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Wölfe und Religionen
Ein Tier als Metapher für das Böse

Der Wolf wird in Deutschland wieder heimisch. Manche sind fasziniert von dem Raubtier, andere haben Angst. Ursachen für beides finden sich auch im kollektiven Gedächtnis: Denn der Wolf ist nicht nur in Märchen der Feind des Menschen, sondern auch in der Bibel und in altnordischen Mythen.

Von Christian Röther | 23.08.2019
Ein aggressiver Wolf aus Bronze des Künstlers Opolka symbolisiert einen Mitläufer während einer Kunstaktion. Mit der Kunstaktion will der Künstler gegen rechten Hass und Gewalt protestieren.
Gefürchtet und verehrt: Um den Wolf ranken sich viele Sagen und Geschichten - auch biblische. (picture alliance/Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa)
Er heult wieder. Zwar noch kaum in den Wäldern Mitteleuropas, dafür umso lauter im kulturellen Gedächtnis der Deutschen. Denn da hat der Wolf sich festgebissen, schon seit Jahrtausenden. Für Germanen und andere Nordeuropäer war die Nähe der Wölfe offenbar so prägend, dass sie die Raubtiere in ihre Mythen aufnahmen. Etwa den Wolf Sköll, "Schatten". Er verfolgt die Sonne.
"Wenn die Sonne nicht immer vor ihnen fliehen müsste, dann würde die Sonne überhaupt nicht ihren Lauf am Himmel auf sich nehmen. Also das gehört alles zusammen darin."
Die Begleiter von Odin
Utz Anhalt ist Historiker und beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Menschen und Wildtieren. In den alten nordischen und germanischen Mythen stand der Wolf nicht nur für Gefahr, erklärt Anhalt. Sondern das Wildtier wurde auch verehrt: wie Geri und Freki, die Begleiter des höchsten Gottes Odin.
"Die germanische Mythologie selber ist voll mit Wolfsfiguren. Originalquellen kennen wir aus der altgermanischen Mythologie relativ wenig. Was aber deutlich wird dabei ist, dass der Wolf ein Vorbild der Krieger ist."
Das Relief des Andreas-Steins zeigt eine Szene der Ragnarök-Sage vom Untergang der Götter: Der Gott Odin wird vom Wolf Fenir gefressen, ein Rabe sitzt auf seiner Schulter. Das Relief wurde ca. 1000 v. Chr. von Wikingern gefertigt und stammt von der Isle of Man, England.
Das Relief des Andreas-Steins zeigt eine Szene der Ragnarök-Sage vom Untergang der Götter: Der Gott Odin wird vom Wolf Fenir gefressen. (imago stock&people/UIG)
"Kämpfen wie ein Berserker", das sagen manche heute noch. Berserker, das waren vermutlich germanische Krieger, die sich Wolfs- und Bärenfelle überwarfen. Sie heulten und brüllten, um ihren Feinden Angst zu machen.
"Es war eine Furcht dabei. Aber Furcht, Ehrfurcht, Verehrung. Sie wollten ja das Verhalten dieser Wölfe annehmen. Das heißt, sie identifizierten sich über die Wölfe. Und der Wolf stand eben auch für Loyalität. Also Loyalität in der Gruppe, Ehrlichkeit, Treue und er galt auch als sehr intelligent."
"Wolfgang - der mit dem Wolf in den Kampf geht"
Die Ehrfurcht vor dem Wolf zeigt sich bis heute in alten germanischen Namen. Wie Wolfgang: "der mit dem Wolf in den Kampf geht". Oder Rudolf: "der ruhmreiche Wolf".
Ortswechsel, von Nordeuropa in den Nahen Osten. Auch hier spielen Wölfe in Mythen eine wichtige Rolle, erklärt Historiker Utz Anhalt:
"Das waren ebenfalls Hirtenkulturen, die aber in einem viel schärferen Konkurrenzkampf zum Wolf standen. Sie hatten genau die Tiere domestiziert – Ziege und Schaf – die die Hauptbeute des Wolfes darstellen."
Der Wolf als Kulturbringer?
So streiten Menschen und Wölfe um die Nahrung. Doch das war nicht immer so. Weltweit finden sich Sagen, in denen der Wolf dem Menschen das Jagen beibringt. Hinweise darauf, dass sich Menschen tatsächlich bei Wolfsrudeln abgeschaut haben könnten, wie man in der Gruppe ein Tier erlegt. Der Wolf als Kulturbringer? Doch mit diesen Gemeinsamkeiten ist es vorbei, als der Mensch vom Jäger zum Hirten wird.
"Damit wurde dieser 'Bruder', wie er in vielen Jägerkulturen heißt – dieses Tier, was ganz offensichtlich ganz ähnliche Verhaltensweisen hat wie der menschliche Jäger selber und deswegen als so eine Art seelischer Verwandter gilt – der wurde jetzt zum Feind. Das heißt: Der wurde jetzt zum Einbrecher, der jetzt in die Herde, die der Hirte als seinen eigenen Besitz ansah, eindrang und sich dort bediente."
Schutz durch den "guten Hirten"
Dieser Konflikt zwischen Hirten und Wölfen geht ein in das Judentum und das Christentum – und verbreitet sich so gewissermaßen um die ganze Welt. Der "gute Hirte" wird zum Symbol für Gott. Seine Schafe sind die Menschen, die an ihn glauben.
"Dieses Symbol des Hirten und des Schafes beinhaltet im Grunde auch das Bild von einem Wolf, der als Konkurrent oder als Feind in diesem Szenario auftaucht."
Das Mosaik im Kloster Kykkos auf Zypern zeigt Jesus als "guten Hirten" mit einem Lamm auf den Schultern
Jesus als "guter Hirte" mit einem Lamm auf den Schultern (imago/Werner Otto)
Rolf Adler ist Umweltbeauftragter der evangelisch-lutherischen Landeskirchen Braunschweig und Hannover. Außerdem ist er Pastor und Jäger.
"In der Bibel wird der Wolf oft herangezogen als Warnung vor gefährlichen oder risikoreichen Situationen, um Menschen wachzurütteln und Menschen aufmerksam zu machen", sagt Adler.
Bergpredigt: Wolf wird zum Sinnbild des Bösen
Etwa in der Bergpredigt. Da werden falsche Propheten mit reißenden Wölfen verglichen, die sich als Schafe verkleidet haben.
"Ich finde, man muss die Bibel kritisch lesen an dieser Stelle", sagt Adler. "Der Wolf wird hier für eine bestimmte Bildersprache oder zur Unterstreichung von ganz bestimmten Aussagen oder Lehren herangezogen und manchmal auch missbraucht."
Diese Bildersprache hat im christianisierten Mitteleuropa praktische Folgen. Der Wolf wird zum Sinnbild des Bösen, erklärt Historiker Utz Anhalt.
"Dem Wolf geht es jetzt an den Kragen. Nicht nur in der direkten Konkurrenz, sondern auch überhöht symbolisch. Aus dem fünften, sechsten Jahrhundert sehen wir dann, dass der Teufel als 'Erzwolf' bezeichnet wird. Also der schlimmste Wolf von allen ist dann jetzt der Teufel. Im Hochmittelalter werden dann Wolfsmetaphern immer so als moralische Ermahnung für schlechtes Verhalten gesehen. Also sei es, dass dann Mönche als Wölfe gezeigt werden, die Glücksspiel spielen", so Anhalt.
Gift, Gruben und Grausamkeit
Negative menschliche Eigenschaften werden auf die Wölfe projiziert. Ein Beispiel dafür: Werwölfe. Männer, die sich angeblich mit dem Teufel verbünden, in Wölfe verwandeln und dann Verbrechen begehen. Als zu Beginn der Neuzeit in Europa die vermeintlichen Hexen brennen, werden auch Männer als Werwölfe ermordet.
Bis heute spukt der Werwolf durch das Horrorgenre. Seinen Anfang hat dieses Motiv vielleicht schon bei den germanischen Berserkern. Die frühneuzeitlichen Werwolf-Prozesse verbesserten den Ruf der tatsächlichen Wölfe natürlich nicht, sagt Utz Anhalt.
Adolphe François Pannemaker (1822–1900), Rotkäppchen (nach Gustave Doré), 1862, Lithographie auf Velin
Adolphe François Pannemaker (1822–1900), Rotkäppchen (nach Gustave Doré), 1862, Lithographie auf Velin (Wallraf-Richartz-Museum Köln)
Zugleich beginnt dann in dieser frühen Moderne auch der totale Krieg gegen den Wolf. Wenn man sich heute dieses Vernichtungsinstrumentarium dieser Wolfsjagden anguckt, dann sieht das nicht so aus, als ob es da jetzt um die Jagd auf ein Tier gegangen wäre, sondern als ob es da ein Krieg gewesen wäre, der gegen das Böse geführt wurde."
Mit Gift, Gruben und Grausamkeit gehen die Mitteleuropäer schon lange gegen Wölfe vor. Die Feuerwaffen machen es dann möglich, den Wolf aus vielen Regionen komplett zu vertreiben. Als die Brüder Grimm im 19. Jahrhundert alte Volksmärchen sammeln – "Rotkäppchen" oder "Der Wolf und die sieben jungen Geißlein" – da leben in deutschen Landen nur noch vereinzelte Wölfe. In den Märchen stehen sie – wie in der Bibel – für Verschlagenheit, Betrug und Gefahr. Das wurde ihnen zum Verhängnis.
Wolfsbilder hallen bis heute nach
Diese Wolfsbilder hallen bis heute nach – und treffen nun in Deutschland wieder echte Wölfe.
"Wir sind an einem Sonntagvormittag – wollten wir einen Besuch machen und waren mit dem Auto unterwegs. In der Nähe von Süttorf, einem kleinen Dorf, haben wir dann auf dem Acker einen Wolf stehen sehen, ungefähr auf hundert Meter Entfernung", sagt Adler.
Der Pastor und Jäger Rolf Adler erinnert sich an eine Begegnung mit einem freilebenden Wolf, ganz in der Nähe von seinem Wohnort in der Lüneburger Heide.
Ein Protestschild "Wolf Nein Danke" steht am 28.09.2016 auf einer Wiese an der Autobahn A27 bei Verden in Niedersachsen.
Protest gegen Wölfe in Niedersachsen (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
"Der hat versucht abzuschätzen, wer wir sind und was wir machen", so Adler. "Und als er merkte, dass wir da keine Gefahr für ihn darstellten, hat er sehr neugierig herüber geschaut und hat sich dann aber langsam auf seinen Weg gemacht und ist dann gemächlichen Schrittes weitergezogen. Also er ist nicht geflüchtet."
Der Wolf als "Öko-Gott"
Verliert der Wolf seine Scheu vor den Menschen? Immer wieder gibt es Begegnungen, die diese Vermutung nahelegen. Und auch viele Menschen haben ihre Scheu vor dem Wolf verloren. Die Umweltbewegung habe Spuren hinterlassen, sagt Historiker Utz Anhalt.
"Das ist so dieses romantische Bild vom Wolf, wo der Wolf dann so als so eine Art 'edler Wilder', als so ein Öko-Gott dann frei durch die Wälder streift. Das ist ein ähnlich verzerrtes Bild."
Aber auch positive Wolfsbilder sind nichts komplett Neues. In der Sage von Romulus und Remus werden die beiden Menschenkinder von einer Wölfin gesäugt und gründen später Rom: also eine Wölfin als Geburtshelferin der europäischen Zivilisation. Man könnte aus der halben Welt ähnliche Sagen zusammentragen. Heute konkurriert der böse Märchenwolf mit niedlichen Wölfchen aus Kindergeschichten – und diversen anderen Wolfsfiguren.