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Zadie Smith: "London NW"
"Freiheit ist furchterregend!"

Mit ihrem Debüt "Zähne zeigen" landete Zadie Smith 2000 einen Bestseller und avancierte zu Großbritanniens Star-Autorin. Ihr vierter Roman, "London N-W", lebt von der Spannung zwischen Innen- und Außenperspektive und lässt dem Leser die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie er zu Smiths Charakteren steht.

Von Nike Zafiris | 13.05.2014
    Die englische Schriftstellerin Zadie Smith bei einer Veranstaltung im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2014
    "London North-West" heißt das Viertel, in dem auch die britische Autorin Zadie Smith aufgewachsen ist. (picture-alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
    N-W: Im britischen Postleitzahlencode stehen diese beiden Buchstaben für "London North-West". Es ist das Viertel, in dem Zadie Smith aufgewachsen ist. Bereits in "Zähne zeigen", dem Debütroman der heute 38-Jährigen, diente der Nordwesten Londons als Schauplatz der Erzählung. "London N-W" ist in ihrem jüngsten Roman nicht nur Buchtitel und Schauplatz, sondern geradezu ein Hauptdarsteller:
    "Die Persönlichkeit des Viertels ist einfach Teil des Buches. Ich hätte es nicht über ein anderes Viertel schreiben können. Es gibt viele Bücher, die anderen Ecken von London gewidmet sind, aber der Nordwesten Londons ist einfach ein besonderer Ort, mit seinem ganz eigenen Charakter, über den ich schon immer gerne geschrieben habe."
    Auch die vier Hauptfiguren Leah, Natalie, Felix und Nathan stammen aus dem von Armut geprägten multiethnischen Arbeiterviertel. Groß geworden in einer tristen Sozialbausiedlung suchen die vier Mittdreißiger ihr persönliches Glück. Doch für jeden der vier bedeutet Glück etwas anderes.
    Während die irisch-stämmige Leah sich wünscht, die Zeit würde still stehen und sie wäre ewig 18 geblieben, möchte ihr Mann Michel, ein französischer Friseur mit algerischen Wurzeln, sich unter allen Umständen weiterentwickeln. Er will vorwärtskommen, eine Familie gründen, reich werden und so seiner eigenen sozialen Schicht entkommen, für die er sich schämt. Im Gegensatz dazu ist es für Zadie Smith, Tochter einer Jamaikanerin und eines Engländers, nicht unbedingt der Aufstieg in die Mittelschicht, den sie sich für die Menschen wünscht, mit denen sie aufgewachsen ist:
    "Wenn Sie mich fragen – wünsche ich allen Menschen mit denen ich aufgewachsen bin, einen Aufstieg in die Mittelschicht? Nein, nicht unbedingt. Wir wollen nicht auf Privatschulen gehen. Wir wollen mehr Geld für unsere Schulen. Wir wollen auch keine Privatkliniken, wir wollen Geld für unsere Krankenhäuser. Ich finde, dass die Gegend, die Gemeinschaft aus der ich komme, keineswegs etwas ist, wofür man sich schämen muss - sie war nur einfach unterfinanziert. Michel aber strebt nach etwas ganz anderem. Er versucht unter allen Umständen, reich zu werden. Er will sein altes Leben einfach abstreifen."
    "Ich glaube nicht, dass ein hoher sozialer Status glücklich macht"
    Natalie, Leahs beste Freundin seit Kindertagen, hat es bereits geschafft, ihrem früheren Leben zu entfliehen. Sie arbeitet erfolgreich als Anwältin, hat einen Banker aus guter Familie geheiratet, ein schönes Haus und zwei hübsche Kinder - doch glücklich ist auch sie nicht:
    "Natalie hat zwar all diese gesellschaftliche Anerkennung erreicht, aber es geht ihr total schlecht. Wenn Sie mich fragen, glaube ich nicht, dass ein hoher sozialer Status einen glücklich macht. Ich glaube, es macht die Menschen glücklich, wenn sie im Leben all ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten ausschöpfen können. Natürlich kann das manchmal dazu führen, dass sie einen höheren sozialen Status erreichen, aber der soziale Status an sich macht sie auf keinen Fall immer glücklich. Er dient nur als Beweis für einen selbst, dass man mehr erreicht hat als andere. Aber das verhilft einem höchstens zu einem hohlen und eindimensionalen Glücksgefühl, das nicht sehr lange anhält, weil man dafür immer mehr und mehr erreichen muss."
    Wahres Glück scheint allein Felix gefunden zu haben. Dank seiner neuen Freundin Grace nimmt er keine Drogen mehr und möchte seine Chance auf ein erfülltes Leben mit ihr möglichst schnell verwirklichen. Hier wird bereits angedeutet, welcher Hoffnung die Autorin in ihrer Erzählung Ausdruck verleihen möchte, denn Felix, der Glückliche, findet Grace, schon vom Namen her die Personifikation von Vergebung. Doch dennoch findet Smith für ihn im Roman kein gutes Ende. Denn das sei schließlich die Realität, in der wir leben:
    Realität beschreiben und nichts beschönigen
    "Gibt es überhaupt eine andere Realität? Abgesehen vielleicht von der Realität von Disney Filmen, wo man auf keinen Fall stirbt, wenn man das Titellied singt oder einem nichts Böses widerfahren kann, wenn man zu den Guten gehört? Ich beschreibe die Welt nicht schlechter, als sie ist. Es ist einfach nur so, dass einem im Leben alles Mögliche passieren kann. Und dass es keinen Weg gibt, sich selbst davor zu schützen. Man wird in dieses Leben hinein geworfen und muss dann irgendwie damit zurechtkommen, während man es lebt. Niemand kann das einem abnehmen. Leben ist mitunter eine sehr einsame Erfahrung, und da muss jeder alleine durch."
    Die Realität beschreiben und nichts beschönigen – dieses Ziel immer vor Augen, erzählt uns Zadie Smith von Leah, die ihren Mann zwar liebt, aber jahrelang belügt, und von Natalie,
    die trotz Erfolg und Familienglück immer wieder versucht, ihrem Leben und ihrem Ehemann zu entfliehen:
    "Unsere Kultur, also all diese Frauenmagazine zum Beispiel, sie versuchen uns immer davon zu überzeugen, dass Frauen unbedingt heiraten möchten und Männer das nicht wollen. Und sie setzen uns mit dieser Auffassung total stark unter Druck, obwohl jeder doch eigentlich weiß, dass in der Realität nichts davon wahr ist. Und ich wollte schließlich über die Realität schreiben. Frauen wird von klein auf eingeredet, dass Männer für sie im Leben das Wichtigste sind, aber wenn man sich die Frauen in seiner Umgebung anschaut, dann sieht man, dass das nicht stimmt. Und ich wollte schließlich über die Frauen schreiben, die ich kenne."
    Zadie Smith widmet jeder Figur ein eigenes Kapitel. Mit großem Gespür für ihre Hoffnungen, Träume und Enttäuschungen lässt die Autorin uns Leser daran teilhaben. Sie erzählt stark aus den Innenperspektiven der Figuren heraus. Doch mit Nathan sieht die Sache anders aus. Einst der gut aussehende Schulschwarm von Leah und Natalie, lebt er nun als Drogenjunkie und Zuhälter, von dessen Innenleben wir nicht viel erfahren sollen.
    "Weil ich wollte, dass er im Buch der Außenstehende bleibt. Damit der Leser wirklich begreift, wie er zu diesem einsamen Schwarzen steht, der auf der Straße lebt. Ich hätte den Lesern auch Nathans Innenlebens zeigen können, damit sie beginnen, ihn zu lieben, aber darum ging es mir nicht. Ich wollte den Lesern klarmachen, was sie wirklich denken, wenn sie ihm auf der Straße begegnen und wie sehr sie sich von ihm bedroht fühlen. Es ging mir darum, seine Andersartigkeit zu bewahren und ihn nicht zu domestizieren, damit er besser in meinen Roman passt."
    Spannung zwischen Nähe und Distanz, Emotion und Nüchternheit
    Einem Roman, der von der Spannung zwischen Innen- und Außenperspektive, Nähe und Distanz, Emotion und Nüchternheit lebt. Aufgrund der Vielschichtigkeit ihrer Charaktere ist es plausibel, dass Zadie Smith sich bei ihren unterschiedlichen Figuren verschiedener Schreibstile und Erzählformen bedient.
    Mal in einem fließenden Bewusstseinsstrom, wie bei Leah, bei dem Interpunktion oder Dialogzuweisung keine Rolle mehr zu spielen scheint. Oder auch in 185 klar abgetrennten Kapiteln, in denen Natalies Leben regelrecht abgearbeitet wird – je nach Wahl der Autorin durch seitenlange Schilderungen, einzelne Sätze oder aber in Gedichtform:
    "Das ist einfach eine Art von Realismus. Wenn ich wirklich beim Schreiben ausdrücken wollte, wie es in meinem Kopf aussieht im Gegensatz zu dem, was in anderen Köpfen vorgeht – man kann sich einfach sehr schwer vorstellen, wie das dann auf dem Papier aussehen würde. Denn da sind verschiedene Welten in unseren Köpfen und die meisten Romane ignorieren diese Tatsache einfach. Aber beim Schreiben sollte man das auf jeden Fall beachten. Auch damit der Stil am Ende etwas Unzusammenhängendes bekommt. Und das passt auch wieder zu dem, was man erlebt, wenn man durch eine Großstadt geht. Vor allem in London kannst du nie wissen, was dich an der nächsten Ecke erwartet und musst dich immer wieder neu zurechtfinden."
    Ob Leah, Natalie, Felix oder Nathan - unablässig begleiten wir Zadie Smiths Figuren auf ihren Wegen durch den Nordwesten Londons, sehen sie zögern, sehen sie handeln und Entscheidungen treffen, und müssen uns dann selbst ein Urteil bilden. "Die Leute kriegen in der Regel das, was sie verdienen", erklärt Natalie ihrer Freundin Leah am Ende der Erzählung. Dass viele Leser dies für eine angemessene Sichtweise hielten, habe sie fasziniert, erzählt Zadie Smith:
    "Sie hat hart gearbeitet und jetzt erntet sie die Früchte. Viele Leser fanden das toll. Aber ich selbst sehe Natalie ganz anders. Wir sagen oft 'Jeder bekommt, was er verdient', aber das ist nicht nur einfach eine Redensart, es ist auch einer der Grundsätze unserer Politik und unseres politischen Lebens. Es dreht sich alles nur um Leistung und Verdienst. Menschen, die der Mittelschicht angehören, so wie ich ja jetzt auch, glauben immer, ihre Kinder seien einfach genial und es sei kein Zufall, wenn sie erfolgreich sind. Sie glauben, das sei einfach angeboren.
    Aber dann müssten sie eigentlich auch an das Gegenteil dessen glauben, auch wenn sie es nicht laut aussprechen. Nämlich, das Menschen, die Pech haben und arm sind, eigentlich gar kein Pech haben, sondern dass das einfach ihre vorbestimmte Lebensweise ist, die es ihnen unmöglich macht, Teil dieser ach so tollen Mittelschicht zu werden. Und dass solche Gedanken, für die man sich vor fünfzig Jahren noch geschämt hätte, plötzlich wieder ausgesprochen werden, dass an sie geglaubt wird, und das besonders von junge Menschen, die in einer konservativen Generation aufgewachsen sind – das sind wirklich die Menschen, mit denen ich reden wollte."
    "Es ist verdammt schwer, zu sich selbst ehrlich zu sein"
    Trotzdem sei "London N-W" letzten Endes nicht nur ein Roman über soziale Ungerechtigkeit. Vielmehr gehe es, wie bei all ihren anderen Werken auch, vor allem darum, den Weg zu einem wahren und authentischen Leben zu finden:
    "Natürlich geht es mir auch um soziale Gerechtigkeit, aber letzten Endes muss jeder von uns selbst auf seine innere Stimme hören und eine Möglichkeit finden, seine eigene Wahrheit zu leben. Das gilt für jedermann, ob reich, arm, farbig oder weiß. Mit 'London NW' wollte ich den Menschen zeigen, wie verdammt schwer es ist, zu sich selbst ehrlich zu sein. Wir errichten unglaubliche Mauern und würden alles tun, nur um der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Und darum geht es mir in meinem Roman."
    Das Ende von "London N-W" solle mit dieser bitteren Erkenntnis über uns selbst jedoch nicht ausschließlich Perspektivlosigkeit vermitteln, wünscht sich Zadie Smith. Vielmehr glaube sie an das, was der englische Schriftsteller Graham Greene einmal gesagt hat:
    "Es gibt immer die Möglichkeit der Gnade, dieser Moment, in dem du eine Art Erleuchtung hast und das Leben verstehst. Und ich hoffe, dass sowohl Leah als auch Natalie beide einen Weg finden werden, in ihrem Leben authentischer zu sein. Das ist immer möglich, aber es ist einfach verdammt hart, sich zu ändern. Man ist so verwurzelt in seinen Gewohnheiten. Es fühlt sich einfach sicherer an, sich immer wieder selbst zu belügen."
    Und je älter man werde, desto schwieriger sei es, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Besonders in den Dreißigern, ab der Mitte des Lebens, sei es für viele Menschen, so wie für die vier Hauptcharaktere in "London N-W", regelrecht angsteinflößend, die Freiheit, aber auch die Verantwortung dafür zu haben, ihr eigenes Glück selbst zu finden:
    Freiheit und Verantwortung, die eigene Wahrheit zu finden
    "Das Leben ist nicht mehr hypothetisch, wir werden nicht mehr etwas, sondern wir sind es bereits. Das ist ein furchterregendes Gefühl für die meisten Menschen, weil es ihnen die Wahlmöglichkeit nimmt und sie sich am Ende für die eine Sache entscheiden müssen. Aber genau darum geht es: Freiheit ist furchterregend!"
    Freiheit und Verantwortung, darum dreht sich nicht nur alles im Leben ihrer vier Romanfiguren. Zadie Smith zwingt auch uns Leser, selbst zu entscheiden, wie wir zu ihren Charakteren stehen. Manch ein Kritiker hat ihr deshalb vorgeworfen, zu wenig Empathie für ihre eigenen Figuren zu empfinden. Stattdessen macht gerade das für mich die hohe Qualität und den außergewöhnlichen Anspruch ihrer Erzählung aus. Denn mit "London NW" nimmt die Autorin uns zwar nicht an die Hand, doch sie gesteht uns auf jeder einzelnen der 432 Romanseiten die Freiheit zu, unsere eigene Wahrheit selbst zu finden.

    Zadie Smith: "London NW".
    Aus dem Englischen von Tanja Handels.
    Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 432 Seiten, 22,99 Euro.