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Wissenschaftsrat fordert mehr Alternativen

Der Wissenschaftsrat empfiehlt dem deutschen Hochschulsystem mehr Mut zur Differenzierung. Nur so könne man den Anforderungen künftiger Generationen gerecht werden. Was das bedeutet, erklärt der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Peter Strohschneider.

Peter Strohschneider im Gespräch mit Kate Maleike | 15.11.2010
    Kate Maleike: Der Wissenschaftsrat berät Bund und Länder und gibt Empfehlungen zu inhaltlichen und strukturellen Entwicklungen der Hochschulen im Land. Zwei Tage hat er Ende letzter Woche in Lübeck zu seiner Herbstsitzung zusammengesessen und wieder diverse Empfehlungen erarbeitet. Ganz oben auf der Liste steht aber eine, die einigen Diskussionsstoff enthalten dürfte, denn es wird für mehr Differenzierung im deutschen Hochschulsystem plädiert. Die Hochschultypen Uni und Fachhochschule allein reichten nicht mehr aus, um die gewachsene Vielfalt der individuellen und gesellschaftlichen Erwartungen an akademischen Einrichtungen erfüllen zu können, heißt es. Was das konkret bedeutet, darüber habe ich vor der Sendung mit dem Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, Professor Peter Strohschneider gesprochen. Und Frage Nummer eins an ihn war: Was meint denn der Wissenschaftsrat mit größerem Alternativenreichtum?

    Peter Strohschneider: Mit Alternativenreichtum meinen wir die Möglichkeit, dass alle, die im Hochschulsystem tätig sind oder an es Ansprüche formulieren, individuelle und gesellschaftliche Ansprüche, zwischen Verschiedenem wählen können müssen. Es ist nämlich so, dass diese Ansprüche an das Hochschulsystem sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vervielfacht und vervielfältigt haben. Es sind quantitativ gewachsene Ansprüche geworden, aber es ist auch so, dass neue Ansprüche an das Hochschulsystem gestellt worden sind, die früher nicht formuliert wurden. Die Weiterbildung wäre ein Stichwort für einen solchen Anspruch, der erst allmählich entstanden ist. Die Studierendenpopulationen sind sehr viel diverser geworden, als das früher der Fall war – also eine Vervielfachung und Vervielfältigung der Ansprüche, auf die das Hochschulsystem nicht mehr zureichend reagieren kann, wenn es nur einen oder zwei Typen von Institutionen gibt, sich alle mehr oder weniger gleich sind. Dieses in einen Alternativenreichtum der institutionellen Formen, der Funktionserfüllungen, der Leistungsmöglichkeiten hinein auszudifferenzieren, das ist sozusagen die Grundidee, die diesen Empfehlungen zugrunde liegt, auf die Sie gerade angesprochen haben.

    Maleike: Wie groß ist denn der Handlungsdruck? Sie haben ja auch andersrum ausgedrückt, dass im Moment Fachhochschulen und Universitäten nicht in der Lage sind, ja die aktuellen Bedürfnissen zu befriedigen.

    Strohschneider: Also das würde ich vielleicht so nicht sagen, aber ich würde sagen, dass es Verbesserungsmöglichkeiten gibt an verschiedenen Stellen. Eine ist die Qualität der Lehre, mit der der Wissenschaftsrat sich ja in den zurückliegenden Jahren wiederholt intensiv befasst hat – Diversität der individuellen Voraussetzungen der Studierenden, ihrer Studieransprüche, ihrer Bildungsvoraussetzung, in ihrer sozialen Voraussetzungen, ihrer Erwartungen an das Studium ist ein anderes Stichwort, eine Vervielfältigung auch der sozialen Formen des Studiums ist so etwas. Es gibt sehr unterschiedliche Formen, sein Studium zu absolvieren: mit Jobben, ohne Jobben, als Vollzeitstudium, als Teilzeitstudium, als Weiterbildungsstudium, als ein Studium, das unterbrochen wird durch Phasen der Berufstätigkeit und so weiter und so fort. Und im Hinblick auf dieses einen Handlungsbedarf zu beschreiben, wie es der Wissenschaftsrat tut, das heißt nicht zu sagen, dass das System insgesamt in einem deplorablen Zustand sei, es heißt aber zu sagen, dass es verbesserungsfähig, weiterentwicklungsbedürftig sei – und der Auffassung sind wir schon.

    Maleike: Geben wir dem Ganzen doch dann mal ein Gesicht. Wie sehen denn die Alternativen aus, was wollen Sie noch einführen?

    Strohschneider: Also ein wesentliches Argument des Wissenschaftsrats in diesem Papier ist zu sagen, es gibt – Stichwort Exzellenzinitiative – einen Parameter, den der Forschungsleistungshöhe, der im Rahmen der Exzellenzinitiative eine wichtige Rolle spielt bei der Ausdifferenzierung der Hochschulen, aber es ist nur einer von vielen Parametern. Und wir sind der Auffassung, wenn er sozusagen exklusiv in den Blick genommen wird, wenn also andere Parameter – wie die Lehre, wie die Weiterbildung, wie die Innovation – nicht mit in den Blick genommen werden, dann erleidet das System insgesamt Funktionsverluste oder jedenfalls das Risiko von Dysfunktionalitäten.

    Maleike: Das heißt, es wird zu viel Wert auf die Forschung gelegt, Sie wollen das verändern?

    Strohschneider: Nein, es heißt, es wird zu wenig auf die Lehre Wert gelegt.

    Maleike: Aber kommen wir noch mal zu den Alternativen: Sie wollen Colleges und Professional Schools, also das Modell der US-amerikanischen Hochschulen, ein bisschen mehr in den Blick nehmen. Wie soll das aussehen?

    Strohschneider: Also unter Colleges und Professional Schools verbergen sich ja sehr unterschiedliche organisatorische und auch kurrikulare Modelle, auch in Amerika und im anglophonen Sprachraum ohnehin. Wir machen auch nicht den Vorschlag, das deutsche Studiersystem jetzt durch ein irgendwie aus Amerika importiertes, simplizistisches Modell gewissermaßen zu substituieren, sondern wir machen den Vorschlag, an der einen oder anderen Stelle institutionelle Erfahrungen mit Experimenten zu sammeln. Und eine Professional School ist ein solches institutionelles Modell, mit dem Erfahrungen sammeln kann. Ziemlich viele private Fachhochschulen im Bereich der Betriebswirtschaftslehre sind de facto solche Professional Schools, man könnte sich fragen, ob man so etwas nicht auch im Rahmen einer staatlichen Universität betreibt. Und auch mit dem Typus des Liberal Arts College, wo man einen Bachelor macht, indem man Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften so studiert, dass man von allem etwas mitbekommt, also so, dass man eine spezialisierte Studienfachwahl nicht an den Eingang des Bachelor-Studiums, sondern an den Ausgang aus dem Bachelor-Studium, nämlich den Übergang in das Master-Studium legt, das wäre ein solches Modell, das man erproben kann und mit dem Erfahrungen zu sammeln sich lohnt und das den Alternativenreichtum, die Möglichkeiten, Entscheidungen zu treffen, für die, die im Hochschulsystem sind, das diesen Alternativenreichtum vergrößern würde.

    Maleike: Nun werden sich sicherlich dann viele Leute fragen, probieren wir nicht in Deutschland schon genug, also Stichwort Bachelor und Master. Eine große Gefahr könnte ja auch sein, dass wir den Überblick über das Angebot dann verlieren – es ist ja ohnehin jetzt schon schwierig.

    Strohschneider: Ja, womit ich gar nicht in Abrede stellen will, dass es Orientierungsbedarfe gibt und dass das System denen auch entsprechen muss, aber es ist durchaus diskutabel, ob die Unterscheidung von bisher von zwei Typen – Universität und Fachhochschule – wirklich die Orientierung geboten hat, die von dieser Unterscheidung erwartet worden ist, und ob es nicht andere Möglichkeiten gibt, über die Vielfalt der Angebote im Hochschulsystem zu informieren. Man muss sich klarmachen, dass es einen politischen Konsens in der Bundesrepublik gibt, dass eben nicht mehr drei oder fünf oder 20 Prozent eines Altersjahrgangs ein Hochschulstudium absolvieren, sondern 35, 40 oder 50 Prozent, also dass insgesamt ein Schub der Akademisierung stattfindet, der das Hochschulsystem in seiner gegenwärtigen Gestalt zu überdehnen versucht und viele Konflikte, auch solche, auf die Sie angesprochen haben mögen, mit solchen Überforderungen zu tun haben.

    Maleike: Der Wissenschaftsrat empfiehlt den deutschen Hochschulsystemen mehr Mut zur Differenzierung. In "Campus & Karriere" war das der Ratsvorsitzende, Professor Peter Strohschneider.