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Zaza Burchuladze: "Der aufblasbare Engel"
Ein postmodernes Kabinettstück

Der Georgier Zaza Burchuladze ist einer der schärfsten Kritiker des religiösen Fundamentalismus in seinem Land. In seinem neuen Roman spielt der Autor virtuos mit Horror- und Zombie-Motiven und zeichnet von der gesellschaftlichen Realität seines Landes ein vernichtendes Bild.

Von Angela Gutzeit | 06.12.2018
    Buchcover Zaza Burchuladze: „Der aufblasbare Engel“ und im Hintergrund ein Kirchenfenster
    "Der aufblasbare Engel": erschreckende Realität hinter popliterarischer Fassade (Buchcover Aufbau Verlag / Hintergrund Jelina Berzkalns)
    Man könnte es ohne weiteres dabei belassen, Zaza Burchuladzes Roman "Der aufblasbare Engel" als einen rein popliterarischen Spaß zu betrachten. Das gesamte Setting ist von der ersten Seite an komplett absurd. In einer Tifliser Wohnung widmen sich Nino und Niko Gorosia einer nächtlichen Séance. Sie, Nino, ausgestattet mit einem "eisernen Willen", ist als einfache Beamtin im Rathaus der georgischen Hauptstadt tätig. Niko, ihr Ehemann, wird als ein gescheiteter Filmemacher eingeführt. "Seine Gestalt besaß etwas politisch Unkorrektes, wie ein depressiver Psychopath, dabei weich und formbar", heißt es über ihn. Zu den beiden gesellt sich ein weißer Bullterrier, der auf den Namen Foucault hört. Angeblich allein aus physiognomischen Gründen. Zur nächtlichen Geisterbeschwörung scheint sie die Langeweile zu treiben. Das Ehepaar einigt sich darauf, den griechisch-armenischen Esoteriker Georges Gurdjieff aus dem Jenseits herbeizuzaubern.
    "Die Idee mit der Séance war Nino im Büro gekommen, als sie durchs Internet surfte. Niko hatte nichts einzuwenden gehabt. Es ist auch schwer, der eigenen Ehefrau die Stirn zu bieten. Besonders wenn sie mit einem Toten in Kontakt treten möchte. Er hatte nur gefragt: "Warum ausgerechnet Gurdjieff?", und in Gedanken hinzugefügt, "warum nicht …sagen wir …" Gerne hätte er einen bedeutenderen Toten genannt, doch fiel ihm außer dem Papagei, den er als Kind besessen hatte, niemand ein. (…) "Weil", und nach einer Pause fügte Nino hinzu: "Weil wir mit ihm, falls es klappt, Georgisch sprechen können."
    Im Gestrüpp der Zeichen und Verweise
    Gurdjieff erscheint zu ihrer Überraschung tatsächlich. Der Mann stößt Rauch aus der Nase aus, zitiert gekonnt den Teufel nach Goethes "Faust", hat eine Unmenge an phantastischen Geschichten parat, ist offensichtlich gut vernetzt, kennt sich in der zeitgenössischen Popmusik aus und beherrscht ein beachtliches Repertoire an illusionistischen Nummern und Tricks. Den Gorosias verhilft er zu Wohlstand, indem er auf deren Tipp hin ihren Mitbewohner, Nugsar Tschikobawa, in einen lebenden Leichnam verwandelt. Gurdieff macht den vermögenden Mann willenlos, um ihm anschließend eine runde Million abzupressen, die er auch prompt liefert.
    "Nugsar gab ein langgezogenes Pfeifen von sich, entspannte sich langsam wieder, erschlaffte und fiel in sich zusammen… Seine Lippen verfärbten sich schwarz, seine Augen waren blutunterlaufen, der Kopf fiel zur Seite. Sein Gesicht schwoll an, wurde dunkel wie eine Aubergine. Gurdjieff beugte sich zu ihm hinunter und führte eindrucksvoll eine berühmte Filmgeste vor: er legte Zeige- und Mittelfinger an Nugsars Halsschlagader. Eine Weile verharrte er so, schließlich murmelte er: 'Sooo.' Insgeheim dachte er bedauernd: 'Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.' Selbst in kritischen Situationen blieb Gurdjieff tief im Herzen ein Dichter."
    Die georgische Realität
    Halten wir einen Moment inne, obwohl das irre Finale nicht unerwähnt bleiben soll. Es ist, wie man vielleicht schon ahnen kann, als Leser wie als Kritiker nicht ganz einfach, in diesem Buch die Spur zu halten beziehungsweise eine Schneise zu schlagen durch Burchuladzes dichtes Gestrüpp der phantastischen Ausschmückungen wie der Zeichen und Referenzen, die man durchaus übergehen könnte. Aber einträglicher ist es, ihnen zumindest ein wenig auf die Schliche zu kommen. Dafür muss man sich auf die georgische Geschichte einlassen mit ihren Mythen und Verklärungen, die sich um sie ranken, wie auf die aktuelle, durchaus prekäre gesellschaftliche Situation des Landes.
    Die zeitliche Ebene des Romans ist offensichtlich das Jahr 2010. Der Hinweis steckt in einer Szene, in der die Gorosias im Fernsehen den Abriss eines Stalin-Denkmals in Gori, dem Geburtsort des einstigen sowjetischen Diktators verfolgen. Zwei Jahre vorher hatte sich der Kaukasuskrieg zwischen Georgien und Russland ereignet. Ein Jahr zuvor stürzte die globale Finanz- und Wirtschaftskrise das Land in schwere Turbulenzen, von denen es sich bis heute nicht wirklich erholt hat. Die Verelendung und bizarre Gleichzeitigkeit von Armut und neureichem Prunk, gut sichtbar in Georgiens Hauptstadt Tiblissi, wie die Einheimischen Tiflis nennen, führt offensichtlich zu irrationalen Ausprägungen in der Gesellschaft. Oder besser gesagt: Verstärkt bereits vorhandene Tendenzen dieser Art.
    Denn obwohl die Erfahrung mit der Sowjetmacht, dessen Teil Georgien war, durchaus traumatisch nachwirkt, feiert Stalin insbesondere in Gori aktuell wieder fröhliche Urständ, gut sichtbar in Form von Büsten, Portraits und Fotos. Aber das größere Problem ist augenscheinlich die orthodoxe Kirche, der immerhin über 80 Prozent der Bevölkerung angehören. Mit ihrem religiösen Fanatismus, reaktionären Fundamentalismus und dem Budenzauber der Heiligenverehrung hat sie die Gesellschaft fest im Griff. Den Patriarchen der orthodoxen Kirche bezeichnete der Schriftsteller schon mal als den mächtigsten und gefährlichsten Mann Georgiens.
    Flucht vor dem religiösen Irrsinn
    Zaza Burchuladze ist einer der schärfsten Kritiker dieser Entwicklung in seinem Land. Das hätte er fast mit seinem Leben bezahlt. Anfang 2014 verließ der Schriftsteller fluchtartig seine Heimat, nachdem er auf offener Straße von religiösen Extremisten krankenhausreif geprügelt worden war. Seine Romane und Essays verbrannte man bei einem öffentlich zelebrierten Autodafé. Der damalige georgische Präsident Saakaschwili drohte ihm während einer Fernsehansprache Verfolgung und Verhaftung an. Seitdem lebt Burchuladze in Berlin.
    "85 Prozent der Kirchgänger in Georgien sind gehirngewaschen, die sind wie Zombies", sagte Buchuladze 2017 in einem Interview. Und genau das ist sein Thema im Roman "Der aufblasbare Engel". Da sind zwei Menschen, die die Gier dazu treibt, einem Scharlatan hinterherzulaufen, einem teuflischen Verführer, halb Despot, halb Esoteriker – wohl ähnlich wie das reale Vorbild des Georges Gurdjieff des 19. Jahrhunderts, der zeitweise in Tiflis lebte. Und da ist der Untote Nugsar, den die Gorosias, nachdem sie ihn ausgeraubt haben, in einer Andachtskirche entsorgen, wo er vor sich hin stinkend religiöse Sentenzen und Kirchenlieder brabbelt und zur Heiligengestalt mutiert. Fortan von der herbeiströmenden Bevölkerung hingebungsvoll verehrt.
    "Derweil hatte Nugsar als Pater Mauritius bald eine große Berühmtheit erlangt. Zunächst kursierten Berichte über einen in der Chmala-Kirche tätigen Wunderheiler in den umliegenden Dörfern von Sabue. Von dort gelangte die Geschichte bis Telawi und erreichte schließlich auch Tblissi. Georgien ist ein kleines Land; die Vögel müssen nicht fliegen, um es zu durchqueren, sei trippeln einfach. Und die Geschichte war schon von sich aus so fantastisch, dass sie keiner Ausschmückung bedurfte. Wie immer hatte man das Auftauchen eines neuen Heilers anfangs mit Skepsis verfolgt, doch dann rannte jeder hin wie beim Tag der offenen Tür."
    Popkulturelle Pirouetten
    Wie schon angedeutet: Es ist nicht alles zu dechiffrieren, was Burchuladze in sein Buch hineingepackt hat. Er treibt es mit seiner Vorliebe für Dichternamen, Zitate und Verweise auf das Internet, auf Filme, Bücher und Theorien allerdings auch ein wenig zu weit. Aber in der Fülle lässt sich auch viel entdecken, was einen dann doch wieder auf die Spur seines Anliegens bringt, wie beispielsweise die Erwähnung des amerikanischen Science-Fiction-Films "Matrix", in dem die Realität nur eine Simulation ist, vorgegaukelt durch einen Computer. Der Kafka- und Bulgakow-Verehrer Burchuladze lässt in seinen Büchern gesellschaftliche Realität und Irrationalität eine unheilvolle Allianz eingehen, die er uns Lesern im Licht der Satire präsentiert. Der Ton in Burchuladzes verschachteltem Roman ist so auch durchweg ironisch. Ein intellektuelles Kabinettsstückchen mit einigen heillos überdrehten Pirouetten.
    Burchuladze der popkulturellen Literatur zuzuordnen, ist sicherlich nicht verkehrt. Schließlich sieht er es selbst so. Aber im Unterschied zu manchen Größen dieser literarischen Szene des Westens, steckt hinter der bunten Fassade der Geschichten des Georgiers, wie eben auch beim "Aufblasbaren Engel", sehr konkret eine erschreckende Realität.
    Zaza Burchuladze: "Der aufblasbare Engel", aus dem Georgischen von Maia Tabukashvili, Blumenbar Verlag, Berlin, 192 Seiten, 20 Euro.