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"Yalla Mann, voll korrekt"

Kiezdeutsch ist kein falsches Deutsch: Diese Ansicht vertritt die Potsdamer Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese. Die als "Kanak-Sprak" abgetane Sprechweise greife typische Eigenheiten der deutschen Sprache auf. Wiese spricht von einer Bereicherung.

Von Ingeborg Breuer | 16.02.2012
    "Was guckst du, machst du Stress oder was? Bist du schwul oder was?"

    Kiezdeutsch, nennt Heike Wiese jene Sprache, die der türkischdeutsche Comedian Kaya Yanar hier imitiert. Kiezdeutsch, so die Germanistikprofessorin aus Potsdam, das ist das Deutsch, das vor allem in multiethnischen Vierteln deutscher Großstädte gesprochen wird.

    "Die Migranten selber sprechen aber normalerweise kein Kiezdeutsch. Die Kiezdeutsch sprechen, das sind normalerweise die Nachkommen von Migranten, aber auch andere Jugendliche, die können deutschstämmig sein oder arabisch- oder türkischstämmig, die Großeltern sind vielleicht mal aus der Türkei gekommen."

    Kiezdeutsch gilt gewöhnlich als gebrochenes, schlechtes Deutsch, gilt als Sprache von wenig integrierten Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Heike Wiese aber hat genauer hingehört in den Multikultivierteln Berlins. Und kam zu dem Schluss: Kiezdeutsch ist kein falsches Deutsch. Kiezdeutsch ist Deutsch! Und zwar, wie sie schreibt, eine "faszinierende neue Entwicklung in unserer Sprache": die Entstehung eines neuen deutschen Dialekts, der sich dynamisch entwickelt.

    "Was für mich am spannendsten war, ist, dass es ein ganz typischer deutscher Dialekt ist. Also alles, was wir da finden, können wir aus dem Deutschen heraus erklären. Da sind viele grammatische Neuerungen, die wir im Standard nicht haben, es sind auch neue Wörter, neue Fremdwörter, zum Beispiel mal aus dem Arabischen oder Türkischen neue Optionen der Wortstellung. Ich kann Sätze anders bilden, ich kann sowas sagen wie: Danach wir gehen ins Kino, statt danach gehen wir ins Kino."

    Kreativ sei der neue Dialekt und keineswegs chaotisch und regellos. Seine sprachlichen Eigenschaften seien fest verankert in der deutschen Grammatik, auch wenn er diese in teilweise eigenwilliger Weise weiter entwickle. Wie übrigens, so Heike Wiese, jeder Dialekt es tue. "Machst du rote Ampel". "Gibs auch 'ne Abkürzung." "Heute muss ich wieder Solarium gehen" oder "Yalla Mann, voll korrekt". Solche Besonderheiten basieren durchaus auf Eigentümlichkeiten des Deutschen. Zum Beispiel:

    "Gestern war ich so beim Arzt."

    Die ungewöhnliche Verwendung von "so":

    "Oder ich mag so Kaninschen, ich mag so Puder, es antwortet nicht mehr auf 'wie', es hat keine modale Bedeutung mehr, trägt nicht zum Inhalt bei, sondern zur Struktur des Satzes. Wir hatten zum Beispiel eine Jugendliche, die sagte: Ich mag Alpa Gun, weil der so aus Schöneberg kommt."

    Diese Verwendung von "so", wodurch das folgende Wort besonders betont wird, findet sich aber, wenn auch weniger verbreitet, ebenso umgangssprachlich in der deutschen Standardsprache. Bei Charlotte Roche oder Johannes B. Kerner etwa, weist Heike Wiese in ihrem Buch nach.

    "Dieses 'So' als Fokusmarker finden wir nicht nur in Kiezdeutsch, sondern auch außerhalb. Da sehen wir wieder wie urdeutsch Kiezdeutsch eigentlich ist."

    Anderes Bespiel: Ich frag mein‘ Schwester. Auch hier greift das Kiezdeutsch nur etwas typisch Deutsches auf. Denn auch das Standarddeutsche verkürzt, z.B. in Wendungen wie: "ich hab'" statt "ich habe". "Wo’s das Handy" statt "Wo ist das Handy".

    "Kiezdeutsch reduziert an manchen Stellen, so wie das Standarddeutsche auch reduziert an manchen Stellen. Wenn ich sage, ich hab gestern mein‘ Vater gesehen, da sagt auch keiner meinen Vater, wir verkürzen da ganz stark. Kiezdeutsch ist da einen Schritt weiter, in der Angleichung der Endungen, das ist 'ne Tendenz, die wir im Deutschen beobachten, die im Kiezdeutsch schon ein bisschen weiter ist."

    Und auch Konstruktionen wie "Wir gehen Görlitzer Park", "Ich bin Schule" oder "Isch geh Aldi" sind im Deutschen bereits angelegt. Etwa wenn man sagt: "Sie müssen Alexanderplatz aussteigen" statt "am" Alexanderplatz. Und auch: "Lassma Kinogehen", "Ischwör" oder "Isch mach dich Messer" sind zwar grammatische Innovationen, die aber in das System des Deutschen und seiner möglichen Entwicklungspfade passen.

    "Du guckst so, dass man kommt mit seiner 3er BMW, was geht so ja, sagt schüüch, wie machst du mich so an, Mann."

    Für Heike Wiese ist das Kiezdeutsch eine spannende Bereicherung des Deutschen und keineswegs der Untergang der deutschen Hochsprache. Und im Übrigen, entgegen üblicher Vorurteile, auch nicht die einzige Sprache, die die Jugendlichen sprechen können.

    "Das gilt für alle Jugendlichen, die Kiezdeutsch sprechen, dass sie auch noch andere Varianten des Hochdeutschen sprechen. Die sprechen nicht so mit Lehrern und Eltern und auch nicht mit uns. Wir mussten den Jugendlichen Aufnahmegeräte mitgeben, damit sie sich aufnehmen, wenn wir nicht dabei waren, weil sie mit uns Standard sprechen. Das heißt nicht, dass jeder Jugendliche, der Kiezdeutsch spricht, perfektes Standardschriftdeutsch der Schule beherrscht. Das ist bei uns generell ein Schichtenproblem, das hat nichts mit Kiezdeutsch zu tun, sondern hat was damit zu tun, wie erfolgreich mein Schul-besuch war."

    Warum aber, fragt man sich dann, ist Kiezdeutsch so schlecht angesehen?

    "Dialekte sind immer schlecht angesehen, das ist nicht nur in Deutschland so. Sondern, alles was vom Standard abweicht, wird erst einmal als Fehler wahrgenommen. Bei Kiezdeutsch kommt noch hinzu, dass wir ne ganz starke Assoziation haben von Jugendlichen mit Migrationshintergrund und Sprachprobleme. D.h. wenn man hört, das ist ne Jugendsprache, die von ner ganz bestimmten Gruppe gesprochen wird, die ich sowieso schon implizit abwerte, dann werte ich auch die Sprechweise von denen ab."

    Eine Sprechweise allerdings, die sich weiterhin dynamisch ausbreiten wird. Denn Kiezdeutsch, so stellen Linguisten überrascht fest, ist nicht nur in deutschen multikulturellen Vierteln verbreitet. Überall in Europa, wo Menschen verschiedener Ethnien und Herkunftssprachen zusammenwohnen, bildet sich eine Kiezsprache mit ähnlichen Eigenschaften heraus.

    "In anderen Ländern gibt’s kein Kiezdeutsch, aber man könnte es dann kiezdänisch, kiezholländisch, kiezschwedisch nennen, englisch sowieso. Überall in Europa, wo sich in urbanen Gebieten viele Jugendliche treffen, viele unterschiedliche Sprachen zusammen kommen, entwickeln sich sehr dynamische neue Jugendsprachen."