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"Wladimir Putin ist enorm nervös"

Boris Reitschuster, Moskauer Bürochef des "Focus", erwartet angesichts der russischen Präsidentschaftswahlen in drei Monaten noch mehr Manipulation und Druck auf die Wähler als bei den jüngsten Parlamentswahlen. Für Putin selbst sei aber das Bröckeln der eigenen Machtbasis die größte Gefahr.

Boris Reitschuster im Gespräch mit Mario Dobovisek | 08.12.2011
    Mario Dobovisek: Zwar hat Russlands Regierungspartei Einiges Russland bei der Duma-Wahl am vergangenen Sonntag kräftig an Stimmen verloren; dennoch besteht kein Zweifel an ihrer Dominanz im Land. Von Wahlbetrug spricht die Opposition und geht seitdem auf die Straße. Der Kreml wiederum lässt angeblich über 50.000 Polizisten aufmarschieren und diese auch hart durchgreifen. Es kommt zu blutigen Zusammenstößen, mit seinen Gegnern macht das Regime kurzen Prozess, erste Haftstrafen wurden bereits verhängt. – Am Telefon begrüße ich Boris Reitschuster, Leiter des "Focus"-Büros in Moskau und Autor mehrerer Bücher über Putin und Medwedew, eines mit dem wunderbaren Titel "Putins Demokratur". Guten Tag, Herr Reitschuster!

    Boris Reitschuster: Guten Tag!

    Dobovisek: Zeigt Wladimir Putin jetzt sein wahres Gesicht?

    Reitschuster: Ich würde sagen, er zeigt das schon seit Jahren. Nur schaut der Westen geflissentlich weg und will das nicht sehen. Inzwischen sehen es auch immer mehr Russen. Die Propaganda, die extrem stark war, die auch immer noch sehr stark ist, die wirkt nicht mehr so stark wie früher. Deshalb musste diesmal noch mehr gefälscht werden und deshalb gibt es diesmal wirklich Proteste, und ich denke, Wladimir Putin ist enorm nervös, hat eine riesige Angst und er hat ja die Wende in der DDR erlebt und ich fürchte, da kommen bei ihm gewisse Erinnerungen hoch in der momentanen Situation, daher vielleicht auch diese Zigtausende Soldaten und Polizisten, die er jetzt auffahren lässt.

    Dobovisek: Fürchtet Putin tatsächlich um seine Macht?

    Reitschuster: Ich denke, von seiner Persönlichkeitsstruktur her hat er ständig Angst um seine Macht. Er weiß, dass diese Wahlen nicht ehrlich sind, er weiß, dass er sich auf Propaganda stützt im Wesentlichen, er ist ein bisschen wie der nackte König, und jetzt kommen erstmals Zehntausende Leute auf die Straße und sagen, der König ist nackt. Ich glaube, er hat richtig große Angst, dabei müsste er die in Wirklichkeit gar nicht haben, denn die meisten Russen wissen nicht mal etwas von diesen Protesten. Ich habe erst gestern mit Bekannten gesprochen, 100 Kilometer vor Moskau. Die hörten von mir zum ersten Mal von dem, was in Moskau passiert, weil es in den staatlichen Medien größtenteils totgeschwiegen wird und das Internet nutzen nur sehr wenige zur Information, denn nur im Internet kann man sich vollwertig informieren und in einigen wenigen oppositionellen Blättern.

    Dobovisek: Die Opposition niederknüppelnde Polizisten, die kennen wir vor allem aus Diktaturen wie Weißrussland. Erkennen Sie überhaupt noch Unterschiede zwischen Putin und Lukaschenko?

    Reitschuster: Ich würde sagen, es war immer so, dass Putin nach ein paar Jahren das gemacht hat, was Lukaschenko vorher gemacht hat. Er war sozusagen Lukaschenko im Schafspelz, und das wird immer ähnlicher. Die Unterschiede, die werden immer geringer, und ich denke, Wladimir Putin hat jetzt ein enormes Problem und er ist mit Sicherheit auch enorm nervös, weil in weniger als drei Monaten sind ja Präsidentschaftswahlen. Es ist jetzt sehr deutlich, dass er wohl noch mehr manipulieren muss, um die zu gewinnen, noch mehr Druck ausüben wird, noch mehr Manipulation, noch mehr Druck, das heißt noch mehr Proteste. Ich würde im Moment nicht sehr gerne in seiner Haut stecken.

    Dobovisek: Putin hat allerdings vieles in der Hand, was uns im Westen interessiert: Energieressourcen. Ist es das, was den Westen dazu veranlasst, bisher die Augen zu schließen?

    Reitschuster: Ich glaube, das spielt eine sehr große Rolle. Man hat Angst, man hat Angst um die Gasversorgung, und was auch noch eine Rolle spielt – ich erlebe das immer wieder, wenn man erzählt von dem, was passiert, von dieser enormen Gewalt, davon, wie die Polizei vorgeht, von der enormen Korruption, von diesen enormen Fälschungen -, die Leute im Westen, die können es sich nicht vorstellen, sie wollen nicht daran glauben. Es geht über unsere Vorstellungswelt hinweg und man denkt immer, na ja, so schlimm kann das doch nicht sein. Ich denke, man muss, so traurig das klingt, das am eigenen Leib erlebt haben, festgenommen worden sein – ich habe das auch schon erlebt -, verprügelt worden sein von der Polizei – habe ich auch schon erlebt -, dass danach überhaupt nichts passiert, dass man völlig rechtlos ist. Wenn man das nicht erlebt hat, dann kann man es sich nicht vorstellen. Das ist vor allem bei den westlichen Führern das Problem, denke ich. Die Osteuropäer, die kennen das, auch Angela Merkel kennt das, sie hat das auch am eigenen Leib erfahren, darum ist sie da etwas nüchterner in ihrer Russland-Politik.

    Dobovisek: Jetzt fordert ja selbst der Ex-Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, inzwischen Neuwahlen. Wird Putin die Demonstranten nur noch mit Neuwahlen stoppen können?

    Reitschuster: Ich fürchte, er wird sie mit der Polizei stoppen, er wird sie mit miesen Tricks stoppen. Das Letzte, was ich gelesen habe – am Samstag sollte die Demonstration stattfinden auf dem Platz der Revolution; jetzt kommt die Nachricht, der ist plötzlich für Renovierungsarbeiten geschlossen worden. Diese ganzen Tricks, diese miesen Schummeleien, diese kleinen Gemeinheiten, das ist alles die Schule des KGB. Wenn man sich das mal anschaut, wie der KGB früher arbeitete, dann sieht man, das ist heute eins zu eins übernommen, nur etwas geschickter, und ich denke, Putin wird sich hier erst mal wieder durchwursteln und durchprügeln, Polizei und Tricks. Bei den Präsidentschaftswahlen wird es dann schon etwas schwieriger.

    Dobovisek: Aber formiert sich da aus dem spontanen Protest der vergangenen Tage allmählich eine starke Bewegung, die Putin am Ende gefährlich werden könnte, die er dann einfach nicht mehr niederprügeln kann?

    Reitschuster: Ich denke, es wird auf jeden Fall keine breite Masse werden, wie wir das in Ägypten erlebt haben, oder wie wir es in der Ukraine erlebt haben, weil da zum einen die Angst bei der Mehrzahl der Menschen zu groß ist. Man hat immer noch Stalin im Hinterkopf. Ich denke, die große Gefahr für Putin ist, dass ihm das in der eigenen Machtbasis wegbröckelt. Ich habe heute gelesen, dass von den Richtern, die jetzt die Leute hinter Gitter bringen sollen, fast die Hälfte schon sich krankgemeldet hat, weil sie Angst haben, dass man die Leute nicht mehr verurteilen konnte, weil nicht mehr genügend Richter da waren, dass man deswegen viele freilassen würde, und ich glaube, das ist die große Gefahr, dass hier die Stimmung innerhalb des Machtapparates kippt, weil dieser Machtapparat ist ausgesprochen opportunistisch. Wenn die irgendwann der Meinung sind, um Gottes willen, das könnte gefährlich werden für Putin, dann werden die als Erste das sinkende Schiff verlassen. Und diese kritische Masse, das ist für Putin die große Gefahr, die eigenen Leute, dass die den Glauben an ihn verlieren. Weniger die Straße, das werden nicht Hunderttausende werden. Das ist ein psychologischer Krieg, der hier stattfindet.

    Dobovisek: Gibt es für die eigenen Leute in der Duma, für die eigenen Leute im Machtapparat überhaupt eine Alternative zu Putin?

    Reitschuster: Im Moment gibt es die nicht. Er hat alle, die um ihn herum gefährlich werden könnten, einen Kopf kürzer gemacht und hat dafür gesorgt, dass nur sehr schwache Politiker wie Medwedew nach oben kommen. Das heißt, die Wähler erkennen das im Moment nicht, eine Alternative. Aber wenn man genauer hinschaut, dann kann man durchaus Leute erkennen, die dieses Format haben, die einfach öffentlich nicht in Erscheinung treten, weil sie totgeschwiegen werden.

    Dobovisek: Der Publizist Boris Reitschuster über die anhaltenden Proteste nach der Duma-Wahl in Russland. Vielen Dank dafür!

    Reitschuster: Ich danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.