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Woher kam die Engelsstimme?

Musikgeschichte. – Der berühmteste Kastrat des 18. Jahrhunderts war wohl Farinelli. An seiner erhalten gebliebenen Leiche wollen jetzt Stimmforscher untersuchen, wie der Sänger zu seiner von Zeitgenossen gerühmten Stimmgewalt kam. War es nur die Kastration, die ihm die Jungenstimme erhielt, oder gab es auch natürliche körperliche Voraussetzungen?

Von Thomas Migge | 31.08.2006
    Sang so Carlo Broschi, bekannt als Farinelli? Muss man sich so seine Stimme vorstellen? Der von 1705 bis 1782 lebende Sopranist war ein Kastrat. Im zarten Knabenalter ließ sein Vater durch eine kleine Operation die Keimdrüsen der Hoden ausschalten. Das Wunder stellte sich ein und die ungewöhnlich hohe Stimme des Kindes wurde in späteren Jahren immer höher und kräftiger und Farinelli sollte der beste und reichste Kastrat des 18. Jahrhunderts werden.

    Einer von vielen, von tausenden Kastraten. Doch nur das Grab von Carlo Broschi alias Farinelli ist komplett erhalten geblieben. Die auf dem Hauptfriedhof von Bologna untergebrachte Gruft wurde vor einigen Tagen geöffnet. Mediziner aus Pisa, Bologna und dem britischen York wollen, unterstützt von Musikwissenschaftlern, das Skelett des Kastraten wissenschaftlich untersuchen. Sie wollen der Frage nachgehen, wie es möglich war, dass Farinelli so hoch singen und seine Töne so lang anhalten konnte - ein Stimmwunder, das von seinen Zeitgenossen ausführlich beschrieben wurde. Dazu der Anthropologe und Mediziner Francesco Vitalini von der Universität Bologna:

    "Unsere Untersuchungen sollen herausfinden, ob die ungewöhnlichen stimmlichen Qualitäten dieses Sängers durch bestimmte körperliche Vorgaben determiniert wurden. Vorgaben, die unter Umständen durch die Kastration stimuliert oder beschleunigt wurden. Vielleicht war Farinelli auch nur ein durch seinen ganz natürlichen Körper gegenüber anderen Kastraten im Vorteil. Nur eine Skelett- und Knochenanalyse kann Antworten auf diese Fragen geben."

    Francesco Vitalini und seine Kollegen untersuchen nun das Skelett des Sängers. Sie messen seinen Brustkorb und die Größe seines Mundes. Brustkorb, Kehlkopf und der Mundbereich werden auch geröntgt. Mit den auf diese Weise gesammelten Daten wird ein Computer gefüttert. Brust und Kopf Farinellis werden dann als dreidimensionales Computermodell rekonstruiert. Ein Modell, mit dessen Hilfe es möglich sein wird, die für die Tonstärke ausschlaggebende Lungenkapazität der Brust - die für einen Sängern nichts anderes ist als ein Klangkörper - zu ermitteln. Die Daten über Brustresonanz und Lungenkraft liefern entscheidende Hinweise über das faszinierende Timbre eines Kastraten wie Farinelli, erklärt Musikwissenschaftler und Musiker Antonio Florio:

    "Das Volumen der Brust und der Lungen und auch des Mundbereichs liefern die wohl wichtigsten Daten, um die Kraft und Höhe einer Kastratenstimme zu erklären. Die an dem Projekt beteiligten Wissenschaftler erstellen deshalb ein Computermodell des gesamten Oberkörpers des Sängers. Mit einer speziellen Software wird dieser virtuelle Oberkörper in Bewegung gesetzt. Mit Lungen und Stimmbändern, deren Größe, deren Ausmaß wir anhand des untersuchten Skeletts ermitteln können."

    Wie bereits bei der Erforschung altägyptischer Mumien wird auf diese Weise eine Rekonstruktion eines Toten erstellt. Aber nicht, um sein Aussehen und den Grund seines Todes zu ermitteln, sondern um seine Stimme zu rekonstruieren. Im Unterschied zu den vor einigen Monaten ans Tageslicht geholten und untersuchten Knochenresten der Medicifürsten in Florenz wird im Fall Farinellis auf Knochensubstanzanalysen verzichtet: die Krankheiten, an denen der Kastrat litt und die der Grund seines Todes waren, interessiert die Stimmforscher nicht. Sie suchen nur nach dem Warum seiner berühmten Stimme.