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Wolfgang Brenner
"Das deutsche Datum. Der neunte November"

Der 9. November taucht in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts so oft auf wie kein anderes Datum: von der Novemberrevolution 1918 über die Pogromnacht 1938 bis zum Mauerfall 1989. Wolfgang Brenner erzählt die Geschichte der verschiedenen Jahrestage und geht der Frage nach, ob sie etwas verbindet.

Von Otto Langels | 04.11.2019
Sturz des Kaiserreichs: Demonstration junger Arbeiter vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin am 9. November 1918.
Im Hintergrund: Demonstration von Arbeitern vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin am 9. November 1918 (Herder Verlag / dpa picture-alliance / Ullstein )
"Der Kaiser hat abgedankt; er und seine Freunde sind verschwunden. Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue; es lebe die deutsche Republik!"
"Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse, beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Das tritt, nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich."
Zwei Ereignisse, die sieben Jahrzehnte deutscher Geschichte markieren: die Novemberrevolution 1918 und der Fall der Mauer 1989. Beides geschah an einem 9. November, wie auch der Hitlerputsch 1923 in München mit dem Marsch auf die Feldherrenhalle, die Novemberpogrome 1938 mit den brennenden Synagogen sowie das Attentat Georg Elsers auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller - 1939, am Vorabend des 9. November. Der Journalist und Autor Wolfgang Brenner erzählt anschaulich die historischen Vorgänge um das jeweilige Datum.
"Ich versuche, Zeitgeschichte erfahrbar zu machen. Ich versuche auf Grund von Geschichten, die ich in einen Zusammenhang stelle, Zeiten und Umschwünge erfahrbar zu machen für ein großes Publikum."
Gibt es eine innere Logik?
Brenner legt kein wissenschaftliches Werk vor, die Fußnoten nennt er Endnoten, er verzichtet auf Quellen und bezieht sich auf nur wenige Werke der Sekundärliteratur. Er möchte die Leserinnen und Leser am Geschehen teilhaben lassen.
"Samstag, 9. November 1918. Um 12.30 Uhr klopfte es an der Tür im Kanzlerbüro, in dem Max von Baden und seine Staatssekretäre mit starren Blicken aufs Telefon bangten. Draußen stand Ebert mit seinen SPD-Granden aus der Fraktion. Sie verlangten, dass der Prinz ihnen die Macht übergab."
Lebendig und bildhaft, in einem saloppen Reportagestil, schildert Wolfgang Brenner den Ablauf und die Hintergründe des jeweiligen Ereignisses. Aber er geht weiter, er sieht in der Abfolge der einzelnen Daten eine innere Logik am Werke. Sicher war der Hitlerputsch von 1923 eine Reaktion auf die Novemberevolution von 1918, und die Pogrome von 1938 und Elsers Attentat auf Hitler ein Jahr später sind in diesem Kontext zu sehen. Aber der Mauerfall 1989?
"Der 9. November reagiert auf den 9. November. Der Fall der Mauer, der fällt da natürlich raus. Es gibt da jetzt keinen Grund, warum diese Schabowski-Konferenz und alles das, was das innerhalb von Stunden ausgelöst hat, gerade an diesem 9. November 1989 passiert ist. Aber man sollte schon sehen, dass auch dieses Ereignis in das Muster und die Logik des Jahrhunderts gehört."
Von der unvollendeten zur friedlichen Revolution
Als Klammer zwischen dem 9. November 1918 und dem 9. November 1989 sieht der Autor – neben Berlin als Mittelpunkt des Geschehens - den Wunsch der Deutschen nach Demokratie, kulminierend in einer kollektiven Gefühlsentladung.
"Den Deutschen wird vorgeworfen, niemals eine wirkliche Revolution zustande gebracht zu haben. Dieses Stigma war eng mit dem 9. November 1918 verbunden. Am 9. November 1989 stürzten die Deutschen – genauer die Ostdeutschen, die nachts zu den Grenzübergängen eilten – die Mauer. Damit hatte das Regime ausgedient."
Doch was, wenn Günter Schabowski vor der legendären Pressekonferenz seinen Zettel genauer studiert hätte? Hätte sich die Mauer dann nicht erst am 10. November geöffnet? Dann ließe sich keine untergründige, tagesgenaue Verbindung zwischen 1918 und 1989 konstruieren. Nicht alle Vorkommnisse des 9. November fügen sich in das enge Korsett historischer Zwangsläufigkeit, manches Ereignis ist einfach dem Zufall geschuldet.
Ein Datum der Gewalt
Wolfgang Brenner stellt noch einen weiteren Zusammenhang her: die Gewalt. Ob 1918, 1923, 1938 oder 1939, es handelte sich um gewaltförmige Ereignisse, geprägt von blutigen Auseinandersetzungen, Anschlägen und Opfern; auch der 9. November 1969, auf den der Autor ausführlich eingeht. An dem Tag wurde im Jüdischen Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße an die Novemberpogrome 1938 erinnert. Linksradikale Tupamaros planten einen Bombenanschlag, um gegen "Zionismus und den Staat Israel" zu protestieren.
"Wegen eines Defekts am erodierten Zünddraht explodierte die Bombe nicht. Die Polizei baute die Apparatur später nach und stellte fest, dass die Sprengvorrichtung das gesamte Gebäude in Trümmer gelegt und viele Todesopfer gefordert hätte."
Erstaunlicherweise erwähnt Wolfgang Brenner ein Datum nicht, das in diesen Kontext gehört. Am 9. November 1974 starb Holger Meins, Mitglied der linksextremistischen Terrorgruppe Rote Armee Fraktion, an den Folgen eines Hungerstreiks.
Dagegen wagt Brenner einen Rückblick auf Robert Blum, einen der führenden Köpfe der Revolution von 1848, der noch im selben Jahr am 9. November bei Wien erschossen wurde.
"Ich habe das auch aufgenommen, weil Karl Liebknecht bei seiner Proklamation der sozialistischen Republik am 9. November 1918 vom Schloss aus auf dieses Ereignis Bezug genommen hat und einen Zusammenhang hergestellt hat zu diesem Tag."
Nach dem Mauerfall gab es Diskussionen, ob man den 9. November zu einem Feiertag für das vereinte Deutschland machen solle. Es kam bekanntlich anders, nicht zuletzt, weil der friedlichen Revolution von 1989 andere Daten entgegenstehen, die mit Gewalt und Terror verbunden sind. Wolfgang Brenners Verdienst ist, die unterschiedlichen Ereignisse des 9. November in Erinnerung zu rufen.
Wolfgang Brenner: "Das deutsche Datum. Der neunte November",
Herder Verlag, 319 Seiten, 26 Euro.