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Wo waren Wladimir und Estragon im Zweiten Weltkrieg?

Samuel Becketts "Warten auf Godot" ist vielleicht das berühmteste Theaterstück des 20. Jahrhunderts. Das ist erstaunlich angesichts eines Schauspiels, in dem angeblich nichts passiert, die Akteure eher Typen sind als Charaktere und alle Bezüge zur Realität auf ein Minimum reduziert wurden. Der französische Theaterhistoriker Valentin Temkine hat das Stück nun historisch eingeordnet.

Von Jochen Schimmang | 23.06.2008
    Zu der Flut von Post, die Samuel Beckett 1969 nach der Auszeichnung mit dem Nobelpreis erhielt, gehörte auch die Karte eines real existierenden Monsieur Georges Godot aus Paris, der sein Bedauern darüber ausdrückte, dass er Beckett so lange habe warten lassen. Monsieur Godots Karte war nur für den Autor bestimmt. Wäre sie aber publik geworden, so hätte er sicher sein können, dass sein subtiler Scherz in großen Teilen der Welt verstanden worden wäre.

    "Warten auf Godot" ist vielleicht das berühmteste Theaterstück des 20. Jahrhunderts. Das ist erstaunlich angesichts eines Schauspiels, in dem angeblich nichts passiert, die Akteure eher Typen sind als Charaktere und alle Bezüge zur Realität auf ein Minimum reduziert wurden.

    Das ist jedenfalls in verschiedenen Varianten die Lesart, die sich durchgesetzt hat, in der Theorie wie auf der Bühne. Wladimir und Estragon werden in der Regel als Clowns oder Landstreicher inszeniert, und das Stück spielt im Nirgendwo oder Überall. Es zeigt die metaphysische Einsamkeit des Menschen; es zeigt das Absurde der menschlichen Existenz; es enthält eine positive oder negative Theologie: jeder mag sich da die ihm genehme Lesart aussuchen.

    Nur historisch ist das Stück bisher nicht gelesen worden, obwohl Bertolt Brecht schon früh dem Mailänder Regisseur Giorgio Strehler erzählte:
    "Weißt du, es gibt da eine Sache, die ich gern wüsste. Ich würde Beckett gern fragen, wo Wladimir und Estragon während des Zweiten Weltkriegs waren."

    Genau auf diese Frage versuchte im Jahr 2002 der französische Theaterhistoriker Valentin Temkine in der Zeitschrift "Ubu" zu antworten. Sein Text ist im Anhang des vorliegenden Bandes abgedruckt. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, ihn an den Anfang zu stellen, denn schließlich ist er der Auslöser der dann folgenden Diskussion gewesen. Der Text heißt "Das Puzzle ist vollständig oder Beckett neu gelesen".
    Beckett begann Godot 1948 zu schreiben, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Er selbst war 1942 als Angehöriger einer durch einen Arbeiterpriester verratenen Résistance-Gruppe mit seiner Frau ins Vaucluse nach Roussillon geflohen, also in die damals noch unbesetzte Zone Frankreichs, und arbeitete bei zwei Weinbauern.

    Im November 1942 allerdings überschritten die Deutschen die Demarkationslinie, und es gab keine unbesetzte Zone mehr. Allein ein an Italien grenzender Streifen war nicht von den Deutschen besetzt, sondern von den Italienern, die bekanntlich lange Zeit die nationalsozialistische Politik gegenüber den Juden nicht geteilt haben.

    Das ist grob der biographisch-historische Hintergrund, den Temkine aufzeigt. Im ersten Manuskript hieß Estragon noch Lévy, ein Faktum, das zwar in Knowlsons Beckett-Biographie von 2001 erwähnt, aber nicht weiter reflektiert wird. Temkine kommt nun zu folgender Lesart, die ich verkürzt wiedergebe, ohne die Prämissen entfalten zu können, aus denen sie sich herleiten: Das Stück spielt im Frühjahr 1943. Wladimir und Estragon sind französische Juden aus dem 11. Pariser Arrondissement, die nach der großen Razzia vom 15. August 1941 in die freie Zone geflüchtet sind. Sie gehörten einer eher gebildeten Schicht an, Estragon war ein Dichter. Sie haben sich dann wie Beckett seinerseits als Landarbeiter im Weinbau bei dem Bauern Bonnelly in Roussillon verdingt.

    Der Name des Bauern und des Ortes werden explizit im französischen Originaltext genannt, ebenso wie der des Vaucluse. In der deutschen Fassung wurde - mit Becketts Einverständnis - aus dem Vaucluse der Breisgau, aus Roussillon Dürkweiler und aus dem Bauern Bonnelly der Bauer Guttmann. Nachdem die Deutschen die Demarkationslinie überschritten haben, sind Wladimir und Estragon in Lebensgefahr und versuchen, in die italienische Zone zu kommen. Dazu brauchen sie einen Schleuser, einen Monsieur Godot, auf den sie in ihrem Versteck warten und der natürlich seinerseits alle Vorsichtsmaßnahmen treffen muss. Gefahr geht zum Beispiel von Pozzo aus, dem typischen Angehörigen der Bourgeoisie und Antisemiten, der sich zur Verschönerung und ideologischen Auspolsterung seiner Weltsicht den Intellektuellen Lucky hält.

    Diese Lesart wird nun in den Texten des vorliegenden Bandes weiter ausgeführt, von Temkines Frau, ebenfalls Theaterhistorikerin und seinem Enkel, der Philosophie lehrt, von dem Hermeneutiker François Rastier und von Denis Thouard, Forschungsdirektor am CNRS. Die Beiträge entgehen nicht immer der Gefahr der Redundanz und der Herausbildung eines neuen Dogmas. Sie sind dennoch ab sofort unverzichtbar für jeden, der sich mit Beckett und insbesondere mit Godot beschäftigen will, und sie wollen auch nicht die existierenden Lesarten des Stücks aus der Welt schaffen. Sie wollen nur das Verhältnis von metaphysischer und historischer Lesart neu bestimmen. François Rastier drückt es so aus:

    "Wenn metaphysische und historische Lektüre den Anschein erwecken, sich gegenseitig zu blockieren, so sind sie deshalb noch lange nicht antinomisch. Aber das traditionelle Herrschaftsverhältnis zwischen beiden ist auf den Kopf gestellt, da sich das Empirische im Transzendenten und das Historische im Metaphysischen versteckt."

    Eben dieses Verhältnis möchten die Autoren des Bandes vom Kopf auf die Füße stellen, und das gelingt ihnen auch. Trotz der teilweisen Redundanzen sind alle Beiträge eine faszinierende Lektüre, für Literaturwissenschaftler, für Bühnenpraktiker und für alle Beckett-Leser. Und letztlich wird auch das Geheimnis gelüftet, warum "Warten auf Godot" ein so erfolgreiches Stück geworden ist, bekanntlich nicht zuletzt bei Theatergruppen in Gefängnissen.

    Die Frage nach dem Absurden war sicher einer der metaphysischen Renner des 20. Jahrhunderts. Auf der Ebene der historischen Fakten war dessen Signatur aber vor allem Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung. Daran hat sich auch im neuen Jahrhundert wenig geändert, und davon spricht das Stück, nicht hier und da zwischen den Zeilen, sondern fortlaufend und sehr deutlich. Und wir wissen jetzt, wo Wladimir und Estragon im Zweiten Weltkrieg waren.

    Pierre Temkine u. a.: Warten auf Godot. Das Absurde und die Geschichte.
    Aus dem Französischen von Tim Trzaskalik. Matthes & Seitz, Berlin