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Wolfgang Schüssel zur Flüchtlingspolitik
"Deutschland verdient nicht die populistische Kritik von Tusk"

Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hat die deutsche Flüchtlingspolitik gegen Kritik von EU-Ratspräsident Donald Tusk verteidigt. "Man hätte von Tusk eigentlich konkrete Lösungen und keine Leitartikel erwarten müssen", sagte der ÖVP-Politiker im DLF. Die Lösung in der Flüchtlingskrise bestehe nicht darin, Länder, die Flüchtlinge aufnehmen, zu kritisieren.

Wolfgang Schüssel im Gespräch mit Dirk Müller | 04.12.2015
    Österreichs früherer Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP).
    Österreichs früherer Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP). (imago / Eibner Europa)
    "Deutschland verdient ganz sicher nicht die populistische Kritik des Ratspräsidenten", sagte Wolfgang Schüssel im DLF. Die Flüchtlinge kämen ja nicht wegen der Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Die Flüchtlinge kommen, weil die Situation unerträglich geworden ist. Man sollte also die Ursachen bekämpfen."
    Schüssel plädierte zudem dafür, wieder alle Flüchtlinge zu registrieren. Er räumte ein, dass auch Österreich dies in der Vergangenheit versäumt habe, inzwischen funktioniere das aber. Insgesamt forderte er eine stärkere Führung durch die Institutionen der Europäischen Union.

    Das Interview in kompletter Länge:
    Dirk Müller: Die Slowakei hat den Anfang gemacht, Ungarn hat gestern nachgezogen: Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die beschlossene Verteilungsquote von Flüchtlingen, auf die ganz besonders Angela Merkel gedrängt hatte. Hinzu kommt die offene Attacke von Donald Tusk, früher polnischer Ministerpräsident, jetzt Ratsvorsitzender der EU. Ein offener Affront gegen die Kanzlerin mit der Warnung, Angela Merkel soll endlich eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik einleiten. Eine klare Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik.
    Donald Tusk spricht damit das aus, was zahlreiche Spitzenpolitiker in Europa, vor allem aber in Osteuropa denken und auch wollen. Am Telefon ist nun der frühere österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Guten Morgen nach Wien!
    Wolfgang Schüssel: Guten Morgen, Herr Dirk Müller.
    Müller: Herr Schüssel, war die Situation in Europa jemals so ernst?
    Schüssel: Aber natürlich! Europa hat schon viele, viele Krisen durchlaufen und ist manchmal, nicht immer, aber manchmal und hoffentlich auch diesmal aus einer solchen Krise stärker hervorgegangen. Dazu gehört natürlich auch eine klare Analyse und keine Leitartikel, sondern eigentlich konkrete Lösungen. Die hätte man eigentlich vom Ratspräsidenten Tusk erwarten müssen.
    Müller: Spaltet die Kanzlerin dennoch Europa?
    Schüssel: Ich glaube das nicht, sondern die Kernfrage ist, ob wir unsere eigenen Spielregeln einhalten. Es ist ja völlig richtig, dass Ratspräsident Tusk kritisiert, dass der Schutz der Außengrenze derzeit nicht ausreichend ist. Das ist keine Frage. Nur die Lösung besteht nicht darin, dass man jetzt Deutschland oder Österreich oder andere, die Flüchtlinge aufgenommen haben, kritisiert, sondern dass man tatsächlich zu einer gemeinsamen europäischen Grenzschutztruppe kommt. Das wäre eigentlich jetzt das Ziel, etwas, was Griechenland und Italien bisher nicht haben wollten, und darauf sollte man hinarbeiten.
    "Es ist eine Notsituation gewesen, die nicht Dauerrecht sein kann"
    Müller: Aber Angela Merkel hatte ja die Lösung vorgeschlagen beziehungsweise sie auch ventiliert, ihr könnt jetzt kommen, ohne weitere Prüfung.
    Schüssel: So hat sie es nicht gesagt, sondern sie hat nur gesagt, in einer Situation, wo die Griechen und auch teilweise die Italiener, aber vor allem die Griechen jeden Flüchtling weitergereicht haben über die Balkan-Route nach Österreich, Deutschland und Skandinavien, dass man da jetzt nicht flächendeckend zurückschicken kann, zumal ja auch die Richter in Deutschland, in Österreich eine Rückführung nach Griechenland für illegal erklärt haben. Daher ist es natürlich eine Notsituation gewesen, die nicht Dauerrecht sein kann, keine Frage.
    Müller: Und die Österreicher haben dann weiter fleißig durchgeleitet, weitergeleitet nach Deutschland.
    Schüssel: Schon. Wir haben 800.000 bisher durchgeleitet, 100.000 sind geblieben. Das ist pro Kopf ungefähr, gemessen an der Bevölkerung, etwa gleich viel wie Deutschland. Und worauf wir auch stolz sein können, genauso wie Deutschland, dass das eigentlich ohne größere Probleme verlaufen ist.
    "Es müssen die Spielregeln wieder in Kraft gesetzt werden"
    Müller: Die Kritik war ja daran, dass nicht registriert wird. Stimmte das?
    Schüssel: Das stimmt teilweise. Der Vorwurf ist nicht ganz unberechtigt. Das ist aber jetzt Gott sei Dank anders. Aber das gilt genauso auch für Griechenland und für Italien. Es muss registriert werden und es müssen die Spielregeln wieder in Kraft gesetzt werden.
    Müller: Haben Sie das denn erfahren können in den vergangenen Wochen - Sie sind ja immer noch sehr, sehr nahe an der Politik, auch an der Regierungspolitik -, ob das abgesprochen war mit Österreich? Wir wissen das immer noch nicht so richtig.
    Schüssel: Natürlich hat es Absprachen gegeben, wie es ja auch heute Gott sei Dank Absprachen mit Serbien, mit Mazedonien, mit Kroatien und mit Slowenien gibt. Das ist ja auch Gott sei Dank notwendig und das funktioniert eigentlich auch recht gut. Ich finde es auch in Ordnung, dass man jetzt sich präzise darauf konzentriert, welche Gruppen von Flüchtlingen können durchreisen, damit man eine sinnvolle Hilfe für die, die es wirklich brauchen, hat und nicht, dass einfach jeder kommen kann, gleichgültig ob er aus Afrika kommt und ein besseres Leben sucht, oder aus Algerien oder sonst wo.
    Man muss sich konzentrieren auf die konkrete Hilfe, und das sollte man schon auch vom Ratspräsidenten erwarten und nicht einfach eine populistische Kritik an Deutschland. Deutschland verdient das ganz sicher nicht! Und zudem ein Argument: Wenn es den Schutz der Außengrenze gibt, dann muss es ja trotzdem und gerade dann muss es auch ein legales Mittel geben, wie man innerhalb Europas dann diejenigen, die zurecht Asyl bekommen, umverteilt. Daher dann selber als Ratspräsident davon zu sprechen, dass eine Entscheidung über die Quote ein politisches Zwangsmittel war und an politische Nötigung grenzt, das habe ich eigentlich sehr merkwürdig gefunden.
    Müller: Aber es haben doch viele Staatschefs auch eingeräumt, dass sie da überrascht waren, erzürnt waren, dass Angela Merkel mit dieser Aufnahme der syrischen Flüchtlinge Dublin gebrochen hat und damit gegen europäisches Recht verstoßen hat.
    Schüssel: Korrekt ist: Dublin wurde deswegen gebrochen und schon viel früher, weil Griechenland als das Land, das tatsächlich an der Außengrenze ist, überhaupt keinen Versuch gemacht hat, diese Flüchtlinge zu registrieren und sich dann darum zu bemühen, dass man eine Aufteilung innerhalb Europas zustande bringt.
    Müller: Griechenland war aber total überfordert und hat kaum Hilfe bekommen.
    Schüssel: Das ist natürlich ein berechtigter Hinweis. Auch hier gilt, da hätten die europäischen Institutionen, und zwar nicht nur Deutschland oder Österreich, sondern alle europäischen Institutionen helfen müssen. Man muss ja auch sich den Kopf zerbrechen, warum man nicht rechtzeitig die UNO-Programme finanziell besser ausgestattet hat, warum man nicht vor Ort in der Türkei - es hat Berichte gegeben über grauenhafte Situationen in Spitälern in der Türkei -, warum wir nicht dort konkret helfen, sondern eigentlich warten und zuschauen. Das sind eigentlich Dinge, die die Institutionen auf der europäischen Ebene angehen sollten, und nicht einfach das Blame-Game spielen, wer ist schuld an irgendwas.
    Müller: Reden wir über einen Satz noch einmal beziehungsweise zitieren wir ihn noch mal. Donald Tusk hat gesagt, diese Flüchtlingswelle ist viel zu groß, um sie nicht zu stoppen. Was ist daran falsch?
    Schüssel: Ich glaube, das ist eine Banalität. Nur die Frage ist, an wen geht das. Konkret: Wen meint er damit? Ich finde noch einmal, ...
    Müller: Er meint die Kanzlerin damit.
    Schüssel: Aber das ist ja nicht der Punkt, dass die Kanzlerin jetzt daran Schuld ist, dass die Flüchtlinge kommen. Die Flüchtlinge kommen, weil die Situation unerträglich geworden ist, und man sollte daher, glaube ich, jetzt konkret die Ursachen bekämpfen - unter anderem dadurch auch, dass man sich auf allen Ebenen bemüht, eine internationale Koalition zustande zu bringen, und nicht, beispielsweise wie es auch in dem Interview vorkommt, dass man eigentlich wiederum versucht, Russland nicht einzubinden in die ganze Situation. Natürlich brauchen wir die Russen, brauchen wir die arabischen Staaten, brauchen wir die Amerikaner, damit wir sowohl im Nahen Osten, aber auch in der Ukraine eine friedlichere Situation zustande bringen.
    "Natürlich gibt es Kritik"
    Müller: Das ist ein gutes Stichwort, weil wir haben das aus österreichischem Munde auch gehört, von Grünen-Politikern beispielsweise, die gesagt haben, die Kanzlerin macht mehrere Alleingänge: Griechenland Alleingang, dann Ukraine Alleingang, viele Dinge nicht abgesprochen, und jetzt die Flüchtlingspolitik. Ist das so, dass der Rückhalt, das Vertrauen in die Kanzlerin auch im europäischen Sinne immer weiter nachlässt?
    Schüssel: Das sehe ich nicht so. Natürlich gibt es Kritik. Das ist in einer Gruppe mit 28 eigenwilligen und manchmal auch mit unterschiedlichen Interessen ausgestatteten Mitgliedsländern, das ist so. Aber auf der anderen Seite muss man schon sagen: Deutschland ist natürlich die Führungsmacht, weil es wirtschaftlich und auch bevölkerungsmäßig das größte Land ist. Auf der einen Seite rufen alle nach Führung und auf der anderen Seite, wenn dann eine Führung sichtbar wird, dann kritisieren es alle. Das gehört dazu.
    Müller: Aber Alleingang war schon richtig, der Vorwurf?
    Schüssel: Alleingang würde ich nicht sagen, aber jedenfalls war es so, dass in dieser Situation Angela Merkel eine bestimmte Führungsrolle übernommen hat, die nicht allen gepasst hat. Weil natürlich auch die Frage, wer eine Krise empfindet, ganz unterschiedlich ist. Die Iren oder die Briten empfinden zum Beispiel diese Flüchtlingsströme ganz anders als etwa die Deutschen, die Skandinavier oder wir. Auch die Balkan-Staaten, Rumänien, Bulgarien, Tschechien, Polen sehen das ganz anders. Zu denen kommen ja die Flüchtlinge nicht.
    "Faire Aufteilung der Flüchtlinge muss möglich sein"
    Müller: Aber die gehören ja auch zu Europa und die sagen, wir wollen das nicht.
    Schüssel: Natürlich gehören sie auch zu Europa und werden daher auch am Ende solidarisch zu diesem Europa und zu diesen gemeinsamen Regeln stehen müssen. Wenn wir den Schutz der Außengrenze, der prioritär ist, durchsetzen, dann muss auch innerhalb der Europäischen Union eine faire Aufteilung der Flüchtlinge möglich sein. Das kann dann nicht delegiert werden an drei, vier andere Staaten.
    "Die militärische Lösung kann nur ein Teil sein"
    Müller: Herr Schüssel, noch eine letzte Frage mit Blick auf die Abstimmung im Bundestag heute. Tornado-Einsatz, Militäreinsatz gegen Syrien, internationale Koalition im Kampf gegen IS. Werden dann noch mehr Flüchtlinge kommen nach Europa?
    Schüssel: Das Ziel dieses Einsatzes ist natürlich, eine stabilere Situation in Syrien und im Irak zu schaffen. Wenn das der Fall ist - und da gibt es keine Garantie dafür -, dann werden sicherlich die Flüchtlingsströme geringer werden. Aber ich glaube, dass die militärische Lösung natürlich ein Teil nur sein kann.
    Das bedeutet natürlich auch, dass man tatsächlich mit den Ländern ringsherum, mit Libanon, mit Jordanien, mit den Türken, aber auch mit den Ägyptern, die beispielsweise für die kommenden afrikanischen Migrationsströme eine große Bedeutung haben werden, dass man mit denen reden muss, ihnen auch helfen muss. Ich erwarte eigentlich, dass wir nicht mit einer kurzfristigen Situation konfrontiert sind. Sie können davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auch andere noch auf die Idee kommen, den Sehnsuchtsort Europa in der einen oder anderen Form erreichen zu wollen, und da müssen wir uns gemeinsam aufstellen, und zwar nicht, indem wir mit Fingern aufeinander zeigen, sondern dass wir unter der Führung der europäischen Institutionen und auch der Führung von Deutschland gemeinsame Lösungen entwickeln.
    Müller: Der frühere österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel bei uns hier im Deutschlandfunk. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben.
    Schüssel: Danke. Auf Wiederhören.
    Müller: Auf Wiederhören nach Wien.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.