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Würdigung eines verrufenen Gefühls

Der Zorn hat keinen guten Ruf. Und bei kaum einem Affekt klaffen Eigen- und Fremdwahrnehmung so weit auseinander. In seiner Essaysammlung lässt Helmut Ortner zwölf Stimmen zu Wort kommen, die den Zorn philosophisch, psychologisch, politisch, sozialgeschichtlich und moralisch beleuchten.

Von Sabine Peters | 23.05.2013
    Ein Donnerwetter ist im Anmarsch: Die Stirn des Zornigen umwölkt sich, seine Schläfenadern sind geschwollen, das Blut erhitzt sich und der Puls geht schneller. Die Gebärden werden heftiger, die Stimme wird laut: Was hier stattfindet, ist ein beeindruckendes Freisetzen von Energie.

    Im Christentum gilt der Zorn als eine der sieben Todsünden, für die man im Jenseits zu büßen hat. Aber im Diesseits ist immer schon der Zorn im Spiel gewesen, wenn Menschen sich ein Herz gefasst und Tyrannei in jeder Form bekämpft haben.

    Helmut Ortner, Jahrgang 1951, der unter anderem eine Biografie des frühen Hitler-Attentäters Georg Elser veröffentlichte, hat jetzt eine Sammlung von Essays zum Thema Zorn herausgebracht; sie ist als Hommage, als Würdigung dieses verrufenen Gefühls gedacht. Das Buch stellt psychologische, politische, theologische, kulturelle und historische Gesichtspunkte dieses Affektes vor. Viele Autoren verweisen auf die Schwierigkeit, den Begriff säuberlich von verwandten Gefühlen wie Hass, Wut, Grimm etc. zu trennen; unvermeidlich gibt es in dieser Textsammlung einige Wiederholungen. Aber dann finden sich auch immer wieder schöne kleine Erkenntnisfunken in den Essays.
    So stellt die Juristin Jutta Limbach fest, dass im Deutschen zwar auch wilde Tiere und der Sturm "wüten" können, doch nur den Menschen und den Göttern ist es gegeben, zu zürnen. Zorn hat ein Bewusstsein für Recht und Unrecht, er kennt einen Gegner. Trotzdem bleibt er ambivalent: Er kann maßlos und irrational werden - und doch ist er ein notwendiges Gegenstück zur Teilnahmslosigkeit.

    Die Historikerin Ute Frevert verweist auf die Zivilisierung des Zorns: Das uns heute so archaisch scheinende Duell mit Degen oder Schießeisen war seinerzeit etwas sehr Fortschrittliches; eine in Form gebrachte Aggression.

    Der Schriftsteller Peter Glaser, Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, wirft einen Blick auf heutige "Hooligans des Internets", die ihren erbosten Gefühlen ungehemmt Luft machen. Aber auch friedliebende Naturen können, so seine Beobachtung, gelegentlich gewalttätig werden: Wer hat denn nicht gelegentlich seinen Drucker beschimpft, die Tastatur verdroschen oder seine Maus mit harten Schlägen auf den Tisch gezüchtigt? In diesem Zusammenhang wurde der Fall eines Amerikaners berühmt, der seinen Laptop erschoss und als Jagdtrophäe an eine Wand in seinem Stammlokal aufhängte.

    Überzeugende, ästhetisch gelungene Beispiele für den Zorn finden sich natürlich vor allem in der Literatur, für die der Literaturredakteur Uwe Wittstock eine Lanze bricht. Goethes Gedicht "Prometheus" ist ein scharfzüngiger, selbstbewusster und dabei aufklärerischer Angriff auf die Götter. Auch bei Kleist, Kafka, Thomas Bernhard und Heiner Müller finden sich Passagen, in denen Zorn nicht behauptet und beschrieben wird, sondern wo er selbst spricht – und dabei ist auch immer Lust im Spiel, merkt Wittstock an. Zorn wärmt.
    Nicht alle Beiträge des Buchs sind nüchtern und sachlich, spöttisch oder ironisch-distanziert.

    Der Wirtschaftsjournalist Wolf Lotter entlarvt den weltbekannten "Furor teutonicus" als eine Legende: Schrecklicher und unheimlicher als das Wutgebrüll eines Tobenden ist allemal "der" Normalo; furchterregend sind all die ruhigen, bedächtigen Schreibtischtäter, sagt er, um anschließend vor "Gutmenschen und Moralaposteln" zu warnen. Auch Wutbürger sind ihm oft ein Gräuel, sofern sie pauschal alles Neue hassten. Lotter schreibt, Zitat, "Dann kommt es zu jenem neurotischen ‚Empört euch!‘, das selbstgerechte Greise vom Schlage eines Stéphane Hessel einer biedermeierlichen Jugend entgegenrufen ..." Natürlich kann man angesichts der Streitschrift des früheren Résistance-Kämpfers Hessel fragen, ob es überhaupt möglich ist, zur Empörung aufzufordern. Aber bei Lotters Einspruch fragt man sich seinerseits, spricht hier der Zorn, ist das Wut oder Grimm?

    Irritierend auch der Beitrag des Autors Alan Posener: Er nimmt den Anschlag auf die Twin Towers zum Anlass, um aus diversen - zugegebenermaßen abstoßenden - Zitaten prominenter Künstler und Intellektueller wie Karlheinz Stockhausen, Uwe Timm, Günter Grass, Botho Strauss oder Durs Grünbein den Schluss zu ziehen, diese geistige Elite habe das Naheliegende, nämlich den Zorn über den Anschlag, der "Springerpresse" überlassen. Posener unterstellt, es habe oft genug "klammheimliche Freude" geherrscht; und man fragt sich, ob die aus ihrem Zusammenhang gerissenen Zitate diese Behauptung bestätigen können. Aber der Autor, der sich an anderer Stelle selbst als Renegaten bezeichnet hat, sagt immerhin ausdrücklich, er spreche im Zorn.

    Was ist der Zorn, für wen? Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung klaffen oft weit auseinander. Da meint noch einer, ein gerechtes Anliegen machtvoll zu vertreten, aber die Gefühle sind längst mit ihm durchgegangen, und in den Augen eines unbefangenen, angstlosen Gegenübers wirkt er doch nur wie ein Rumpelstilz. Helmut Ortner hat an das Ende seines Bandes einen Essay des französischen Philosophen Michel de Montaigne aus dem 16. Jahrhundert gestellt, in dem es heißt, man solle den Zorn nicht zu lange schwelen lassen: Raus damit, aber nicht zu oft, denn sonst verliert er sein Gewicht.

    Anthologien sind immer Überraschungspakete, und es wäre schön, der Herausgeber hätte die Auswahl seiner Autoren im Vorwort begründet, oder er hätte in ausgleichender Gerechtigkeit auch zornige Naturen wie Heiner Geißler oder Uta Ranke-Heinemann zu Wort kommen lassen. Man hätte sich ohnehin gewünscht, den Zorn selbst häufiger sprechen zu hören, in seiner Ungerechtigkeit, seinem Recht, seiner Wucht und seiner Lächerlichkeit. Trotzdem, das Buch lohnt die Lektüre, denn auch die vielfältigen Reden "über" diesen verrufenen Affekt geben zu denken.


    Helmut Ortner (Hrsg.): Der Zorn. Eine Hommage.
    Zwölf Essays mit einem Nachwort von Michel de Montaigne. Verlag Zu Klampen, 176 Seiten, 24,00 Euro