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Zählen und Rechnen

Wer jeden Tag sein Geld verdienen und es dann auch wieder ausgeben muss, weiß was Geld ist, betonte Gertrude Stein schon vor siebzig Jahren; wer hingegen über Geld nur abstimmt, weiß das meist nicht so ganz genau: Für den einen ist der Unterschied zwischen drei Dollar oder einer Million ziemlich konkret, für den anderen sind das alles nur Zahlen. Aktualisiert man das unter den geradezu idealtypischen Vorzeichen der bundesdeutschen Kollektiv-Hiobiade heißt das vielleicht: Wer demnächst auf einen der vorgesehenen Ein-Euro-Jobs verwiesen wird oder auf die Neuregelung des Arbeitslosengeldes, weiß genau, was er sich alles nicht wird leisten können. Ob hingegen diejenigen, die diese Programme verabschiedet haben, um den Standort Deutschland zu optimieren, so genau wissen, welche Folgekosten späterhin auf ausnahmslos alle Beteiligten zukommen werden, darf bezweifelt werden.

Von Michael Schmitt | 26.11.2004
    Aber das ist natürlich ein recht weites Feld – bleiben wir also lieber bei unsere Kernkompetenz, denn es geht an dieser Stelle ja eigentlich nur um Literatur, genauer gesagt um fünf Zeitungsartikel, die Gertrude Stein 1936 veröffentlicht und in denen sie alles über Geld ausgebreitet hat, was nach Meinung einer Schriftstellerin zu wissen lohnt. Im Wesentlichen folgendes: Tiere können nicht zählen, Menschen hingegen schon; und weil sie zählen können haben sie Geld; und weil sie Geld haben, haben sie auch ein Problem damit. Daraus entwickelt Stein abrundend noch ein paar defätistische Ansichten über Vergesellschaftung im allgemeinen, über den Sozialismus im besonderen und über das Problem mit der Arbeitslosigkeit, wenn "arbeitslos" erst einmal zu einer Art von gesellschaftlichem Status geworden ist.

    Das alles klingt nicht unbedingt sozialdemokratisch-menschenfreundlich, aber deswegen auch lange noch nicht neoliberal, es ist vor allem frech und respektlos nach allen Seiten, liest sich wie einfach so dahergesagt und ist doch ganz genau zurecht geschliffen. Sagen wir also unumwunden: Das ist ein bescheidener Triumph der Poesie über jede andere Rede vom Mammon. Denn wenn Gertrude Stein fragt "ist Geld nun Geld oder ist Geld nun nicht Geld", dann ist der Weg nicht weit zu jenem einen Satz, in dem man alle ihre poetologischen Vorstellungen gebündelt findet, nämlich "eine Rose ist eine Rose ist eine Rose". Schlichtes Vokabular, Umstellungen und Wiederholungen von Satzteilen, Spielerein mit dem Lautbestand – die literarische Moderne angewandt auf das zentrale Schmiermittel der Gesellschaft. "Geld" daher auch kein Manifest, auch kein Wegweiser in die Zukunft, sondern lediglich ein ausgezeichnetes Antidepressionsmittel für alle fußkranken Mitläufer der vielbeschworenen Globalisierung

    Gertrude Stein
    Geld
    Friedenauer Presse, 24 S., EUR 9,90