Samstag, 20. April 2024

Archiv


Wunschkinder aus Brüssel

Medizin. - Das deutsche Embryonenschutzgesetz legt Wissenschaftlern und Reproduktionsmedizinern strenge Regeln auf und verbietet Techniken, die im europäischen Ausland Routine sind. Daher zieht es deutsche Paare mit unerfülltem Kinderwunsch immer öfter zu Ärzten in Nachbarländern.

Von Michael Lange | 20.02.2007
    An der Freien Universität Brüssel praktiziert Paul Devroey. Er ist ein weltweit anerkannter Reproduktionsmediziner. In seinem Wartezimmer sitzen von Jahr zu Jahr mehr Patientinnen und Paare aus dem europäischen Ausland. Viele fragen nach der so genannten Prä-Implantations-Diagnostik.

    "Wir haben hier viel Erfahrung mit der Prä-Implantations-Diagnostik. Wir führen sie etwa 900 mal im Jahr durch. Nach der künstlichen Befruchtung können wir am Embryo 80 verschiedene Erbkrankheiten erkennen. Wir testen aber nur bei einem konkreten Verdacht und nur auf eine einzige Krankheit."

    Viele Schicksale hat Paul Devroey in den letzten Jahren kennen gelernt. Meist kommen Paare aus Ländern, deren Gesetze der Reproduktionsmedizin enge Grenzen auferlegen: wie Deutschland, Österreich oder Italien.

    "Ich erinnere mich: Morgens um sieben Uhr stand – völlig aufgelöst – ein italienisches Paar, um die 25 Jahre alt, bei mir vor der Tür. Sie kamen aus Sizilien und in italienischem Englisch berichteten sie mir, dass sie ein behindertes Kind hätten, das im Rollstuhl sitzt. Nun wollten sie unbedingt ein zweites Kind. Aber das Risiko ließ ihnen keine Ruhe. Sie waren total verzweifelt."

    Bei einer Prä-Implantations-Diagnostik untersucht der Reproduktionsmediziner nach einer künstlichen Befruchtung gezielt den Embryo auf eine bestimmte Veranlagung. So kann er feststellen, ob das Kind behindert auf die Welt kommen wird. Dann wird ein Embryo ausgewählt, der nicht behindert ist. Seit mehr als 15 Jahren existiert diese Technik. Auch viele deutsche Reproduktionsmediziner halten sie in Einzelfällen für vertretbar, wie Klaus Diedrich von der Universitätsklinik in Lübeck.

    "Ich habe mal ein Paar, wo ich meinte, hier ist eine Indikation für eine Prä-Implantations-Diagnostik, nach Brüssel geschickt. Ich habe ja nichts gemacht. Ich habe die nur beraten über die Möglichkeit. Und der "Spiegel" schrieb nun einen Artikel darüber, mein Name wurde genannt, und es wurde dann von einer Frauengruppierung eine Anzeige gegen mich erstattet. Bei der Staatsanwaltschaft. Ich würde es immer wieder tun. Aber man steht da schon leicht vor dem Staatsanwalt."

    Trotz vieler kultureller Gemeinsamkeiten können sich Europas Politiker in ethischen Fragen bislang nicht einigen. Jeder hält seine eigene, nationale Gesetzgebung für die beste. Der belgische Reproduktionsmediziner Paul Devroey fordert eine für ganz Europa geltende Regelung.

    "Ich frage mich: Wo ist denn hier Europa? Das ist doch das pure Chaos. Man geht ins Gefängnis, wenn man eine bestimmte Methode in Köln oder Aachen durchführt, und bekommt Applaus, wenn man das gleiche ein paar Kilometer weiter in Lüttich macht. Das ist doch dumm. Absolut unverständlich. Ich würde gerne einmal die europäischen Abgeordneten bitten, bei uns in der Klinik vorbei zu schauen. Dann sehen sie, was los ist."

    Wenn sich Europas Politiker auch in den nächsten Jahren nicht einigen können, wird der so genannte Reproduktions-Tourismus weiter anwachsen. Paare, die sich mehrere 1000 Euro für die jeweilige Behandlung leisten können, werden immer häufiger auf Reisen gehen. Ihr Ziel: Private Zentren für künstliche Befruchtung im Ausland: Oft in Flughafennähe.

    Mehr über Europas Vielfalt finden Sie in der Werkstatt Europa.