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Wolf Schneider
Das langsame Verschwinden des Soldaten

Wolf Schneider sieht das Ende einer Ära kommen: der des Soldatentums. Im Zeichen der neuen Kriege brauche man keine Soldaten mehr, so die These in seinem Buch "Der Soldat - eine Weltgeschichte von Helden, Opfern und Bestien. Ein Nachruf". Seine Kulturgeschichte des Krieges ist Aufklärung im besten Sinn.

Von Günter Kaindlstorfer | 10.03.2014
    Nein, Wolf Schneider ist kein pazifistischer Romantiker. Der These Jean-Jacques Rousseaus, wonach der Friede der Naturzustand des Menschen sei, dieser These kann Schneider nichts abgewinnen.
    "Das ist reiner Humbug. Rousseau hatte überhaupt keine Ahnung. Der Krieg ist der Naturzustand der Menschheit. Es ist unbestritten, dass in der Steinzeit - in Relation - mehr Menschen gewaltsam umkamen als durch die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Amazonas-Urwald, so hat eine Studie des Anthropologen Robert Walker ergeben, kamen ungefähr dreißig Prozent aller Menschen gewaltsam durch Überfälle aus der Nachbarhorde um. Also: Der Frieden ist niemals der Urzustand der Menschheit gewesen."
    Die Menschheit würde ihre Konflikte auch in Zukunft mit Gewalt austragen, da ist Wolf Schneider sicher, nur Soldaten - also staatlich organisierte Kombattanten in Uniform - Soldaten würden nicht mehr die gleiche tragende Rolle spielen wie in den letzten, sagen wir, 3.000 Jahren. Von einer "Abschaffung" des Soldatentums will Schneider indes nicht sprechen.
    "Kein einziger Soldat wird mehr gebraucht"
    "Also, Abschaffung, bitte sehr, ist übertrieben. Ich halte das Wort "Nachruf" für korrekt und typisch. Mit den Soldaten geht es zu Ende, weil ihnen niemand mehr zutraut, dass sie die welthistorischen Entscheidungen fällen. In Afghanistan wollten sie sie fällen, und es gelingt ihnen nicht. Den Selbstmord-Attentätern vom World Trade Center haben sie sowieso nichts entgegenzusetzen gehabt. Und der Cyber-War, vor dem sich ganz Amerika fürchtet, weil es nicht nur die stärksten Computer hat, sondern auch am stärksten von ihnen abhängig ist, in denen wird kein einziger Soldat mehr gebraucht. Die gesamte Wirtschaft kann stillgelegt, das gesamte Land ruiniert werden, ohne einen einzigen Soldaten. Deshalb meine ich: Das Wort "Nachruf" ist gerechtfertigt."
    Es sind mehrere Entwicklungen, die zum historischen Bedeutungsverlust des Soldatentums beitragen, meint Wolf Schneider:
    Erstens: Immer öfter treten Partisanen und Söldner, also Angestellte privater Sicherheitsfirmen, an die Stelle traditioneller Armeen.
    Zweitens: Die Entwicklung von Robotern und Kampfdrohnen macht Soldaten zunehmend überflüssig. Afghanische Taliban zum Beispiel werden heute mittels Joystick von einer Kommandozentrale in New Mexiko aus getötet und nur mehr in seltenen Fällen von regulären Einheiten.
    Drittens: Der Krieg der Zukunft wird teilweise im Cyberspace stattfinden und nicht mehr auf klassischen Schlachtfeldern.
    Und viertens: Die Atomwaffenarsenale der Nuklearmächte tragen dazu bei, einen konventionellen Krieg in größerem Stil zu verhindern.
    "Einen Ozean hat er mit Blut gefüllt"
    "Die Ära des Soldaten, wie wir ihn kennen, geht zu Ende", schreibt Wolf Schneider: "Drei Jahrtausende lang war der Soldat der große Beweger der Weltgeschichte, das Objekt von Angst, Bewunderung und Entsetzen. Er hat Länder verwüstet, Kulturen zerstört und Völker ausgerottet. Einen Ozean hat er mit Blut gefüllt. Mehr Leid hat er zugefügt, oft auch mehr gelitten als alle anderen Menschen."
    Auf 544 Seiten lässt Schneider die Ära des Soldatentums noch einmal Revue passieren, von den Assyrern des zweiten vorchristlichen Jahrtausends bis zu den Navy Seals von heute. Schneider untersucht die anthropologischen und kulturellen Grundlagen des sogenannten Kriegshandwerks, beschäftigt sich mit Heeren, Waffen, Strategien und untersucht die psychologischen Fundamente organisierter Gewalttätigkeit.
    "Es gab und gibt eine Minderheit von Männern, die das Raufen lieben: die Haudegen. Die Römer nannten sie die Männer aus Eichenholz. Bei den Hunnen und bei den Mongolen Dschingis Khans waren die meisten Menschen solche Draufgänger, Fighter, Haudegen, Hooligans in Uniform. Und seit der Erfindung der allgemeinen Wehrpflicht vor 200 Jahren beträgt der Anteil jener Männer, die das Kämpfen lieben, vielleicht fünf bis zehn Prozent. Ohne sie könnten keine Kriege geführt werden. Die Erfahrung lehrt eindeutig: Eine starke Minderheit von Männern, fünf bis zehn Prozent, liebt es, sich zu kloppen: Motorrad-Rocker und Hooligans, kämpferische Islamisten und die sogenannten Autonomen, die schwarz vermummt Molotowcocktails schleudern - bei Straßendemonstrationen, das sind Leute, die das Kämpfen lieben. Sie sind das Rückgrat jeder Armee. Ohne sie hätte nie ein Krieg geführt werden können."
    Von den Assyrern bis heute: Krieg scheint vor allem Männersache zu sein, daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es in der Bundeswehr mittlerweile weibliche Haupt- und Stabsfeldwebel, ja, selbst eine Bundesverteidigungsministerin gibt. Auch wenn sich Frauen in Hinkunft verstärkt als uniformierte Gewalttäterinnen profilieren sollten: Wolf Schneider will nicht ausschließen, dass Testosteron und andere Männlichkeitshormone eine gewisse Rolle bei der biologischen Produktion von Kriegslüsternheit spielen.
    "Der Nobelpreisträger und Soziologe Elias Canetti hat das ja eindeutig festgestellt: Es ist für eine Minderheit der Menschen, eben für die Minderheit der Fighter, der Draufgänger, der Haudegen, ein Vergnügen, andere sterben zu sehen. Es ist die sehr traurige, aber nicht leicht zu widerlegende Behauptung: Wenn um mich herum andere Menschen sterben, und ich überlebe, dann empfinde ich einen Triumph."
    Aufklärung im besten Sinn
    Wolf Schneider, das wird bei der Lektüre seines Buches deutlich, ist kein Freund tosenden Artillerie-Gedröhns und schneidiger Kampfjet-Pirouetten. Die Erfindung der allgemeinen Wehrpflicht während der Französischen Revolution, die "Leibeigenschaft auf Zeit", die der Militärdienst bedeutet, den Drill und das grelle Gemetzel auf den Schlachtfeldern Verduns und Stalingrads, das alles beschreibt er im Gestus distanzierten Degouts. Für Deserteure aller Dienstgrade bringt Schneider wärmstes Verständnis auf. Desertion, meint der 89-Jährige, sei eine durchaus ehrenhafte Sache:
    "Von seinen Motiven her handelt jeder Deserteur so verwerflich wie ein Vogel, der dem Käfig entflattert."
    Wolf Schneiders Buch, pointiert geschrieben und messerscharf analysierend, ist eine inspirierende Lektüre. Mag sein, dass die Hauptthese des Texts - Schneiders Abgesang auf den Soldatenstand - übereilt und in ihrer provozierenden Zuspitzung überzogen ist: Man liest die 540 Seiten des Bands dennoch mit Gewinn. Eine Kulturgeschichte des Kriegs, verfasst von einem Kriegsskeptiker: Aufklärung im besten Sinn.
    Wolf Schneider: Der Soldat - eine Weltgeschichte von Helden, Opfern und Bestien. Ein Nachruf. Verlag Rowohlt Reinbek, 544 Seiten, 24,95 Euro.