Samstag, 20. April 2024

Archiv


Wo Schindlers Liste archiviert ist

Über die Menschen, die sie verfolgt, gefoltert und ermordeten haben, legten die Nazis im Dritten Reich Akten, Karteikarten und Listen an. Die Unterlagen, die erhalten blieben, sind im eigens eingerichteten Archiv, dem Internationalen Suchdienst – kurz ITS, untergebracht worden. Noch heute wird es von Menschen aus aller Welt aufgesucht, die nach vermissten und ermordeten Angehörigen suchen.

Von Terry Albrecht | 09.08.2012
    Unscheinbar, am Rande des Sauerlands, liegt die barocke Kleinstadt Arolsen. Gegenüber der mächtigen Schlossresidenz befindet sich das ITS. Das Kürzel steht für International Tracing Service, zu Deutsch: Internationaler Suchdienst. Die Gründung des I TS geht auf das Ende des Zweiten Weltkriegs zurück, als viele Menschen auf der Flucht ihre Heimat verloren hatten, berichtet die Leiterin der Forschungsstelle im ITS, Dr. Susanne Urban:

    "Am 9. November 1943 haben sich Vertreter von mehr als 40 Ländern getroffen (1`) dann wurde die Flüchtlingshilfeorganisation gegründet, die UNRA. Als die Alliierten in der Normandie landeten, im Juni 44, mit der Front dann eine Vorgängerorganisation des I T S mitzog, begann man zu registrieren – also alle befreiten Menschen, Zwangsarbeiter, politische Gefangene, Juden, wen auch immer. Mit Kriegsende gab es wieder eine neue Organisation. Dieses alliierte Hauptquartier hat dann weitergemacht mit der Registrierung und da saß man in Frankfurt-Höchst, mit einem von vielen Suchbüros, die gab es in jeder Zone, in verschiedenen Städten. (…) Das große Ziel war: Repatriierung, also Zurückführung in die Heimat."

    Da Arolsen nach Kriegsende nicht zerstört war und in der Mitte der vier Zonen der Alliierten lag, wurde entschieden, hier den Suchdienst einzurichten – an dem anfangs auch die Sowjetunion beteiligt war.

    "Das hier ist die zentrale Namenkartei. Das ist so etwas wie der Schlüssel zu den Dokumenten. Es ist entstanden mit Beginn des Suchdienstes, gleich 1946 hier in Arolsen – umfasst 50 Millionen Hinweiskarten zum Schicksal von 17,5 Millionen Menschen. Das gibt so einen leichten Eindruck von der Dimension, den die NS-Verfolgung hat, wobei hier nicht alle Opfer aufgeführt sind - wahrlich nicht."

    Die Historikerin Kathrin Flor führt die Besucher durch die vielen Archivräume des ITS. Die meisten Unterlagen stammen aus der Naziverwaltung. Die Alliierten haben aber auch über zwei Millionen Listen nach dem Krieg erhalten, die sie bei deutschen Firmen und Behörden anforderten.

    "Hier in diesem Archivbereich geht es um die Überlebenden von Zwangsarbeit und Konzentrationslagern (KZ); hießen damals displaced persons, also Menschen ohne Heimat. Viele Polen, Ukrainer, Menschen aus den baltischen Staaten, die häufig auch nicht zurück wollten, weil ihre Länder dann Sowjetunion (SU) wurden und weil vielen auch unterstellt wurde, dass sie mit dem Feind kollaboriert haben, selbst wenn sie als Zwangsarbeiter verschleppt wurden aus ihren Ländern. (…) Und deshalb haben viele dieser Menschen nach der Zwangsarbeit gesagt: Ne, also nur noch Auswandern."

    "Wenn sie jetzt hier den Namen nehmen Bartolin Antoin, dann sehen sie, dass er am 26. Oktober` 43 verhaftet wurde und hier ist der Hinweis Gruppe P, also Politica Prisoner. Wenn Sie jetzt in unser Archiv gehen und in den Ordner gucken, dann finden Sie den Namen da erfahren Sie dann Näheres über seine Verhaftung."

    Die Ordner sind das Herzstück des Archivs. Sie geben Auskunft über ca. neun Millionen displaced persons, Menschen die vor den Nazis fliehen mussten, aber auch über jene, die nach dem Krieg aus den ehemaligen Ostgebieten fliehen mussten. Der Suchdienst wurde vor allem für Angehörige eingerichtet, die nach den Vermissten suchten und immer noch suchen. Diejenigen, die das Schicksal am härtesten traf, waren meist die Kinder. Viele von ihnen hatten ihre Eltern verloren und konnten auch nicht Auskunft geben wo sie herkamen.

    "Was wir auch hier haben, ist ein relativ großer Bestand des SS-Vereins Lebensborn. Ziel des Lebensborns war es, die Geburtenrate arischer Kinder zu erhöhen. Am Anfang wurden Frauen, die nicht verheiratet waren, unterstützt, dass sie ihre Schwangerschaft nicht abbrechen, sondern, dass sie ihr Kind dann so bekommen. Später endete es damit, dass in den besetzten Gebieten dann blonde und blauäugige Kinder entführt wurden und in Kinderheime kamen und zur Adoption freigegeben wurden, deutsche Namen erhielten, arisiert wurden sozusagen."

    Für Forschungszwecke gab es früher nur geringe Arbeitsmöglichkeiten im ITS. In den letzten Jahren hat sich das geändert. Die Zahl der aus persönlichen Gründen Suchenden nimmt ab, das Interesse der Zeitgeschichtsforschung zu. Wurde früher der Suchdienst vor allem wegen Entschädigungszahlungen und Rentenansprüchen angerufen, so steht heute die wissenschaftliche Recherche im Vordergrund der Besucherinteressen. In diesem Jahr scheidet das Internationale Rote Kreuz als einer der Träger des Suchdienstes aus. Der Bund übernimmt die Finanzierung. Damit einher geht eine weitere Öffnung der Archive des Suchdienstes für die Forschung, sagt die für die wissenschaftliche Aufarbeitung am ITS verantwortliche Historikerin Dr. Susanne Urban.

    "Wenn man mit Forschern spricht, war der Zugang ein Nadelöhr. Es gab nur wenige, die an Akten kamen. Viele bekamen nur Akten ausgewählt, konnten nicht vor Ort arbeiten – was für einen Forscher auch nicht wirklich Forschen ist. Wenn jemand für mich Akten auswählt, ist das nicht mein Blick, nicht meine These. Letztendlich kam dann auf hohen internationalen Druck diese Öffnung zustande. Es wurde viele Jahre darum gerungen und der ITS mit einer sehr liberalen Zugangsberechtigung für die Forschung und Pädagogik geöffnet."

    So gibt es jetzt zum Bestand von Lebensborn ein Findbuch, mit dem jeder arbeiten kann. Neben den neu eingerichteten 20 Leseplätzen für Wissenschaftler und jeden Interessierten, wo alle Ordner eingesehen werden können, existieren auch Kooperationsprojekte mit Schulen. Schüler können so mit Hilfe des Internationalen Suchdienstes zum Beispiel die Schicksale von Juden, Roma und Sinti oder Zwangsarbeitern in ihren Gemeinden aufarbeiten. Und auch die Geschichten der wenigen, die in der NS-Zeit Verfolgten zu helfen bereit waren, sagt Kathrin Flor.

    "Hier haben sie die berühmteste Liste im Archiv des ITS: das ist Schindlers Liste. Kennen Sie vom gleichnamigen Film. Das ist das Arbeitskommando von Oskar Schindler mit den 700 männlichen Häftlingen und 300 weiblichen Häftlingen. Also die komplette Namensliste von Schindlers Liste, die sie hier finden. (13`36) Aber ich sag auch immer wieder, Schindlers Liste ist eine Liste und wenn sie hier einmal durch den Raum blicken, dann haben wir tausende dieser Listen. Und jede dieser Listen erzählt eine eigene Geschichte. Da steckt genauso viel hinter wie in diesem Film, der jetzt bekannt ist – es ist ein Beispiel von vielen und sie könnten hier sehr sehr viele Geschichten über sehr sehr viele Menschen erzählen."

    Weitere Informationen:

    Internationaler Suchdienst - ITS Arolsen