Gegenstandsbereich. Man entscheidet sich, welche Elemente aus einem Bereich man für relevant hält und aufeinander bezieht. Das zeigt eigentlich schon, dass Theoriebildung weniger mit Erkenntnis als mit Auswahl, mit Gestalten, mit Gewichten zu tun hat, ja ein Vorgang ist, der unendlich variierbar ist. Und je nach Variante, für die man sich entscheidet, wird man zu einer anderen These, vielleicht auch zu einem anderen Werturteil kommen über einen Sachverhalt. Darum geht es vor allem in den Geisteswissenschaften, dass man mit einer Theorie den Blick auf ein Phänomen verändert."
    In diesen Zusammenhang gehört auch Ullrichs Kritik an der klassischen kunsthistorischen Bildinterpretation, die es in der Moderne und in der Gegenwartskunst zunehmend mit verrätselten Bildinhalten zu tun bekommt, die mit den Mitteln klassischer Bildrhetorik nicht mehr zu entschlüsseln sind. Auch die Phänomene haben sich verändert und mit ihnen die Kunstwissenschaft, die sich nun andere Fragen stellt.
    "Eher die Frage, für wen ist das gemacht oder für welchen Ort ist das gemacht oder warum hat das Erfolg oder warum hat das nicht so viel Erfolg. Warum erzielt das den und den Preis, warum interessiert das eher einen Privatsammler als die öffentliche Hand. Solche Fragen stellt man sich in den Kunstwissenschaften sehr stark. Das hat sicher auch damit zu tun, dass es ja eine Wendung gab in den letzten Jahrzehnten, was sich im aktuellen Kunstmarkt manifestiert, dass Kunst durch die Institutionen, in denen sie verhandelt wird, sich überhaupt erst als solche konstituiert, dass etwas erst dadurch, dass es im Museum landet, Kunst ist. Durch diese Wendung hin zum Institutionellen des ganzen Kunstbegriffs liegt es nahe, dass sich auch die Kunstwissenschaft sehr stark mit den einzelnen Institutionen befasst, sich überlegt welche Rolle spielt das Museum, welche Rolle spielt das Auktionshaus, welche Rolle spielt die Privatsammlung etc. Ein Großteil der kunstwissenschaftlichen Forschung widmet sich nicht mehr der Interpretation einzelner Werke, sondern der Erschließung dessen, was Arthur C. Danto einmal 'art world' genannt hat, also die Kunstwelt mit all ihren Orten, mit ihren Protagonisten, mit all ihren Ereignissen."
    Geistesgegenwart bedeutet für Wolfgang Ullrich nicht nur, sich den veränderten Bedingungen zu stellen, unter denen Kunst heute wahrgenommen wird. Es bedeutet vor allem, festgefahrene Bedeutungen und Definitionen wieder in Bewegung zu versetzen. Eine der zentralen Aufgaben der Geisteswissenschaft ist für ihn die Umwertung, die Verflüssigung dessen, was man schon zu wissen glaubt. Ullrich führt es vor am Begriff des Opportunismus, dessen negative Konnotation kaum zu übertreffen ist. Das ist natürlich auch ein rhetorischer Trick, ein Verblüffungseffekt, dem zu widerstehen ihm schwerfällt.
    "Das beginnt damit, dass ich es mir etymologisch anschaue diesen Begriff und darauf komme, dass in seiner ursprünglichen Bedeutung es um eine nicht metaphysische Dimension geht. Etwas, dass sich strahlend, sich glänzend zeigt, etwas, das Evidenz besitzt. Es ist etwas, das sich ziemt, das sich gehört, das passend ist in einer Situation, das lateinische opportet meint das gerade. Und von da aus komme ich dann dazu zu sagen: Der Opportunist ist jemand, der eine besondere Sensibilität hat für den jeweiligen Augenblick, für das Setting, für das, was im jeweiligen Moment angebracht ist. Ein Opportunist ist jemand, der professionell reagieren kann auf etwas, das vorgegeben ist. Der insofern, und damit sind wir auch beim Titel des Buches, über eine Geistesgegenwart verfügt. Der wahrnehmen kann, was in seiner Gegenwart eine besondere Bedeutung besitzt, was verdient, eine besondere Beachtung zu bekommen."
    Die positive Besetzung des Opportunismus ist natürlich auch eine Polemik gegen die Prinzipienfestigkeit, gegen das ideologische Denken, das sich auch in seiner Abneigung gegen das Modell der Kulturkritik äußert, obwohl auch er Elemente des Niedergangs weder leugnen kann noch will. Der reformgeschüttelten deutschen Universität kann er nicht viel abgewinnen. Dennoch mag er in das Lied der Krise der Geisteswissenschaften nicht einstimmen. Denn die Geisteswissenschaften sind nicht abgehoben. Sie sind nah dran einer Tätigkeit, die wir im täglichen Leben ständig ausführen. Wir urteilen, wir interpretieren bereits, wenn wir einmal die Straße hinauf und hinuntergehen. Die Geisteswissenschaft, wie sie Wolfgang Ullrich vorschwebt, ist nichts anderes als eine professionellere Form des Urteilens, die das tägliche Leben reicher macht, und sich insofern um seine gesellschaftliche Relevanz nicht sorgen muss.
    "Wahrscheinlich gibt es nicht die Gesellschaft, es gibt viele kleine Teilgesellschaften, und es wäre schon sehr schön, wenn einige davon den Geisteswissenschaften etwas mehr Aufmerksamkeit schenken würden. Für mich ist einer der großen Vorteile der Geisteswissenschaft, dass sie so nah dran ist mit ihren Themen, mit ihren Denkweisen, mit ihren Methoden an dem, was alltägliches Urteilen ohnehin schon ist. Die Geisteswissenschaft ist nicht etwas, das streng getrennt wäre vom Leben der Menschen. Und wenn diese Verbindung wieder deutlicher würde, fände ich das großartig. Wobei dieser Appell nicht primär an einzelne Milieus in der Gesellschaft gerichtet ist, sondern mehr an meine Kolleginnen und Kollegen. Es gibt viele darunter, die die Chancen, die in ihren Fächern liegen, gar nicht hinreichend nutzen."
    Wolfgang Ullrich: Des Geistes Gegenwart. Eine Wissenschaftspoetik
    Wagenbach Verlag, 159 Seiten, kart., 10,90 Euro