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Zehn Jahre nach dem Sichuan-Erdbeben
Der Schock sitzt bis heute tief

Genau vor zehn Jahren bebte in China in der Region Sichuan die Erde. 70.000 Menschen starben, ganze Städte wurden zerstört und sind bis heute unbewohnbar. Für die Überlebenden hat das Beben ihr Leben für immer verändert.

Von Markus Pfalzgraf | 12.05.2018
    Zerstörte Gebäude im alten Beichuan
    Zerstörung im alten Beichuan (ARD / Markus Pfalzgraf)
    Die Hauptstraße des alten Beichuan ist noch heute kaputt. An einer Stelle haben sich die Platten bis zu einen Meter hoch übereinander geschoben. Kein einziges Haus ist mehr ganz, alle schief, beschädigt oder komplett eingestürzt, seit jenen nicht einmal zwei Minuten, die insgesamt 70.000 Menschen, vielleicht sogar bis zu hunderttausend das Leben kosteten. Doch der Mann, der jetzt hier auf der Straße steht, hatte Glück. Li Tao, 49, lässiger Freizeitlook, kurze schwarze Haare, war gerade im Gespräch mit seiner Bankberaterin, als es passierte.
    "Ich war auf der einen Seite des Schalters, und sie dahinter. Wir waren nicht weit voneinander entfernt, aber ich habe es geschafft, und sie nicht."
    Nachdenklich zeigt er die Entfernung mit seinen Armen. Ein halber Meter, der den Unterschied machte zwischen Leben und Tod. Lu Tao steht vor einem riesigen Schutthaufen, der einmal eine Bank war.
    "Hier bin ich raus. Ich rannte die Stufen runter und fiel, dann wurde ich in die Luft geschleudert und fiel wieder. Dann bin ich hier rübergerollt, zum Glück raus aus den Trümmern."
    Er deutet die Straße hinunter, wo noch Teile von Gebäuden stehen.
    "Aus dem Gebäude kam meine Frau. Das war mal ein zweistöckiges Haus, jetzt ist noch ein Stockwerk übrig. Meine Frau kam aus dem zweiten Stock. Ich war weit weg, sie war eingeklemmt. Ich hab sie rausgezogen, gerade bevor das Haus zusammenbrach."
    Der chinesische Staat klopft sich selber auf die Schulter
    Bei den meisten Gebäuden, die noch als solche erkennbar sind, fehlt eine Etage, das Erdgeschoss hat als erstes nachgegeben. Genau in diesem Zustand wurde die ganze zerstörte Stadt belassen, seit zehn Jahren. Unbewohnbar, und als Mahnmal.
    Wenige Kilometer weiter erinnert auch ein Museum an die Katastrophe, an die gigantische Rettungsmaschinerie, die daraufhin anlief, Politikerbesuche, Heldengeschichten, und wenige Opfergeschichten. Der chinesische Staat klopft sich selber auf die Schulter. Aber eben auch: Bewegende Bilder von verzweifelten Rettungsversuchen im strömenden Regen. Und von geretteten Kindern. Lu Tao kommen die Tränen. Reden will er erst später, beim Essen, auch weil er Bedenken hat, sichtbar vor Ort darüber zu sprechen.
    Gedenkstätte in Běichuān zum Erdbeben am 21. Mai 2008
    Gedenkstätte in Běichuān zum Erdbeben am 21. Mai 2008 (ARD / Markus Pfalzgraf)
    "Wenn man heute dort hingeht, kann man immer noch sehen, was für eine Katastrophe in Beichuan passiert ist. Unter all den Ruinen sind immer noch die Überreste all der Leichen. Darunter meine Freunde, Familie, Bekannte. All diese Leben waren in einem Moment vorbei. Es ist unmöglich, dabei nichts zu fühlen. Da sind immer noch viele Gefühle, und dieses Ereignis werden wir niemals vergessen. Man muss es in seinem Herzen bewahren."
    Dort, wo heute das Besucherzentrum steht, war einst die Schule, die landesweit bekannt wurde, weil hier mehr als tausend Schülerinnen und Schüler starben. Auch Lu Taos Sohn ging hier zur Schule. Lù Wénlóng war damals 14 und im Klassenzimmer, als am 12. Mai 2008 um 14.28 Uhr die Erde bebte.
    "Wir hörten laute Geräusche, wie wenn Lkw vorbeidonnern würden. Staub kam von der Decke und die Lichter flackerten."
    Erst am nächsten Morgen kam Hilfe
    Bis sie ausfielen. Niemand konnte sich mehr auf den Beinen halten, so stark war das Beben. Wer konnte, suchte Schutz unter Tischen. Als es vorbei war, rannten alle raus, komplettes Chaos, kaum fünf Meter Sichtweite, überall Staub. Schülerinnen und Schüler versuchten, sich zu helfen. Sie kamen nicht raus, und es dauerte bis zum Morgen, bis Hilfe kam.
    "Wir verbrachten die Nacht auf dem Sportplatz. Wir lagen in der Mitte, und drumherum auf der Leichtathletikbahn die Leichen der toten Schüler. Wir bedeckten sie mit Tüchern. Manche hatten keine Beine oder Köpfe mehr. Das war schrecklich."
    Lù Wénlóng meidet normalerweise das Gespräch über die Ereignisse, und er meidet den Ort, an dem seine Mitschüler starben. Er ist heute 24, hat es zwar nicht auf die Universität geschafft, aber er ging zur Armee, und bald will er seine Freundin heiraten.
    Der Überlebende Lù Táo zeigt auf eine Gedenktafel im zerstörten Běichuān
    Lù Táo hat viele Bekannte durch das Erdbeben verloren (ARD / Markus Pfalzgraf)
    Die Familie reist viel, will jeden Moment genießen. Eine ganz normale chinesische Familie beim Essen, mit verschiedenen Gemüse- und Fleischsorten auf dem Drehteller. Und ein Gläschen Wein zur Feier des Tages. Aber: Es ist eine der wenigen intakten Kleinfamilien hier in der Gegend.
    "Nachdem man so etwas erlebt hat, nimmt man die Dinge nicht mehr so ernst. Leute, die Streit hatten, haben sich vertragen, als sie das Erdbeben überlebt hatten. Paare, die sowieso schon nicht mehr miteinander klar kamen, haben sich getrennt, als ihr Kind weg war. Aber vor allem haben die Leute ihre Probleme zwischeneinander begraben, weil sie gemerkt haben, wie unbedeutend wir alle sind vor der Kraft der Natur."
    Das große Erdbeben hat alle für immer verändert
    Die Wohnung von Lu Tao und seiner Familie ist groß und hat sogar eine Dachterrasse. Von dort aus kann man über eine komplett neue Stadt schauen. Den Straßen, Wohnblocks und den Menschen sieht man die Geschichte nicht sofort an, aber das große Erdbeben hat alle für immer verändert.
    "Was früher Herausforderungen für mich waren, sind heute keine mehr. Das ist vielleicht die größte Veränderung in mir. Manchmal scherzen wir: Wenn jetzt irgendwo ein Erdbeben unter der Stärke 8 ist, dann laufen wir nicht mal weg."
    Nur wenige Jahre hat es gedauert, bis das komplett neue Beichuan in der Ebene entstanden ist, sicherer gebaut und mit etwas Abstand zu den Bergen.