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Yves Grevet: "Vront"
LongLife-Chip neben dem Herzen

Seine dystopische Romantrilogie "Méto" hat Yves Grevet in Frankreich und bei uns bekannt gemacht. Danach folgte eine weitere Dystopie, der Zweiteiler "Nox". Grevet bleibt dem Thema auch mit seinem neuen Roman treu: In "Vront" wehrt sich eine Gruppe Jugendlicher gegen umfassende Überwachung.

Von Siggi Seuß | 16.05.2020
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Der Franzose Yves Grevet, Jahrgang 1961, ist ein Meister des dystopischen Romans (Cover Mixtvision / Autorenportrait © Editions Syros, Paris)
"Dienstag, 24. Januar. Wie jeden Morgen führe ich meinen täglichen Gesundheitscheck durch, indem ich den kabellosen Scanner etwa zehn Sekunden lang an die Stelle neben dem Herzen halte, wo mein LongLife-Chip sitzt",
… berichtet der 14-jährige Stan.
"Den Check muss Jeder gleich morgens nach dem Aufstehen machen. Die Box, die in den meisten Haushalten im Badezimmer angebracht ist, zeigt daraufhin eine Meldung an oder gibt wahlweise auch eine Sprachnachricht aus. Leuchtet die Anzeige rot auf, liegt ein ernstes Problem vor, das sofort an das allgemeine Kontrollzentrum und den Hausarzt weitergeleitet wird, der einen dann in ein Krankenhaus überweist. Das passiert allerdings ziemlich selten. Wenn die Anzeige orange leuchtet, hat das Gerät eine harmlose Infektion erkannt. (…) An den meisten Tage blinkt ein grünes Licht auf: keine Auffälligkeiten. Heute Morgen meldet der Computer: Schlafmangel. Beeinträchtigt deine Fähigkeit, neues Wissen aufzunehmen. LongLife empfiehlt eine Tablette L6 sowie weitere drei Stunden Schlaf."
Pervertierte Form sozialen Friedens
In dem nicht näher genannten Staat mit der Hauptstadt Newville herrscht eine pervertierte Form sozialen Friedens, weil in einer durch und durch digitalisierten Welt die Regierung jedem Menschen einen Chip hat implantieren lassen. Herzschlag, Pulsfrequenz und sämtliche Erregungszustände werden laufend an eine Zentrale übermittelt, und im Krisenfall erscheint eine Eingreiftruppe vor Ort. Damit werden zwar viele kriminelle Taten und Gefährdungen der Gesundheit erkannt oder gar verhindert, aber zu welchem Preis?
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nimmt das klaglos hin. Unter jungen Menschen jedoch wächst der Unmut. So hat sich eine Widerstandsgruppe namens VRONT gebildet – "Vront" mit V, das "V" steht für "Victory". Sie hackt sich immer wieder ins Überwachungssystem ein, um sich die eine oder andere persönliche Freiheit zu ertrotzen. Die Vront besteht aus einer Gruppe gewiefter Schüler und Studenten, die sich durch Talente unterschiedlichster Art auszeichnen.
"Wir sind nicht nur erlebnishungrige jugendliche Draufgänger. Wir haben auch unsere Überzeugungen",
…erzählt Stans älterer Bruder Scott.
"Wir kämpfen gegen LongLife, diese allmächtige Firma, die unter dem Deckmantel der Sicherheit unsere Freiheiten beschneidet und voll und ganz über uns verfügt. Ihre Technik kann unser Leben verbessern, es aber auch schlimmer machen oder es sogar aussetzen. Und was passiert – was zum Glück noch nie vorgekommen ist -, wenn Kriminelle das System hacken?"
Dramatische Entwicklung
Der 17-jährige Scott - ein genialer Computerfreak und Hacker - ist Mitbegründer von Vront. Er und sein jüngerer Bruder Stan - der den Älteren bewundert, aber nichts von dessen Treiben weiß - stehen im Zentrum des Romans. Die Leser verfolgen die dramatische Entwicklung der Geschichte über den Zeitraum eines Vierteljahres, zuerst aus der Sicht Stans, dann aus Scotts Perspektive. Und schließlich kommen im letzten und nervenaufreibendsten Akt auch andere Mitglieder der Widerstandsgruppe zu Wort, wie zum Beispiel, Felix.
"Wir haben in der Vront beschlossen, Scotts Bruder auf dem Weg zur und von der Schule zu beschatten, um direkt eingreifen zu können, falls ihm Gefahr droht. (…) Ich hatte schon so eine Ahnung, dass was passieren könnte, denn ein Piratensender hat in der Nacht gemeldet, dass LongLife von einer Cyberattacke getroffen worden ist und die Geolokalisierung der Implantate nicht mehr gewährleistet werden kann."
Schritt für Schritt baut Yves Grevet Spannung auf. Er lässt die Dialoge fließen - manchmal kommen sie lapidar daher, manchmal spitzen sie die Dramatik zu - und treibt die Handlung in einem Tempo voran, das keinen Leerlauf zulässt. Der Autor entwickelt die Charaktere dabei nur in dem Maße, in dem sie dem Fortgang der Geschichte dienen.
Scott gerät zwischen die Fronten
Nachdem Scott verhaftet wird, kann er sich nur schwer der Brutalität der Gefängnisgangs erwehren. Um zu überleben, sieht er keinen anderen Ausweg, als sich mit einer Seite zu arrangieren – der Seite, hinter der ein ominöser Strippenzieher steckt, der sich selbst Boss nennt. Der nutzt Scotts Hackerkunst für seine Zwecke: das Überwachungssystem LongLife in seine Gewalt zu bringen. Da sich auch sich auch die Sicherheitsbehörden nach einer Serie von Morden für diesen Boss interessieren, gerät der Junge zwischen die Fronten. In seiner Not lässt er sich auf einen Deal mit den Behörden ein.
"Ich habe in den Plan eingewilligt. Heute Nachmittag werde ich am Grünen See sterben. Ich soll vom Steg ins Wasser fallen und ertrinken. Ich komme mir vor wie die Hauptfigur in einem Roman. Die Polizei regelt das genaue Timing. Unfall, Alarm, Eintreffen der Rettungskräfte, Feststellung des Todes. Ich muss nicht mal vor Ort sein, alles wird von Statisten in Berichten festgehalten. Nur in der Leichenhalle muss ich selbst mitspielen."
Zum Trost der Leser unterfüttert Grevet das Geschehen mit bewährten adoleszenten Themen, mit erster Liebe und verlässlicher Freundschaft. Die nicht versöhnliche, wenn auch nicht gerade realistischste Botschaft des Romans: Es bahnt sich ein Joint Venture zwischen den politischen Machthabern und den jungen Leuten an. Das klingt fast so, als würden die Nerds eines Chaos Computer Clubs die Regierungsgeschäfte eines autoritären Staates unterstützen, um den Worst Case zu verhindern: die Machtübernahme durch ein Verbrecherkartell. Ob das die politische Führung tatsächlich zu neuen Einsichten zwingt, die das System liberalisieren, bleibt offen. Hinter den Wendungen des Romans steht am Ende also ein großes Fragezeichen. Und – deutlicher als in "Méto" und "Nox" - eine sanfte Hoffnung auf die Reformierbarkeit eines totalitären Systems.
Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Anerkennung
In "Vront" verwischen sich die Grenzen von Oben und Unten etwas mehr als in den früheren dystopischen Romanen Grevets. Strippenzieher sind neben einem obskuren privaten Überwachungsunternehmen kriminelle Clans. Auf der anderen Seite steht die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die es gelernt hat, sich im vorauseilenden Gehorsam selbst zu disziplinieren. Dazwischen: junge neugierige Menschen – sicher eine Minderheit –, deren Leben zwar von Alltagsnöten, Sorgen und familiären Konflikten geprägt ist, die aber eine tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Anerkennung antreibt.
Als Leser haben wir die Freiheit, die Geschichte und das Verhalten der Menschen in Newville mit jeder beliebigen Zeit und mit jedem beliebigen Ort zu assoziieren. Wir können sie in jugendlichen Widerstandsgruppen während der Nazizeit verorten, wir können sie in totalitären und autokratischen Systemen der Gegenwart vermuten, wir können sie als potenzielle Risiken einer näheren oder ferneren Zukunft im eigenen Lande erkennen oder eben auch als in uns selbst angelegte positive und negative Potenzen.
Yves Grevet: "VRONT. Was ist die Wahrheit?"
Aus dem Französischen von Nadine Püschel
Mixtvision Verlag, München 2020. 476 Seiten, 19 Euro, ab 12 Jahren.