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Yad-Vashem-Historikerin Dina Porat
"Man kann schlechte Erinnerungen nicht in 50 Jahren überwinden"

Dina Porat ist Chefhistorikerin von Yad Vashem: Der Wandel der Erinnerungskultur gehört ebenso zu ihren Forschungsgebieten wie die empirische Antisemitismusforschung. Neuerdings jedoch interessiert sich Porat auch für die katholische Kirche und die Frage nach einer offiziellen vatikanischen Anerkennung des Staates Israel.

Von Henning Klingen | 09.03.2016
    Papst Franziskus in Rom bei einer Audienz, im Hintergrund eine Flagge Israels.
    Dina Porats Übersetzungen von vatikanischen Dokumenten sind in Israel sehr erfolgreich (dpa / picture alliance / Fabio Frustaci )
    Wenn Dina Porat spricht, hängen ihr die Zuhörer an den Lippen. So unscheinbar, fast großmütterlich die 72-jährige Chefhistorikerin von Yad Vashem wirkt, so konzentriert und kompetent trägt sie ihre Thesen vor. In ihrer Heimat zählt Porat zu den öffentlichen Intellektuellen, die regelmäßig in Fernsehen und Radio auftreten. Der Wandel der Erinnerungskultur gehört ebenso zu ihren Forschungsgebieten wie die empirische Antisemitismusforschung, die sie an der Universität von Tel Aviv betreibt.
    Neuerdings jedoch interessiert sich Porat auch für die katholische Kirche. So hat sie zuletzt eine Sammlung vatikanischer und päpstlicher Dokumente zum Judentum auf Hebräisch übersetzt und in Israel veröffentlicht. Ein Überraschungserfolg. Die ersten beiden Auflagen sind bereits vergriffen. Tatsächlich gibt es ein wachsendes Interesse auf israelischer Seite an vatikanischen Äußerungen zum Judentum.
    "Was uns interessiert, sind zwei Dinge. Erstens, die volle kirchliche Anerkennung des jüdischen Leidens im Holocaust. Das erschöpft sich nicht nur in Besuchen in Yad Vashem, sondern bedeutet auch, keine Seligsprechung von Papst Pius XII., der für uns ein rotes Tuch ist. Und zweitens erwarten wir eine kirchliche Anerkennung des Staates Israel mit Jerusalem als Hauptstadt."
    Offizielle katholische Aussagen und auch Schuldeingeständnisse im Blick auf den Holocaust gibt es. Das räumt auch Porat ein. Die Person Pius XII. und sein Schweigen zur Judenvernichtung indes zählen bis heute zu den Stacheln im jüdisch-christlichen Verhältnis. Wenn es zu einer Seligsprechung käme, wäre dies aus jüdischer Sicht wohl ein Affront. Damit würden Vorbehalte gegenüber der katholischen Kirche bestätigt.
    Und die Frage nach einer offiziellen vatikanischen Anerkennung des Staates Israel? Tatsächlich stellten die jüngsten päpstlichen Besuche in Israel mit Ansprachen und politischen Begegnungen eine De-facto-Anerkennung dar, so Porat – aber eben keine Anerkennung de jure, also rechtlich-offizieller Art. Oder gibt es diese längst? Hat der Vatikan den Staat Israel vielleicht längst als rechtmäßig anerkannt – nämlich bereits vor 50 Jahren? Porat blickt zurück auf das Konzil und das Konzilsdokument "Nostra Aetate" von 1965.
    "Vielleicht hat die Kirche es noch nicht realisiert, aber sowohl 'Nostra Aetate' als auch die anderen Dokumente bis hin zur jüngsten Erklärung vom vergangenen Jahr enthalten nicht nur theologische Aussagen – sie sind hochgradig politisch. Denn sie sagen allesamt, dass wir weiterhin das auserwählte Volk sind. Wenn man das sagt, bedeutet das zugleich, dass unser Exil, das nun schon 2.000 Jahre andauert, eine Ungerechtigkeit darstellt, die beseitigt werden sollte. Es bedeutet die Zusage, dass die Juden zurückkehren dürfen in das Land ihrer Vorfahren. Anders gesagt, diese theologische Kehrtwende ist hochpolitisch, da sie die Rechtmäßigkeit des Staates Israel unterstreicht"
    Das ist genau der Knackpunkt in den Beziehungen zwischen Vatikan und Israel. Worüber wird eigentlich geredet? Über Politik oder über Theologisches? Gänzlich unterschiedliche Erwartungshaltungen seien der eigentliche Grund dafür, dass im Judentum noch ein Desinteresse am Christentum überwiegt. Auf den Punkt gebracht, die katholische Kirche, wenn sie über Israel nachdenkt, betreibt Theologie – das Judentum interessiert sich für die politische Perspektive, so die jüdische Historikerin.
    "Für die Kirche sind dies alles theologische Schritte. Die kirchlichen Dokumente kursierten vor allem innerhalb der Kirche, sie haben aber nie wirklich Israel erreicht. Und tatsächlich sind wir nicht interessiert an theologischen Debatten und der theologischen Kehrtwende in der Kirche. Wir brauchen keine Anerkennung seitens der Kirche, keine Bestätigung dafür, dass wir das auserwählte Volk sind."
    Porat lenkt den Blick zurück. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil besuchten vier Päpste Israel. Türöffner war das Konzils-Dokument "Nostra Aetate" von 1965. Ausdrücklich verurteilt es den christlichen Antisemitismus, die These von der jüdischen Schuld am Tod Jesu und jede Form antijudaistischer Elemente in der eigenen kirchlichen Lehre. Das habe man auch in Israel wohlwollend zur Kenntnis genommen.
    "Dann kam Papst Franziskus und veröffentlichte vergangenes Jahr eine weitere, sehr gute Erklärung, die 'Nostra Aetate' aufgreift und ausweitet. So heißt es darin ausdrücklich: Ein Christ kann kein Antisemit sein – wegen der christlichen Wurzeln im Judentum. Antisemitismus wäre wie ein Steinwurf gegen den eigenen Vater oder die Mutter. Und das Dokument enthält außerdem eine endgültige Absage an jede Form christlicher Missionierung unter Juden."
    Solche Papiere beachten aber nur die Experten, räumt die die an der Universität von Tel Aviv lehrende Historikerin ein. In der israelischen Bevölkerung überwiege Unkenntnis und ein nicht geringes Misstrauen der katholischen Kirche gegenüber:
    "Wir sind ein sehr altes Volk, fast 3500 Jahre alt, und wir haben ein langes Gedächtnis. Das Verhältnis zu den Christen war über viele Jahrhunderte nicht sehr gut und es gibt noch immer viele Vorbehalte. Man kann diese schlechten Erinnerungen nicht in 50 Jahren überwinden."
    Viele Juden seien auch skeptisch, inwieweit sich der Wandel im Denken, der aus den Dokumenten spricht, auch in den Herzen der Kirchenmitglieder niedergeschlagen hat.