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Zehn Jahre Missbrauchsskandal
​"Ein Pfarrer tut so etwas nicht"

Mit dem Berliner Canisiuskolleg fing es vor zehn Jahren an, dann meldeten sich Betroffene von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche aus ganz Deutschland. Es dauerte, bis auch Bischöfe eingestanden, was Experten längst wussten: Die Taten sind keine Einzelfälle. Entschädigung steht noch aus.

Von Veronika Wawatschek | 16.01.2020
Schatten bei der Vorstellung der Missbrauchsleitlinien der katholischen Kirche.
Der Schatten der geistlichen Macht. In den vergangenen zehn Jahren kamen mehr und mehr Missbrauchsfälle an die Öffentlichkeit. (dpa / Harald Tittel)
"Von der 'lückenlosen und absolut transparenten Aufklärung’, vom versprochenen 'Neuanfang’ und insbesondere von der ankündigten 'Dialoginitiative' ist zu wenig zu spüren."
"Von einem 'Neuanfang' und einer 'lückenlosen und absolut transparenten Aufklärung', die die deutschen Bischöfe versprochen hatten, ist immer noch zu wenig zu spüren."
"Die richtige, ganz konkrete Aufarbeitung fehlt noch."
Die Schlagzeilen klingen fast identisch, sind aber aus den Jahren 2011, 2015 und 2020. Fast mantraartig wiederholt die katholische Laienorganisation "Wir sind Kirche" ihre Forderungen. In den zehn Jahren seit Bekanntwerden des Missbrauchsskandals sei zu wenig passiert, finden auch andere - Betroffene wie ihre Fürsprecher.
Das große Schweigen
"Es ist ja mit den Opfern noch immer kaum was passiert. Jedes Jahr zwei Mal auf der Bischofskonferenz wird drüber geredet, geredet, geredet, geredet. Manchmal werden sogar Dinge genannt, die man den armen Opfern jetzt endlich Gutes tun könnte. Zuletzt haben sie von 300.000 bis 400.000 Euro geredet. Und danach kommt das große Schweigen", sagt Ana Carola Pasquay.
Sie ist Katholikin. Noch immer. Zehn Jahre lang betrieb sie eine Telefonhotline zu Hause an ihrem Küchentisch. Sie ist keine Theologin, keine Therapeutin. Sie hörte den Opfern zu, und ergriff im Namen der Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche" Partei für sie in Bistumsverwaltungen in ganz Deutschland.
"Die meisten waren sehr alte Menschen, die sich nie getraut haben, darüber zu reden. Und das Schlimmste für mich war eigentlich, wenn die mit tränenerstickter Stimme gesagt haben: 'Darf ich das bei Ihnen wirklich aussprechen, was mir passiert ist?' Die haben dann als nächsten Satz oft gesagt oder als übernächsten, dass sie als sie versucht haben, es ihrer Mutter zu erzählen, die sie mitten ins Gesicht geschlagen haben, denn ein Pfarrer tut so was nicht."
Nicht nur ein Pfarrer hat in der Vergangenheit so was getan, weiß Wunibald Müller. Er ist katholischer Theologe und Psychotherapeut. Schon in den 1990er-Jahren hatte er im Recollectio-Haus im unterfränkischen Münsterschwarzach mit Tätern zu tun, mit Geistlichen, die übergriffig geworden waren. Bei den deutschen Bischöfen stieß er damit aber auf taube Ohren.
"Ich erinnere mich noch gut an ein Interview von Kardinal Lehmann mit dem 'Spiegel', in dem er zum Beispiel mit meinen Zahlen konfrontiert wurde. Er war davon überzeugt: Wir müssen uns den amerikanischen Schuh nicht anziehen. Bei uns ist die Situation anders. Und sie ist eben nicht anders gewesen."
Katholische Kirche - Zehn Jahre Missbrauchsskandal
Am 28. Januar 2010 wurden die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg erstmals in der Öffentlichkeit publik. Daraus entwickelte sich der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche. Was genau ist geschehen und welche Folgen hatte er? Ein Überblick.
Der Dammbruch
Fast zehn Jahre sind seit dem Dammbruch vergangen. Am 28. Januar 2010 titelt die "Berliner Morgenpost": "Canisiuskolleg: Missbrauchsfälle an Berliner Eliteschule." Drei Schüler, die 1980 Abitur gemacht hatten, hatten dem Rektor der Jesuitenschule, Klaus Mertes, in einem persönlichen Gespräch von ihren Missbrauchserfahrungen berichtet. Der schrieb daraufhin einen Brief an die 600 ehemaligen Schüler, in dem er signalisierte: Er und der Orden seien bereit zuzuhören.
"Da ist mir klargeworden, es gibt eine große Dunkelziffer und der gegenüber hab ich eine Verantwortung, in dem Moment, wo ich weiß, es gibt eine Dunkelziffer in den Jahrgängen der 70er und 80er Jahre, muss ich ein Signal geben!"
Was folgt, ist ein Medien-Tsunami. Täglich gibt es neue Meldungen. Betroffene schließen sich zusammen, gehen an die Öffentlichkeit. Schnell wird klar: Es handelt sich nicht um Einzelfälle. Anfang März 2010 berichten überregionale Medien über Betroffene im Kloster Ettal und über grausamste Zustände bei den Regensburger Domspatzen bis in die 80er Jahre hinein.
"Beim Ministrieren machte ich einen Fehler. Ich war noch müde und stolperte über die am Boden abgestellten Klingeln. Direktor M. gab mir spontan während der Konsekration eine sehr harte 'Kopfnuss'(…) und trieb mich dann mit Schlägen auf den Kopf und Körper vom Altar weg aus der Kirche, so wütend war er."

(Aus dem Untersuchungsbericht: Vorfälle von Gewaltausübung an Schutzbefohlenen bei den Regensburger Domspatzen. Von Ulrich Weber und Johannes Baumeister, veröffentlicht am 18. Juli 2017)
"In der Beichte kam er wegen der Sünde, die man gebeichtet hatte, rüber und ohrfeigte einen."
Kirchenvertreter in Deutschland zeigen sich mehrheitlich betroffen, im Juni 2010 kommt die lang erwartete Reaktion aus Rom, bei einer Messe auf dem Petersplatz bittet Papst Benedikt XVI. um Vergebung:
"Auch wir bitten Gott und die betroffenen Menschen inständig um Vergebung und versprechen zugleich, dass wir alles dafür tun wollen, um solchen Missbrauch nicht wieder vorkommen zu lassen."
Flucht in die Opferrolle
Fast zeitgleich relativieren Oberhirten das Geschehene oder weisen die Schuld anderen zu: Der damalige Augsburger Bischof Walter Mixa sieht die Ursachen für den Skandal bei den 68ern. In einem Interview sagt er, die sogenannte sexuelle Revolution, von deren 'besonders progressiven Moralkritikern' auch die Legalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde, ist daran sicher nicht unschuldig".
Viele Betroffene haben auch nach dem Bekanntwerden des Skandals das Gefühl: Es geht nicht darum, das Geschehene zu entschuldigen, zu entschädigen oder aufzuarbeiten, sondern es geht um den Schutz der Institution. Die katholische Kirche soll ihr Gesicht wahren, wie sich Alexander Probst, ehemaliger Schüler bei den Domspatzen, an den Umgang des Bistums Regensburg mit den Betroffenen erinnert:
"Der Bischof Müller hatte damals noch gesagt, was ich hier treibe. Es wäre einfach nur das Glanzstück seines Bistums durch den Dreck zu ziehen."
In einer Predigt sieht der damalige Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller die Schuld für den Skandal bei den Medien, vergleicht deren Berichterstattung mit NS-Methoden und sieht sich und seine Kirche in der Opferrolle.
Müller sagte: "Es geht darum auch, die Glaubwürdigkeit der Kirche zu erschüttern. Das ist das Ziel dieser Kampagne gegen die Kirche."
Ähnlich äußerte sich auch Gloria von Thurn und Taxis zu den Berichten über die Zustände bei den Regensburger Domspatzen. Sie sieht das, was 2010 ans Licht kommt, als gezielte Methode, um der Kirche zu schaden:
"Das ist totaler Schmarrn. Das ist einfach richtig gemein, in jeder Schule, in jedem Sportverein, überall gibt es dieses Phänomen. Und das wird’s auch immer geben, man geht gerne auf die Kirche los. Das ist ein gefundenes Fressen. Und es ist eigentlich eine Riesensauerei."
Vielfach sind 2010 kirchliche Würdenträger noch überzeugt: Bei dem, was passiert ist, handelt es sich um Einzelfälle. So räumt etwa der ehemalige Hamburger Erzbischof Werner Thissen im Herbst 2019 in einem Zeitungsinterview ein, er habe in seiner Zeit im Bistum Münster massive Fehler gemacht und die Dimension unterschätzt.
Denn spätestens mit der MHG-Studie von 2018 ist klar: Mindestens 3.677 Kinder und Jugendliche wurden in den Jahren 1945 bis 2014 Opfer sexueller Gewalt, die von Klerikern ausging. Die Studienautoren selbst betonen: Das sei nur die Spitze des Eisbergs. Manche schätzen, die Zahl der Opfer könnte in die Hunderttausende gehen. Akten wurden gezielt vernichtet, Täter versetzt oder befördert und den Betroffenen wurde nicht geglaubt.
Zehn Jahre Scheibchentaktik
Jetzt – zehn Jahre nach Bekanntwerden des Skandals – sei man so weit, dass der Missbrauch überhaupt als Thema erkannt werde, sagt der Ettaler Betroffenenvertreter Robert Köhler:
"In der Kirche hat man das Gefühl, dass das leider Gottes sehr viel Scheibchentaktik war, was daran liegt, dass verschiedene Menschen auch noch nicht so schnell zur Einsicht kamen, dass man sich dem Problem stellen muss."
Köhler ist zufrieden, wie das Kloster Ettal mit den Betroffenen umgegangen ist, man sei auf die Opfer zugegangen und habe ihnen geglaubt. Andere katholische Einrichtungen, auch die Bistümer hätten hier noch viel zu tun. Dazu gehört für Alexander Probst von den Regensburger Domspatzen auch die Frage der Entschädigungszahlungen.
"Ich kann jetzt sprechen für mich selbst. Ich habe ja meinen Teil für mich erledigt. Aber das ist ein Teil, der das Bistum Regensburg und die Domspatzen betrifft. Was ich für meinen Teil und für viele andere hier auch nicht erledigt habe, ist das System, das uns noch keine Chance gegeben hat, für das, was tatsächlich passiert ist, entschädigt zu werden. Der Versuch muss gemacht werden."
Bislang bekommen Betroffene im Schnitt 5.000 Euro als sogenannte materielle Leistung in Anerkennung des Leids, das Opfern sexuellen Missbrauchs zugefügt wurde. Eine sprachliche Spitzfindigkeit, die für die Betroffenen viel bedeutet. Denn es handelt sich bislang ausdrücklich nicht um Entschädigungszahlungen.
Konkrete Beschlüsse? Fehlanzeige!
Auf der Herbstvollversammlung in Fulda 2019 kündigte die Deutsche Bischofskonferenz eine Weiterentwicklung des Systems an: Um den Betroffenen eine Stimme zu geben, solle ein Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz eingerichtet werden. Konkrete Beschlüsse? Fehlanzeige!
Zwar attestieren auch externe Beobachter - wie etwa die Autoren der MHG-Studie - der katholischen Kirche Fortschritte beim Thema Prävention. Diese dürften aber nicht "als Alibi genutzt werden, um die Auseinandersetzung mit strukturspezifischen Themen der katholischen Kirche, die für sexuelle Missbrauchshandlungen von Klerikern bedeutsam sind, zu überdecken oder zu vermeiden".
Wunibald Müller, der katholische Theologe und Psychotherapeut, beschrieb diese "strukturspezifischen Themen" bereits 2010 in einem Buch: Die Kirche müsse sich auseinandersetzen, mit dem Zölibat, der verpflichtenden Ehelosigkeit für Priester, ihrem Verhältnis zu Frauen, mit Homosexualität, mit Macht und allgemein mit Sexualität – so sein Fazit damals und sein Appell heute, zehn Jahre später.
"Ihr müsst jetzt den nächsten Schritt tun, den ihr eigentlich auch schon vor zehn, 15 Jahren hättet tun müssen, nämlich, dass ihr mal guckt, was denn die tieferliegenden, die weitergehenden Konsequenzen sind, die ihr daraus ziehen müsst. Was sind denn noch weitere Risikofaktoren, die einen sexuellen Missbrauch begünstigen? Da kommen wir natürlich jetzt zu den alten Themen, wo sich eben grundsätzlich nichts verändert hat."