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Wortbefunde auf Karteikarten geklebt

Aus einer Zeitung oder Illustrierten zusammengeschnitten hat sich Herta Müller ihre Gedichte, in denen es auch einen Nachhall auf die grausigen Jahre in Rumänien gibt.

Von Martin Krumbholz | 26.11.2012
    In diesem Buch hat jedes Wort seine eigene Physiognomie. Die "Pfirsiche" zum Beispiel sind fett und schwarz, die "Wolle" ist groß und grün, auf schwarzem Untergrund, während die "Gefühle" in stolzen Versalien ihren Raum behaupten und der "nette Apotheker" sich halbfett und kursiv auf blassgrünem Hintergrund breitmacht. Das alles auf einer Seite. Dem "Eigenschaf", auf einer anderen Seite, wurde nicht etwa der letzte Buchstabe gekappt: nein, das Wort heißt so, man sieht es ihm an, dass ihm nichts fehlt. Ein Eigenschaf eben. Und seine Herkunft ist wie bei allen anderen Wortfunden dieses wunderbaren Bandes aus einer Zeitung, einer Illustrierten oder einem anderen wohlfeilen Druckwerk, dem Herta Müller mit ihrer Schere auf den Leim gerückt ist. Ein ganzes Gedicht klingt dann etwa so:

    Das Leben ist kein Rätsel sagt der Busfahrer
    Sondern eine Schachtel mit einer Zirkustaube drin
    Schade dass ich mir sicher bin


    Herta Müller hat ihre Wortfunde auf Karteikarten geklebt, das begrenzt den Raum. Interpunktionszeichen fehlen zumeist. Die Selbstironie des Busfahrers unterstreicht und relativiert seine Aussage zugleich. Doch als Schachteln mit Zirkustauben drin, die dann wer weiß wer – vielleicht die Leserin – fliegen lässt, entpuppen sich viele dieser magischen kleinen Texte.

    Der Himmel glich dem Taubenkäfig
    Gott reparierte einer Fliege den Pelz
    Einer Kirsche den Stein
    Mich ließ Er sein.


    Wunderbar, nicht wahr? Wer wäre je auf die Idee gekommen, dass Gott sich die Mühe macht, einer Kirsche den Stein zu reparieren, mich (und dich) aber "sein lässt", als gäbe es an uns nichts zu beanstanden? Wenn dergleichen unter freiem Himmel geschieht, was ist dann wohl in einem Hotelzimmer los? Hier die Antwort:

    Im Hotel gibt es Spiele für Labile
    Das Wasser tropft zu schnell
    Aus dem Schrank fällt eine Seidenkordel
    durch das Zimmermädchen fliegt ein Rotkehlchen,
    später legt jeder sein Geweih in weiche Federn gegen 3


    Die Texte wirken, auch wenn ihr "Sinn" sich nicht auf Anhieb erschließen mag, erstaunlich geschlossen. Oft erzählen sie fantastische kleine Geschichten, manchmal extrapolieren sie nur eine Landschaft, ein Naturbild. Bei allem Humor, der ihnen eignet, fehlt ihnen nicht die Kehrseite: der Nachhall der grausigen Jahre in Rumänien. Es scheinen sogar in den meisten Fällen Kindheits- oder doch frühe Erinnerungen zu sein, die Herta Müller hier so kunstvoll aus Sprachabfällen nachstellt. Eindrückliche Erinnerungen an den Terror wie hier:

    Seit Tagen liegt auf dem Weg zum Verhör ein Apfel
    Als wär ich zu zweit
    Nur wenn ich einmal nicht mehr zurückkehr
    Tu ich ihm Leid


    Das ist in seiner lapidaren Beschwörung des Grauens kaum zu übertreffen. Und natürlich hat es nichts mit Selbstmitleid zu tun, im Gegenteil: Dass es kein menschliches Lebewesen, sondern eine Frucht ist, die das prospektive Leid, also das Verschwinden der Ich-Figur gewissermaßen teilt und mitteilt, enthebt die beschriebene Situation jeder Gefühligkeit. Ein thematisch verwandtes Beispiel:

    1x am Zug vor 20 Jahren
    Tür auf. Einsteigen. Losfahren.
    Bloß keinen Abschied
    Sie nickten sich 2x zu
    Mit Blicken bei denen man nicht sehen durfte
    Dass sie sich kennen.


    Das Segment "Tür auf. Einsteigen. Losfahren." stammt hier aus einem geschlossenen Kontext, vielleicht aus einer Reklame. Das Zitat verfremdet den Charakter dieser Parolen fast unscheinbar: Statt einer Reise in die Sommerfrische geht es um einen Abschied vermutlich für immer (oder doch für eine lange Zeit), der gleichwohl nach außen hin nicht als Abschied zweier vertrauter Personen erkennbar sein darf.

    Immer wieder geht es um das Essen – gelegentlich wie hier ins Fantastische verfremdet.

    Der Notar trug das weißeste Hemd aus Zuckerwatte
    Und wir sangen drei Mal hoch soll er leben weil er Geburtstag hatte
    Doch das Hemd-Material blieb bei den langen Umarmungen an den Händen kleben
    Da war der Notar oben nackt und wir leckten bemüht dass ers nicht sieht
    Einer dem anderen die Finger ab


    Warum ein Notar? Was hat der Mann zu beglaubigen? Und wieso lässt er sich so leicht etwas vormachen? Hören wir ein anderes Beispiel:

    Anton steht wieder vor dem Haus mit seinem alten Löffel in der Hand
    Und isst den Schnee vom Fensterrand
    Gestern war beim Schneessen ein Stückchen Brot an seinen Hut gebunden
    Und er hat dabei auch noch sehr hoch gesungen
    Sein Atem flog wie ein rauchgetriebener Papagei


    Das Bizarre ist in diesen Texten nie abgekoppelt von realer Not, vom Hunger beispielsweise, den die Menschen in der kommunistischen Zeit in Rumänien ja erlebt haben. Das scheinbar Verrückte spielt immer wieder mit hinein in diese kleinen Tableaux.

    Der Nachbar sagt
    Die Geschwister der Birnen sind alle Birnen
    Angesichts der wilden Stockwerke der Bäume
    Darf man sich nicht gelbe greise Vögel einbilden
    Dann sagt er noch ich kenn dich doch


    Wer spricht so? Ein geistig Verwirrter? Wer wird denn Birnen mit "gelben greisen Vögeln" verwechseln? Einer, der sich verstellt? Die letzte Zeile könnte eine versteckte Warnung enthalten. "Ich kenn dich doch", das heißt selten etwas Gutes. Eine Drohung? Der Nachbar ist in diesen Kontexten oft eben auch derjenige, der spioniert, der einen verrät. Aber das bleibt vorläufig Spekulation. Die faszinierend-schillernden Texte in diesem Band lassen vieles und das Entscheidende offen. Und doch kokettieren sie nicht mit ihrer Rätselhaftigkeit. Dem Leser, der lustvoll mit den Augen auf diesen Seiten spazieren geht, werden sie sich über kurz oder lang zu erkennen geben.

    Gestern sagte Herr Straub
    Holz macht stolz und dann
    Was immer passiert, Hauptsache kariert
    Ich dachte, er nimmt sich die Einfachheit die es eilig hat,
    aus dem Silbersack der Zeit.


    Buchinfos:
    Herta Müller: "Vater telefoniert mit den Fliegen". Hanser Verlag, München 2012, 208 Seiten, 19,90 Euro