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Zbigniew Brzezinski
Rückblick in die Konflikte der Zukunft

Der heute 87-jährige Zbigniew Brzezinski war vor mehr als drei Jahrzehnten Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, viele seiner Bücher gelten als Klassiker der geostrategischen Analyse. Eines davon, "The Grand Chessboard", erschien vor 18 Jahren. Erstaunlich, wie genau Brzezinski schon damals die heutigen Konflikte in der Welt erkannte.

Von Christoph von Marschall, "Tagesspiegel" | 03.08.2015
    Der amerikanische Politikwissenschaftler und frühere US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski beim European Forum for New Ideas 2012 in Polen.
    Der Politikwissenschaftler und frühere US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski in Polen. (picture alliance / dpa / EPA / Piotr Wittmann)
    Während der Lektüre ist man immer wieder versucht, zum Copyright-Vermerk zu blättern: Ist dieses Buch wirklich 1997 erschienen? Es liest sich wie eine brandaktuelle Analyse, welche geopolitischen Triebkräfte die internationale Politik heute bestimmen. Geschrieben hat Zbigniew Brzezinski "The Grand Chessboard" - wörtlich: "Das große Schachbrett" - aber vor 18 Jahren! Damals regierte Bill Clinton, der Weltwirtschaft ging es gut, die Bundesregierung bereitete den Umzug von Bonn nach Berlin vor. Islamistischer Terror war noch nicht im allgemeinen Bewusstsein, 9/11 kam ja erst vier Jahre später. Der Ost-West-Konflikt war beendet. Polen, Tschechien und Ungarn bereiteten sich auf den Beitritt zu EU und NATO vor. Man hoffte, dass Russland mit etwas Verspätung ebenfalls zu Demokratie und Rechtsstaat findet und ein Friedenspartner wird.
    Schon damals sagte Brzezinski voraus: Die Ukraine wird der Schlüssel sein, für Russlands Zukunft und den Frieden. Denn in der Ukraine entscheide sich, ob Russland sich nach Europa orientiert oder in imperiales Auftrumpfen zurückfällt.
    "Allein schon die Existenz einer unabhängigen Ukraine hilft, Russland zu verändern. Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein. Es kann zwar immer noch imperialen Status beanspruchen, würde dann aber in Konflikte mit den zentralasiatischen Staaten verwickelt. Auch China würde sich erneuter russischer Dominanz in Zentralasien entgegenstellen. Wenn Russland aber die Kontrolle über die Ukraine zurückgewinnt, wäre es wieder eine Imperialmacht."
    All die westlichen Hoffnungen, dass Russland sich öffnet und modernisiert, dass es zu einem demokratischen Partner eines demokratischen Amerika wird, sind aus Brzezinskis Sicht davon abhängig, dass Russland den Herrschaftsanspruch über die Ukraine aufgibt.
    Entscheidende Jahre exakt prognostiziert
    "Wenn Russland sich für Europa entscheidet, liegt es automatisch in seinem Interesse, dass die Ukraine in die europäischen Strukturen aufgenommen wird. Das Verhältnis der Ukraine zu Europa wird zum Wendepunkt für Russland."
    Russland aber, das spürt Brzezinski bereits 1997, wird wohl die andere Richtung wählen - wobei führende russische Denker die Möglichkeiten ihres Landes auf groteske Weise überschätzen. China werde sich erfolgreich modernisieren. Russland wohl nicht. Dann aber fehlen ihm die Ressourcen für Weltmachtstatus. Genau so ist es gekommen. China wird die USA demnächst beim Bruttoinlandsprodukt überholen. Technisch liegt es freilich weit hinter Amerika zurück. Ökonomisch sind die Wirtschaftsräume EU, USA und China jeder für sich rund sieben Mal so stark wie Russland.
    Die Entscheidung über die Ukraine, das prognostizierte Brzezinski vor 18 Jahren so präzise, als wäre er ein Hellseher, werde in der Dekade von 2005 bis 2015 fallen. Er trifft damit die Wendepunkte "Orange Revolution" sowie russischer Angriff auf die Krim und die Ost-Ukraine ziemlich exakt.
    Manche nehmen solche Weitsicht zum Anlass für den Verdacht, Brzezinski habe diese Entwicklung als Strippenzieher mit herbeigeführt. Das wirkt aber weit hergeholt. Er hatte seit Jahrzehnten kein Regierungsamt und steuert auch nicht die US-Geheimdienste.
    Vielmehr kommen bei ihm Biografie, präzise Analyse und treffsichere Instinkte zusammen. Er ist gebürtiger Pole, war Sicherheitsberater des demokratischen Präsidenten Jimmy Carter, ist bis heute einer der angesehensten außenpolitischen Denker der westlichen Hemisphäre. Sein Buch beginnt mit der Frage, welche geostrategischen Imperative die USA berücksichtigen müssen, wenn sie die ihnen zugefallene Vorrangstellung behalten wollen. Sie sind die erste Weltmacht der Geschichte, die nicht auf dem eurasischen Kontinent zuhause ist. Dort werde aber auch in Zukunft die Machtfrage entschieden.
    "Eurasien ist das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft weiterhin ausgetragen wird. Der Form nach ist dieses Schachbrett ein lang gestrecktes Oval. Auf ihm spielen nicht nur zwei, sondern mehrere Spieler, mit je unterschiedlichen Machtanteilen."
    Schlüsselkontinent Eurasien
    Sein Buch behandelt fast die gesamte Erde - freilich immer unter der Frage, wie einzelne Staaten und Regionen sich zum Schlüsselkontinent Eurasien verhalten. Vor Chinas Entwicklung hat Brzezinski Respekt, sieht das Land aber noch nicht auf dem Weg zur Weltmacht. Risikofaktoren bremsen den Aufstieg: soziale und ethnische Spannungen sowie politische Konflikte, die sich sowohl aus einer Demokratisierung als auch aus deren Verweigerung ergeben.
    "Selbst unter den besten Umständen ist es unwahrscheinlich, dass China 2020 in den Schlüsselfragen einer Weltmacht mithalten kann. Es wird zur regionalen Vormacht in Ostasien. Es dominiert das Festland. Sein Militär und seine Wirtschaft machen die unmittelbaren Nachbarn zu Zwergen, mit Ausnahme Indiens."
    In absehbarer Zukunft, so Brzezinskis Resümee, wird es keine einzelne Macht geben, die Amerika herausfordern oder seine Ordnungsrolle übernehmen kann. Die einzige Alternative sei globale Anarchie. Umgekehrt wird Amerika den Gang der Dinge in Eurasien nicht diktieren können. Mehrere Mächte werden sich die Macht dort teilen.
    "Kurzfristig ist Amerikas Interesse, diesen geopolitischen Pluralismus in Eurasien zu erhalten und die Bildung feindlicher Koalitionen zu verhindern. Mittelfristig sollten wir uns um den Aufstieg strategisch kompatibler Partner bemühen, die unter amerikanischer Führung ein kooperatives trans-eurasisches Sicherheitssystem aufbauen. Langfristig kann es zum Herzstück einer redlich geteilten politischen Verantwortung in der Welt werden."