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Wohlstand macht müde

Dass Sattheit träge macht, ist eine alte Erkenntnis. Der Mär, dass aus wirtschaftlichem Wachstum allein automatisch Wohlstand resultiert, tritt auch Meinhard Miegel in seinem neuen Buch "Epochenwende" entgegen. Der Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn sieht das Ende der wirtschaftlichen Vorherrschaft des Westens heraufdämmern.

Von Marion Koerdt | 26.09.2005
    "Ich möchte gemessen werden an einer einzigen Frage: An der nämlich, ob es der Regierung gelungen ist, die Arbeitslosigkeit massiv zu senken. Daran wollen wir gemessen werden."

    "Wir sind sehr ökonomisch geworden, in all dem, was wir tun und das ist ein Problem dieser Gesellschaft. Man kann für eine gewisse Zeit eine Gesellschaft sehr ökonomisch führen, und die enormen Erfolge, die wir im Bereich der Ökonomie in den vergangenen fünfzig, sechzig Jahren gehabt haben hat etwas damit zu tun, dass wir uns ganz konzentriert haben auf das Wirtschaftliche. Aber das hat aber auch seinen Preis gehabt. Und diesen Preis beginnen wir nun zunehmend zu spüren. Denn die Gesellschaft hat gelitten unter dieser einseitigen Ökonomisierung. Hier besteht Korrekturbedarf."

    Und den möchte Meinhard Miegel in seinem Buch "Epochenwende" benennen. In vier Kapiteln beschäftigt sich der Autor mit den Krisen, in denen sich die westlichen Staaten seiner Meinung nach befinden. Seine Diagnose: Durch den Wohlstand sei eine Erschlaffung der Kräfte zu erkennen. In den ersten zwei Kapiteln widmet sich der Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn den wirtschaftlichen und politischen Aspekten dieses Themas.

    Schließlich verbindet er diese mit einem mentalitätsgeschichtlichen Entwurf der westlichen Gesellschaften. Die Vergangenheit habe dem Westen - Miegel fasst ihn unter dem Begriff frühindustrialisierte Länder zusammen- auf der einen Seite einen vorher nie gekannten Wohlstand gebracht. Andererseits habe diese Entwicklung die Menschen in vielen Bereichen ärmer werden lassen. Miegel schreibt.

    "Verblendet von dem historisch einzigartigen Wohlstandsniveau und im Vertrauen auf das alles durchdringende Geflecht von Zwangssolidariäten, meinen viele in den frühindustrialisierten Ländern, auf die Gemeinschaft nicht mehr angewiesen zu sein und ihr Leben nach höchst individuellen Vorstellungen gestalten zu können. Ein Frank Sinatra hat es ihnen tausendmal vorgesungen: I did it my way."

    Die Konsequenzen dieses egoistischen, lediglich auf materiellen Werten basierten Verhaltens: Hohe Scheidungsraten, hohe Singleraten, niedrige Geburtenraten. Mit fatalen Folgen für die Sozialsysteme: Denn die Gesellschaft altert und niemand rückt nach. Die gesetzliche Alterssicherung - wie wir sie jahrzehntelang in Deutschland kannten- ist finanziell nicht mehr tragbar. Das gilt auch für den Gesundheitsbereich und die Arbeitslosenversicherung.

    Doch Miegel geht bewusst über die deutschen Ländergrenzen hinaus, um nachzuzeichnen, dass der Westen insgesamt seine Vorteile verspielt hat. Das Jammern über die wirtschaftliche Krise sei nicht allein ein deutsches Phänomen. Aber um genaue Gesellschaftsanalysen der einzelnen westlichen Länder geht es ihm nicht. Gleich in seiner Vorbemerkung schreibt er.

    "Für den Westen geht ein goldenes Zeitalter zu Ende. Jetzt tritt er ein in ein eisernes, das allerdings ehrlicher, belastbarer und dauerhafter sein könnte als jenes goldene, das so golden oft gar nicht war. Und lebenswert ist auch die kommende Epoche! Allerdings verlangt sie stärker als die jetzt zu Ende gehende die Anspannung aller geistig-sittlichen Kräfte. Der überbordende materielle Wohlstand hat diese Kräfte erschlaffen lassen."

    Während in den vergangenen Jahrhunderten der Westen nach Expansion und Wachstum strebte, müsste er sich, so der Autor, nunmehr neuen Tugenden unterwerfen: Bescheidenheit und materieller Bedürfnislosigkeit. So wie sie auch im frühen Christentum verstanden worden sind. Erst mit der Reformation setzte ein Wertewandel in Europa ein, so Miegel.

    "In seiner Spätzeit schließlich sieht Luther in der Erfüllung innerweltlicher Pflichten den einzigen Weg, um Gott wohlzugefallen. Sein Zeitgenosse Calvin geht mitsamt seiner puritanischen Bewegung noch weiter. Wer nicht arbeitet, sündigt."

    Mit diesem Bewusstseinsmodell und dem Glauben an unbändiges Wachstum konnte der Westen jahrhundertelang seine Vormachtstellung behaupten. Auch Gefahren - Miegel sieht diese in Kriegen, Terror, Drogen und Diebstahl - konnten dieser Dominanz letztendlich nichts anhaben.

    Erst ein andere Entwicklung brachte den Westen unter Druck. Die er aber mit der ihm immanenten Arroganz erst einmal ignorierte und dann abwertete. Bis diese Entwicklung zur nicht mehr übersehbaren Konkurrenz wurde.

    "Der von langer Hand vorbereitete, systematische und möglichst geräuschlose wirtschaftliche Aufstieg. Wenn auch mit vernehmlichen Gegrummle, wurde den Neuankömmlingen an der Tafel Platz gemacht."

    Das trifft besonders auf einige ostasiatische Staaten zu. In diesen hat Miegel im Vergleich zum wohlstandsgesättigten Westen folgendes beobachtet.

    "Man muss sie gesehen haben, die Männer, Frauen und Kinder in Indonesien, Malaysia, Sri Lanka oder wo auch immer. Man muss sie gesehen haben, die ordentlich gekleideten Männer und Frauen, die barfuß auf steinigen Wegen zur Arbeit gehen, um ihre Schuhe zu schonen. Man muss sie gesehen haben, die Jungen und Mädchen in ihren frisch gewaschenen Blusen, wie sie fröhlich schnatternd den Schulbus besteigen. Sie können die Schule kaum erwarten."

    Innerweltliche Pflichterfüllung, ja - aber bitte ohne Profitgier. Demut, Bescheidenheit und Freude an Bildung: Das ist das Bild, das Miegel von den neuen, erfolgreichen Streitern im weltweiten Wirtschaftskrieg entwirft. Dem gegenüber stellt der Autor das Portrait des westlichen Wohlstandssumpfes, der sich am liebsten den Herausforderungen der Globalisierung, die Miegel bejaht, entziehen würde.

    "Fernsehen und Computerspiele sind nicht der einzige Zeitvertreib von Groß und Klein. Die Menschen vertreiben sich die Zeit auch mit endlosem Versenden von Spaßpost, milliardenfach ausgetauschten Kurzbotschaften und dem Herunterladen von Klingeltönen. Hektische Lebensgier und tosender Zeitvertreib - Individuen und Völker, die glauben, eine gestaltbare Zukunft zu haben, dürften sich anders verhalten."

    Miegel schlägt eine Brücke vom Freizeitverhalten zur Architektur, dann zur Gegenwartskunst, um schließlich bei der Wirtschaft zu landen. Alles in den westlichen Staaten sei einem Prinzip unterworfen: dem der Flüchtigkeit. Alles ist eine Frage der Zeit. Auch das Verhältnis Erwachsener zu Kindern.

    "Wozu überhaupt Kinder, wenn diese, kaum dass sie geboren sind, in Krippen, Horten, Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen verschwinden? Auf Anhieb mag manchem die Vorstellung einer Rundumbetreuung recht verlockend erscheinen. Nach einiger Zeit dürften sich jedoch immer mehr fragen, was an diesem Wesen, das sie gezeugt oder geboren haben, ihr Kind sein soll.Die Probleme des Westens sind grundsätzlicher.

    Sie werden offenbar, wenn die EU-Kommission nicht nur eine Verminderung der Arbeitslosenquote anstrebt - das ist geboten-, sondern zugleich auch eine Erhöhung der Erwerbstätigenquote, namentlich derjenigen von Frauen. Das ist nicht geboten."

    Während man zu Beginn des Buches Miegels politischen und sozialhistorischen Ausführungen - auch aufgrund des üppigen Zahlen- und Faktenmaterials - folgen und auch zustimmen kann, wird es in der zweiten Hälfte teilweise ärgerlich. Etwa wenn der Wunsch nach mehr staatlicher Kinderbetreuung mit den Erziehungsmodellen des rumänischen Diktators Ceausescu in Verbindung gebracht wird. Profane Polemik statt profunder Prognose. Da wird die Schilderung über Weltraumbestattungen mit der Frage abgeschlossen: Glaubt der Westen dort seine Zukunft zu finden? Anklage statt Analyse. Von einem Autor, der selbst sagt

    "Der erste und unverzichtbare Schritt ist der der Bewusstseinsbildung."

    Die dann auf einen schwammigen Verzichtsbegriff herunter gebrochen wird. Wieso sollten Frauen in der westlichen Welt nicht mehr als vier Paar Schuhe haben? Fängt da schon der Überfluss an? Dass Reformen notwendig sind - auch finanziell schmerzhafte - ist mittlerweile Konsens.
    Darüber hinaus ist der Autor in seiner Argumentation nicht stringent: Indem er versucht dieses komplexe Thema global zu betrachten und so viele Aspekte wie möglich unterzubringen, kommt es zu Pauschalisierungen, Widersprüchen und Wiederholungen.

    Um eine Kultur zu schaffen, genügt es nicht, mit dem Lineal auf die Finger zu klopfen, schrieb vor über vierzig Jahren der französische Existentialist Albert Camus. Seitdem hat sich das westliche Gesellschaftsbild in vielen Punkten gewandelt. Dennoch vollzieht Miegel eine Rolle rückwärts:
    Weg von liberalen Gesellschaftskonzepten, zurück zu den ökonomischen Vorstellungen Ludwig Erhards, dass materieller Verzicht "Segen und Gewinn" sein könnten. Ohne jedoch dessen Forderung nach Wachstum zu teilen.

    Wer dieses Weltbild vertritt, hat in Meinhard Miegels Buch sein Manifest gefunden. Und er steht in den derzeitigen gesellschaftspolitischen Diskursen dieses Landes nicht alleine da. Auch wenn Paul Kirchhof sich bereits wieder aus der politischen Öffentlichkeit zurückgezogen hat.

    Meinhard Miegel: Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft?
    Propyläen Verlag Berlin 2005, 312 Seiten, 22 Euro.