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Wo wirtschaftliche Not Gewalt gebiert

Zwei Jahre nach Beginn der Arabellion stehen die Staaten der arabischen Welt vor großen Herausforderungen. Nicht nur in Ägypten, Tunesien oder Libyen mehren sich unter den wirtschaftlich weiterhin Benachteiligten die Anzeichen ideologisch-krimineller Militanz.

Von Kersten Knipp | 29.12.2012
    16 tote Grenzbeamte, erschossen, als sie gerade das im Ramadan übliche abendliche Fastenbrechen feierten. Die Terroristen töteten sie durch einen Überraschungsangriff, um dann weiter an die nördliche Spitze des Sinai vorzudringen und von dort aus israelisches Territorium zu beschießen. Der Anschlag vom 5. August dieses Jahres führte den Ägyptern deutlich vor Augen, wie ungewiss die politische Zukunft ist. Denn er fand vor dem Hintergrund sozialer und gesellschaftlicher Probleme statt, die überall in Ägypten gegeben sind, sich auf dem nördlichen Sinai aber in besonders zugespitzter Form zeigen. Denn der Sinai, so der Politologe und Publizist Khaled Hroub, ist die am wenigsten entwickelte Region ganz Ägyptens.

    "Seit 1979 hat Ägypten den Sinai vollkommen vernachlässigt. Am Anfang lebten dort nur sehr wenige Menschen. Aber jetzt sind es einige Hunderttausend. Der ägyptische Staat kümmert sich um diese Gegend nicht, und er unterstützt ihre Bewohner nicht. Er hat nichts für sie getan."

    Die Unterentwicklung hat konkrete historische Gründe: Der ägyptisch-israelische Friedensvertrag des Jahres 1979 gestand Ägypten nur eine sehr beschränkte militärische Präsenz auf dem Sinai zu. So wollte es die israelische Sicherheitsdoktrin. Ägypten hätte das Gebiet im Kriegsfall also nicht sichern können. Das bewirkte, dass der Staat das Gebiet vernachlässigt. Er investierte dort nicht, weder in die Infrastruktur noch in die dort lebenden Bürger. So entschieden die sich für zwei naheliegende Optionen: erstens für den Schmuggel in den Gazastreifen als Lösung ihrer wirtschaftlichen Probleme. Und zweitens für einen besonders konservativen Islam, der ihre Not religiös auffing – aber fließende Übergänge zum Terrorismus hatte. Khaled Hroub:

    "Während der letzten 30 Jahre ist aufgrund dieser Vernachlässigung enorme Frustration, enorme Wut entstanden, die sich nun gegen die ägyptische Regierung richtet. Die Leute haben den zutreffenden Eindruck, dass sich niemand um sie kümmert. Weder die israelische, noch die ägyptische Regierung. Die Leute wurden alleine gelassen. Und darum gibt es nicht nur ein Sicherheitsvakuum. Es gibt auch ein politisches und Sicherheitsvakuum. In einer solchen Situation entstehen radikale Strömungen unterschiedlichster Art. Und alle richten sie sich gegen die Regierung."

    Doch nicht nur auf dem Sinai, sondern in ganz Ägypten ist die wirtschaftliche Situation ausgesprochen schwierig: 40 Prozent der Ägypter leben unter der Armutsgrenze, verfügen also über weniger als zwei Dollar am Tag. Knapp zehn Prozent der Männer und ein Viertel der Frauen sind arbeitslos. Von den Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren haben fast 80 Prozent keine Arbeit. Rund 16 Milliarden US-Dollar gibt der Staat jährlich für seine Sozialhilfe aus.

    Was das bedeutet, konnte man im September dieses Jahres sehen, als es in der arabischen Welt zu Protesten gegen den Film "Die Unschuld der Muslime" kam, der in den Augen der Demonstranten den Propheten Mohammed beleidigt. An ihm beteiligten sich auch Ägypter. Und es ist kein Zufall, so der Politologe Gamal Soltan vom "Al-Ahram Center for Political and Strategic Studies", das daran vor allem Angehörige aus einer bestimmten Bevölkerungsschicht beteiligt waren.

    "Es handelt sich überwiegend um angehörige der Unterschichten. Man muss aber sagen, dass die Versuche, diese Leute aufzuwiegeln, in quantitativer Hinsicht nicht sonderlich erfolgreich waren. In Kairo und den anderen Städten waren wirklich sehr wenige Leute auf den Straßen. Aber es ist natürlich ein moralisch sehr sensibles Thema, und dafür gehen die Leute auf die Straße. Aber es sind im Wesentlichen Angehörige der unteren Klassen."

    Diese Menschen werden die Regierung vor erhebliche Herausforderungen stellen. Ihnen muss es künftig besser gehen – sonst gehen sie womöglich wieder auf die Straße. Wirtschaftliche Hoffnungen knüpfen Politiker darum vor allem an drei Sektoren: Tourismus, Solarenergie und Landwirtschaft, hier insbesondere Bioprodukte für den europäischen Markt. Doch noch stehen diese Pläne an Anfang. Ähnlich sieht es in Tunesien aus. Als Staatspräsident Moncef Marzouki zum zweiten Jahrestag der Revolution dem Ort Sidi Bouzeid einen Besuch abstattete, wo sich vor zwei Jahren der Straßenhändler Mohammed Bouazizi verbrannt und damit die Revolution ausgelöst hatte, wurde er mit Steinen beworfen. Die Protestierenden machten ihn dafür verantwortlich, dass sich für sie seit Ausbruch der Revolution nichts geändert habe. Die Regierung stehe vor enormen Problemen, so der Politikwissenschaftler Radwan Mahmoudi

    "Die Regierung versucht es Investoren so leicht wie möglich zu machen, Geschäftspartner aus allen Teilen der Welt nach Tunesien zu holen. Doch dem stehen derzeit noch die politischen Unruhen entgegen – die Demonstrationen und Streiks der Gewerkschaften. Es ist schwer, Investoren in ein Land zu locken, das eine politische Übergangszeit durchläuft. Investoren sind sehr vorsichtig. Sie warten, bis die Lage stabil ist."

    Nicht nur in Ägypten und Tunesien, auch in Libyen zeigen sich Anzeichen einer wirtschaftlich bedingten politisch-ideologischen Militanz. Auch im Norden Malis, in dem der Staat traditionell schwach ist, wächst ein ideologisch-kriminelles Gemisch, in dem religiöser Extremismus oft Hand in Hand mit Schmuggel, Entführung und Erpressung einhergeht. Die Staaten der arabischen Welt sind gefordert. Not gebiert Gewalt.

    Serie im Überblick:
    Clash of Cultures - Neue Kulturkonflikte