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Wolfgang Schivelbusch
Konsum, Verzehr und die Folgen

Der Autor und Historiker Wolfgang Schivelbusch legt in seinem neuen Buch "Das verzehrende Leben der Dinge" bemerkenswert theoriefreudige Betrachtungen unseres Verhältnisses zur Konsumtion vor. Dabei geht es ihm auch um die gesellschaftlichen Folgen von Konsum und Verzehr.

Von Andrea Gnam | 18.11.2015
    Der Historiker, Literaturwissenschaftler und Publizist Wolfgang Schivelbusch.
    Der Historiker, Literaturwissenschaftler und Publizist Wolfgang Schivelbusch. (picture alliance / dpa)
    "Das verzehrende Leben der Dinge" - wer hinter dem wohltuend antiquiert anmutenden Titel von Wolfgang Schivelbuschs anregendem "Versuch über die Konsumtion" grundlegende Betrachtungen zur Conditio humana vermutet, liegt nicht falsch. Archaische Erfahrungen der Energiegewinnung bestimmen die Geschichte des Menschen: das nährende, aber auch verheerende Feuer und der Verzehr von Nahrung - um die gesellschaftlichen Folgen dieser Grund-Konstellation von Konsumtion und Verzehr kreist Schivelbuschs Essay. Unser Verhältnis zu den Dingen, die uns umgeben, ist zunehmend auch davon bestimmt, wie sie hergestellt und gehandelt werden. Frühe Ökonomen wie Adam Smith sprachen euphorisch vom sich unaufhaltsam vermehrenden Wohlstand durch gesteigerte Produktivität, Marx hingegen nahm das "Ungeheuerliche" der industriellen Großindustrie in den Blick.
    Die ebenso knappe, wie kulturgeschichtlich gewichtige Untersuchung Schivelbuschs, widmet sich einer einfachen Prämisse: "Der Preis für den Gebrauch der Dinge ist ihr Verzehr". Schivelbuschs an Marxscher Sprachkunst geschultes Buch, das elegant die Wechselwirkungen von Ökonomie mit biologischen, philosophischen und medizinischen Modellen der Welterkenntnis darlegt, ist zwar keine leichte Kost, bereitet aber in seiner Stringenz hohes intellektuelles Vergnügen. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen benennt er das grundlegende Dilemma unseres Verhältnisses zu Nahrung und Gegenständen, und schließt den Kreis am Ende des Buches mit einem so ernüchternden, wie entlastenden Resümee:
    "Wohin in die Menschheitsgeschichte der Blick auch fällt, das entfesselte Leben und die Lust am Zerstören treten so unausweichlich zusammen auf, wie die Vorstellung, dass neues Leben ohne die Zerstörung des bestehenden unmöglich ist. Die großen Weltvernichtungen von Heraklits Weltbrand bis zur Apokalypse stellen alle den Beginn einer höheren Stufe des Lebens dar. Vor diesem Monumentalhintergrund spielt die Güterkonsumption die Rolle des täglichen "kleinen" Vernichtungspensums, das zur Aufrechterhaltung des Lebens notwendig ist."
    Übergang vom Gebrauch zum Verbrauch
    Der Übergang vom Gebrauch zum Verbrauch enthält aber durchaus auch ein Moment der temporären, wechselseitigen Durchdringung von Mensch und Ding. Traditionell wird dies gerne am Beispiel von Schuhen dargelegt: Ein Paar Stiefel aus van Goghs Bildfundus ziert daher auch den Buchumschlag, die Schuhe erlangten Berühmtheit durch Heideggers Kunstwerk-Aufsatz. Schivelbusch zitiert die geradezu mystische Vereinigung, die eine Romanfigur Knut Hamsuns mit seinen Schuhen einzugehen bereit sei:
    "Als hätte ich einen guten Freund getroffen und einen losgerissenen Teil meiner Seele wiederbekommen. (...) Wie wenn ich meine Schuhe nie zuvor gesehen hätte, fange ich an, ihr Aussehen zu studieren; ihre Mimik, wenn ich den Fuß bewege; ihre Form, das abgenützte Oberleder, und dabei entdecke ich, dass ihre Falten und weißen Nähte ihnen Ausdruck verleihen, ihnen Physiognomie geben. Etwas von meinem eigenen Wesen war in diese Schuhe übergegangen, sie wirkten auf mich wie ein Hauch gegen mein eigenes Ich, ein atmender Teil von mir selbst."
    Solche Assimilation von Mensch und Gegenstand durch lange Gemeinschaft ist ein Faktor, der in den ökonomischen Theorien zur Steigerung von Produktivität und Konsum gerne ausgeklammert wird: Die Liebe zum Ding sei obsolet geworden und die Auswirkungen der Massenproduktion auf das Seelenleben blieben unberücksichtigt. Schivelbusch zieht den von ihm selbst so bezeichneten, "reaktionären" Ökonom Adam Müller zurate, der ebenfalls dem Eigenwert der Sachen seinen Respekt zollt und zum Beispiel im Schmied auch einen Vermittler zwischen Werkstoff und Werkzeug sieht. Diese Achtung vor dem Mensch-Ding-Verhältnis, so Schivelbusch, kehrt dann im Marxschen Begriff der Entfremdung wieder, die der Mensch angesichts automatisierter Produktion gegenüber seiner Arbeit empfindet. Wie gerade als von nachfolgenden Generationen als rückständig betrachtete Sichtweisen später dann wieder als Keim eines anderen Zugangs zur Welt gelesen werden können, verdeutlicht Schivelbusch auch an physiokratischen Positionen. Das Primat landwirtschaftlicher Produktion, das im beginnenden Industriezeitalter von französischen Ökonomen wie Mirabeau vertreten wurde, barg zum Beispiel eine wichtige Entdeckung: die Rolle der Natur als Produktivkraft. Sie steht in einem aufschlussreichen Verhältnis zur aufkommenden Biologie:
    "Wie die Lebenskraft der Biologie die Selbstgeneration und die potenziell unendliche Vermehrung der Lebewesen, so ermöglicht die Produktivkraft der Ökonomie die potenziell grenzenlose Steigerung der Güterproduktion."
    Solche Brückenschläge zwischen den Wissensgebieten sind erhellend, auch wenn sie alle in das Eingeständnis des "produktiven Konsums" münden, der großen Fuge des Verzehrs: einmal als identitätsstiftender Austausch wie im Falle der Schuhe, einmal als Verwandlung in einen höheren Zustand der Materie durch Nahrung, einmal als zerstörerisch beklagte Vertilgung der Dinge. Zur Beschränktheit der Ressourcen indes, könnte man hinzufügen, schweigen fast alle Welterklärungsmodelle und bauen stattdessen auf die Lust am Zerstören in tätiger Erwartung des Neuen.
    Wolfgang Schivelbusch: "Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion"
    Hanser Verlag., 192 Seiten, 19,90 Euro.