Donnerstag, 25. April 2024

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Zehn Jahre Kopftuch-Verbot in Baden-Württemberg
Ein Stück Textil spaltet das Ländle

Am 1. April 2004 entschied Baden-Württemberg als erstes Bundesland, das Kopftuch als Kleidungsstück aus den Schulen zu verbannen. Treibende Kraft des Verbots: die damalige CDU-Kultusministerin Annette Schavan. Nur der Grüne Winfried Kretschmann stimmte mit seiner Partei dagegen.

Von Susanne Grüter | 01.04.2014
    Annette Schavan: "Das Kopftuch als ein auch politisches Symbol ist Teil einer Unterdrückungsgeschichte der Frau, kann für eine Auslegung des Islam im Sinne des politischen Islamismus stehen, die mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht vereinbar ist."
    Lale Akgün: "Wenn eine Beamtin sich ein Kopftuch umbindet, ist es so, als hätte sich der deutsche Staat ein Kopftuch umgebunden, und deswegen geht das nicht."
    Winfried Kretschmann: "Wer das Kopftuch als Teil eines religiösen Bekenntnisses verbietet, muss auch die Nonnentracht, die Kippa, ja weiter auch das Kreuz am Revers des Geistlichen verbieten."
    Claudia Roth: "Für mich kommt es nicht darauf an, was jemand auf dem Kopf hat, sondern was jemand im Kopf hat."
    Atmo Landtagspräsident: " ... Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes. Wir kommen zur Schlussabstimmung."
    Im baden-württembergischen Landtag geht es vor zehn Jahren - am 1. April 2004 - nach heftiger bundesweiter Debatte um das Kopftuch-Verbot für Lehrerinnen an staatlichen Schulen.
    Atmo Landtagspräsident: " ... Gegenstimmen, Enthaltungen, dem Gesetz wurde mehrheitlich zugestimmt."
    Damit ist Baden-Württemberg das erste Bundesland, das das Kopftuch verbannt. Die schwarz-gelbe Regierung in Stuttgart wird dabei von großen Teilen der SPD-Opposition unterstützt. Treibende Kraft des Verbots: Die damalige Kultusministerin Annette Schavan, CDU:
    "Wir dürfen nicht zulassen, dass Deutschland als ein Land gilt, international, in dem der politische Islamismus sich entfalten kann."
    Winfried Kretschmann: "Eine Minderheit oder Einzelperson, die dieses Kopftuch aus legitimen Gründen trägt, nämlich aus religiösen, kann nicht in Kollektivhaftung für eine Mehrheit genommen werden, die dies politisch instrumentalisiert."
    Nur Winfried Kretschmann, heute Ministerpräsident von Baden-Württemberg, 2004 noch grüner Fraktionsvorsitzender, stimmt mit seiner Partei dagegen. Die Grünen hätten es lieber den Schulen überlassen, im Einzelfall zu entscheiden, ob eine Lehrerin im Unterricht ein Kopftuch tragen darf. Das ist der SPD nicht geheuer. Der Abgeordnete Peter Wintruff:
    "Der pädagogische Erziehungsauftrag und das Neutralitätsgebot, der Gleichheitsgrundsatz unseres Grundgesetzes und die allgemeinen Menschenrechte fordern von uns, alles aus unseren Schulen herauszuhalten, was als Ausdruck von Intoleranz und Frauenfeindlichkeit gewertet werden muss."
    Das Prinzip der staatlichen Neutralität ist es, worauf sich die meisten Parlamentarier berufen. Danach sind Lehrern religiöse Bekundungen gegenüber Schülern und Eltern untersagt, wenn sie eben diese Neutralität gefährden oder den Schulfrieden stören. Wenn allerdings, so die Mehrheitsmeinung im Ländle, Lehrer Symbole christlich-abendländischer Kultur tragen, also zum Beispiel ein Kreuz, verletze dies die Neutralität des Staates nicht. Dass sich das Land damit rechtlich auf dünnem Eis bewegt, räumt Annette Schavan ein.

    Annette Schavan
    Annette Schavan (afp / Johannes Eisele)
    "Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass unserem Verbot des Kopftuches für Lehrerinnen in der Schule ein hoch komplizierter Abwägungsprozess zugrunde liegt. Deshalb sind wir uns auch bewusst, dass dies subjektiv als ein Eingriff in die Glaubensfreiheit gewertet werden kann. Wir befinden uns auf einem schmalen Grat, der nicht alle Spannungen auflöst und angreifbar ist."
    Das Kopftuch-Verbot in Baden-Württemberg hat eine Vorgeschichte: Das Stuttgarter Oberschulamt will die Grund- und Hauptschullehrerin Fereshta Ludin trotz bester Noten nicht einstellen, weil sie ein Kopftuch trägt. Die Deutsche afghanischer Herkunft klagt erfolglos vor verschiedenen Verwaltungsgerichten. Dann reicht sie in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde ein. Im September 2003 spricht das Bundesverfassungsgericht das Urteil und überlässt dem Gesetzgeber die Entscheidung: Entweder er gestattet mehr religiöse Vielfalt in der Schule oder er stärkt die Neutralität und verbietet alle religiösen Symbole. Dazu fehle allerdings in den Landesgesetzen die rechtliche Grundlage. Schulrecht ist Ländersache. Das Gericht spielt den Ball also an das Parlament in Baden-Württemberg zurück. Der Klägerin Fereshta Ludin hat das am Ende nicht weitergeholfen, im Gegenteil.
    "Ich lebe mit der Tatsache, dass ich ein Berufsverbot erhalten habe, und ich versuche, das Beste daraus zu machen, aber, ja, wenn ich dann eben die Situation insgesamt sehe, tut es sehr, sehr weh."
    Mittlerweile unterrichtet Fereshta Ludin an einer privaten, muslimischen Grundschule in Berlin. Der Berliner Senat hat 2005 das Tragen religiöser Symbole in staatlichen Stellen grundsätzlich verboten. Sechs weitere Bundesländer haben ähnliche Gesetze erlassen. Acht Länder, darunter vier ostdeutsche, verzichten auf Verbote. Fereshta Ludin kämpft weiter für ihre Sache.
    "Es gibt eine breite Masse von muslimischen Frauen, die sehr, sehr gebildet sind, die sehr gut Deutsch sprechen und sich sehr dafür einsetzen, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein, und denen sollte man doch bitteschön, die Chance überhaupt geben."
    Dass sie nach Karlsruhe gegangen ist, hat zwar nicht dazu geführt, dass sie an einer staatlichen Schule unterrichten darf, aber es hat dennoch etwas bewirkt, meint Ludin.
    "Es war wichtig, den Schritt zu machen, denn ohne diesen Schritt hätte es heute auch diese Debatte vielleicht gar nicht so gegeben. Ich meine, dass man wirklich das auch als Chance sehen kann, einen positiven Diskurs über das ganze Thema zu starten."
    Der Diskurs über das umstrittene Textil wird auch nach zehn Jahren emotional geführt wie eh und je. Am baden-württembergischen Kopftuch-Verbot, ausgelöst durch Ludins Klage und das anschließende Urteil des Bundesverfassungsgerichts, scheiden sich die Geister. Ernst-Wolfgang Böckenförde, früher Richter am BVG:
    "Das hat noch nichts mit Fundamentalismus zu tun, dass eine Religion öffentlich gelebt wird. Von den Menschen dort zu verlangen, dass alles das, was sie mitgebracht haben, was ihnen über Generationen sozusagen heilig war, dass sie das wegwerfen, dann müssen wir uns fragen, ob wir nicht selbst totalitär werden."
    Auch der damalige Bundespräsident Johannes Rau schaltet sich 2004 in die Debatte ein.
    "Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nicht ein Symbol einer Religion – und das ist das Kopftuch jedenfalls auch – verbieten, und dennoch glauben können, wir könnten alles andere beim Alten belassen."
    "Das Bundesverfassungsgericht hat bestimmte Vorgaben gemacht, die die Landtage, die Kopftuchverbote verabschiedet haben, nicht eingehalten haben. Das muss man ganz klar sagen",
    meint Gabriele Boos-Niazy, Vorstandsvorsitzende des bundesweiten Aktionsbündnisses muslimischer Frauen.
    "Die eine Vorgabe war, das Kopftuch darf nicht auf eine bestimmte Symbolik hin festgeschrieben werden, sondern man muss die Vielfalt der Motivation sehen. Die andere Vorgabe war halt die Gleichbehandlung der Religionen, und auch das ist weder in dem Gesetz von Baden-Württemberg noch in Nordrhein-Westfalen erfolgt, das ist nicht verfassungsgemäß."
    Parallelen zum Kruzifix-Urteil von 1995
    Viele fühlen sich in der Kopftuch-Debatte auch an eine frühere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1995 erinnert, die vor allem Bayern erregte: Das sogenannte Kruzifix-Urteil. Nach der Bayerischen Volksschulordnung sollte in jedem Klassenzimmer entweder ein Kruzifix oder ein Kreuz hängen. Das Gericht erklärte diese Vorschrift für verfassungswidrig. Der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber, CSU, wetterte daraufhin auf Parteitagen und Kundgebungen:
    "Kreuze gehören zu Bayern wie die Berge. Wer christliche Symbole aus der Öffentlichkeit verbannen will, trifft unsere Kultur in ihrem Lebensnerv. Wer das Kreuz abnimmt, schafft nicht Neutralität, sondern Leere."
    Für islamische Symbole will Stoiber das ein paar Jahre später jedoch nicht gelten lassen. 2003 sagt er in einer Regierungserklärung, Deutschland sei kein klassisches Einwanderungsland. Wer hierher komme, müsse sich darauf einstellen, in einer christlich-abendländischen Gesellschaft zu leben. Deshalb dürfe es im Freistaat auch keine Lehrerinnen mit Kopftuch geben. Der bayerische Landtag folgt dem Beispiel Baden-Württembergs und beschließt das Verbot ebenfalls 2004.
    Eine Podiumsdiskussion auf dem Campus der Universität Essen. Es geht um religiöse Vielfalt in der Wissenschaft, auch hier ist das Kopftuch Thema. Mit dabei, die Bremer Pädagogik-Professorin Yasemin Karakasoglu, die für das Bundesverfassungsgericht als Gutachterin im Fall der Lehrerin Fereshta Ludin tätig war. Ihre Bilanz nach zehn Jahren Kopftuch-Verbot:
    "Es hat eigentlich nicht zu dem geführt, was die Bundesverfassungsrichter damals eigentlich intendiert haben. Eigentlich war es eine Aufforderung, sich damit aktiv im demokratischen Diskussionsprozess auseinanderzusetzen, stattdessen haben die Länder alle einzeln nur auf den Impuls reagiert, ein Gesetz zu erlassen. Von daher würde ich sagen, hat uns das nicht weitergebracht."
    Lale Akgün: "Dieses Verbot hat uns nicht weitergebracht, hat uns aber auch nicht zurückgeworfen, die Entscheidung war damals richtig. Es geht darum, dass ich als Elternteil sicher sein muss, dass mein Kind in der Schule von keiner Religion indoktriniert wird."
    Daher, so die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün, die auch an der Podiumsdiskussion teilnimmt, müsse sich eine Muslimin, die in den Staatsdienst will, an das Gebot der Neutralität halten.
    "Da gibt es ganz einfach eine Lösung. Sie kann das Kopftuch abnehmen."
    Viele Musliminnen sind dazu allerdings nicht bereit. Für sie hat das Kopftuch-Verbot weitreichende Konsequenzen. Nurhan Soykan, Generalsekretärin des Zentralrats der Muslime:
    "Es hat faktisch dazu geführt, dass auch die Bundesländer, wo es kein Verbot gibt, keine Frauen mit Kopftuch einstellen, nicht nur in den Lehrerberufen, sondern allgemein im Öffentlichen Dienst. Und die private Wirtschaft hat sich das zum Vorbild genommen und hat das übernommen. Sogar bei Schlecker gab es das Problem an der Kasse, also obwohl das da überhaupt kein Problem sein sollte."
    Gabriele Boos-Niazy:
    "Es sind solche Kollateralschäden entstanden. Es fängt an mit Schülerinnen, die keinen Praktikumsplatz finden, ja, es geht weiter über Studentinnen, dann über Krankenschwestern, Ärztinnen, Hebammen, und wir müssen leider halt feststellen, dass sowohl die Frauen selbst als halt auch sehr viele Arbeitgeber keinerlei Ahnung von der Rechtslage überhaupt haben. Also die haben keine Vorstellung davon, wie weit Religionsfreiheit geht, wie das AGG aussieht, sondern sie richten sich einfach nach dem, was sie in der Zeitung lesen."
    In das AGG, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, hat sich Gabriele Boos-Niazy vom Aktionsbündnis muslimischer Frauen, mittlerweile eingearbeitet. Wissenschaftliche Studien zur Situation von Frauen mit Kopftuch auf dem Arbeitsmarkt gibt es in Deutschland bislang kaum. Die wenigen, die die Antidiskriminierungsstelle des Bundes gebündelt hat, zeigen aber: Musliminnen haben grundsätzlich schlechte Karten bei der Jobsuche. Die taz-Redakteurin Heide Oestreich hat ein Buch über den Kopftuch-Streit geschrieben und die berufliche Situation einiger muslimischer Lehrerinnen beobachtet.
    "Mehrere haben jetzt eine Kinderpause eingelegt, sind jetzt in Elternzeit. Einige haben auch die Bundesländer gewechselt. Es gibt ja nicht in allen Bundesländern dieses Verbot, einige sind an muslimische Privatschulen gegangen, und es gibt sogar welche, die jetzt mit einer Perücke unterrichten."
    Allerdings sieht Nurhan Soykan, Generalsekretärin vom Zentralrat der Muslime, erste Veränderungen.
    "Wir haben von einigen Fällen gehört, wo jetzt junge Frauen mit Kopftuch auch in die öffentliche Verwaltung eingestellt worden sind, wo es da auch Gerichtsurteile gegeben hat, und das sind gute Zeichen, die wir auch von der Justiz bekommen."
    Kein Kopftuch-Verbot in der Verwaltung
    Das Verwaltungsgericht Düsseldorf entscheidet, eine Bewerberin mit Kopftuch darf als Beamtin in der Verwaltung arbeiten. Anders als im Schuldienst gibt es dort kein Verbot.
    Das Berliner Arbeitsgericht verurteilt einen Zahnarzt zu einer Entschädigungszahlung, weil er einer jungen Frau mit Kopftuch keinen Ausbildungsplatz geben wollte.
    Das Oberlandesgericht Celle ordnet an, eine private Arbeitsvermittlerin muss Entschädigung zahlen, weil sie eine Muslimin wegen ihres Kopftuchs nicht weitervermittelt hat.
    Christian Wulff: "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland."
    Heide Oestreich: "Das Kopftuch-Verbot hat vor allen Dingen ein völliges Paradox in der Integrationspolitik hervorgerufen. Also, wir hatten einen Bundespräsidenten, der hat gesagt, der Islam gehört zu Deutschland, aber, muss man dann sagen, das Kopftuch nicht",
    meint taz-Redakteurin Heide Oestreich. Das Kopftuch wird nicht nur als religiöses und politisches Symbol eingesetzt – es geht bei der Debatte um das Stück Stoff vor allem um Integration. Immerhin gab es die Kopftuch tragende Berliner Rapperin Sahira Awad, die aber inzwischen aus religiösen Gründen nicht mehr singt.
    "Ich weiß nicht, warum die das bloß so mag, dasTuch in ihrem Haar. Zur Schau stellen. Ich versteh' das nich so ganz. Ich erklär's Dir mal. Ja, nur mein Mann sieht mich ganz wie ich bin, weil er kann, nochmal, weil ich, ich, ich so will."
    Kopftuch tragende Streetworkerinnen kümmern sich um Jugendliche, die sich ausgegrenzt fühlen. Saloua Mohammed aus Bonn zum Beispiel, die im vergangenen Jahr mit dem Integrationspreis der Stadt ausgezeichnet worden ist. Die junge Deutsche mit marokkanischen Wurzeln studiert noch und macht die Arbeit auf der Straße ehrenamtlich.
    "Durch mein Kopftuch, kann sein, dass ich dann vielleicht ein vertrautes Gefühl ungewollt bei ihnen erwecke, weil sie ganz genau wissen, eine Debatte fällt auf jeden Fall weg, ne, du Migrantenkind. Wenn ich sie dann zum Beispiel beim Kiffen sehe oder beim Dealen, überfällt sie eine Scham, und es werden ganz viele vor allem von den Jungs rot im Gesicht und schämen sich, und dann kommen die Antworten, nein, nein, komm lass uns hier weggehen, und das passt nicht zu Dir, und ich habe Respekt vor dir, und über diese Schiene kommen wir dann auch ins Gespräch."
    Es heißt, dass gerade junge muslimische Frauen das Kopftuch für sich entdecken. Saloua Mohammed:
    "Kann sehr gut möglich sein, dass diese Antwort auch eine Art von Punk sein kann, ne, so nach dem Motto, die Antwort der muslimischen Jugendlichen auf diese Ausgrenzung kann vielleicht das nähere Auseinandersetzen mit der Religion sein, muss aber nicht. Es gibt natürlich Mädels, die dann sagen, ach, wir gehören sowieso nicht dazu, und jetzt möchte ich die so richtig ärgern, und jetzt laufe ich genau mit dem Outfit rum, was die absolut nicht abhaben können."
    "Das ist eben nicht ein Mode-Accessoire"
    Die Religionspädagogin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor, die ein Buch über einen zeitgemäßen Islam in Deutschland geschrieben hat, kann keine einfachen Antworten geben, warum sich Frauen für ein Kopftuch entscheiden.
    "Das ist eben nicht ein Mode-Accessoire, das man auf- und absetzt, sondern das ist schon eine Sache, die man ernst meint, also ich glaube nicht, dass es einfach nur als Zeichen der Rebellion abgewertet werden kann, das ist schon noch mehr als das. Also, ich glaube, die tragen das schon relativ selbstbewusst und auch aus Glaubensgründen."
    Dass es bald mehr Sachlichkeit in der Debatte um das Kopftuch geben könnte, erwartet Lamya Kaddor nicht. Überall in Europa herrsche zurzeit Furcht vor dem Islam und eine gewisse Hysterie, die manchmal sogar in Hass umschlage.
    "60 Prozent der Westdeutschen und 80 Prozent der Ostdeutschen haben islamfeindliche Positionen und das ist, finde ich, als Muslimin, die liberal ausgerichtet ist und der man das jetzt nicht direkt an der Nasenspitze ansieht, dass sie Muslimin ist, trotzdem sehr besorgniserregend."
    Andererseits sehen sich liberale Musliminnen, die auf die Unterdrückung der Frau in Teilen der muslimischen Gesellschaft hinweisen, mit Schmähungen oder gar Morddrohungen radikaler Moslems konfrontiert. Necla Kelek, Sozialwissenschaftlerin und Frauenrechtlerin, kritisiert den konservativen Islam.
    "Ein acht-, neunjähriges Mädchen mit Kopftuch, das ist Körperverletzung, das ist Freiheitsberaubung für mich. Sie wird zu einer Frau gemacht, die nicht zeigen darf, dass sie Haare besitzt oder einen Körper hat. Sie darf nicht schwimmen, sie darf nicht turnen, sie darf nicht mit auf Klassenfahrt, dem wird sie entzogen, das heißt, dieser Gesellschaft wird sie entzogen, und die Gesellschaft guckt zu und sagt, das ist deren Kultur."
    Kelek lehnt die nicht-emanzipatorische Erziehung von Mädchen in streng islamischen Familien als "falsch verstandene Toleranz" ab. Sie beklagt, dass konservative Muslime Frauen ohne Kopftuch nicht respektierten. Gegen falsche Toleranz hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig im September 2013 ein Zeichen gesetzt. Im sogenannten Burkini-Urteil heißt es: Es ist muslimischen Schülerinnen zuzumuten, gemeinsam mit Jungen in den Schwimmunterricht zu gehen – zumal im Ganzkörperanzug.
    "Der Clash zwischen den Säkularen und den Fundamentalisten oder islamisch-geprägten Bevölkerungsschichten, die in der Türkei ja auch jahrzehntelang gegeneinander standen, wird hier ein bisschen auch ausgetragen",
    sagt Nurhan Soykan vom Zentralrat der Muslime. In der Türkei gilt das Kopftuch seit der Ära Atatürk als Affront gegen den Laizismus. Doch das strikte Kopftuch-Verbot von einst ist nicht mehr. Ministerpräsident Erdogan hat es im Zuge der Islamisierung sogar im türkischen Parlament aufgehoben. Doch das Land ist gespalten.
    Frankreich, das Staat und Kirche ebenfalls scharf trennt, hat das Kopftuch 2004 in allen staatlichen Einrichtungen verboten, seit 2010 auch die Burka, den Ganzkörperschleier. In den USA und in Großbritannien hingegen wird über solche Verbote nicht nachgedacht. Dort könne man auf eine lange Antidiskriminierungskultur zurückblicken, meint Yasemin Karakasoglu von der Universität Bremen.
    "Darüber hinaus glaube ich, dass die Engländer insgesamt mit dem Thema Vielfalt doch noch auf eine etwas relaxtere Art umgehen. Die haben auch kein so ethnisch-nationales Selbstverständnis, wie wir es in Deutschland entwickelt haben. Sie sind ein Staat, der sehr viel mehr Freiraum lässt, zum Beispiel sich als Staatsbürger verstehen zu können, auch wenn man nicht geborener Engländer oder Engländerin ist."
    In Deutschland starten nun zwei Lehrerinnen aus Nordrhein-Westfalen nach Fereshta Ludin, der Lehrerin aus Baden-Württemberg, einen neuen Versuch gegen das Kopftuch-Verbot vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Verfahren sollen noch in diesem Jahr entschieden werden.