Freitag, 29. März 2024

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Zehn oder fünfzehn der glücklichsten Momente des Lebens

Der schlimmste Moment, da war ich kurz vor dem Aufgeben, kam, kurz bevor 'Die Gabe des Schmerzes' veröffentlicht wurde. Ich war 35 und geriet ein bisschen in Panik, weil ich dachte, ich würde nie veröffentlicht, hätte mein Lebensprojekt missverstanden und würde nicht nur mit dem Buch, sondern grundsätzlich einen Fehlschlag erleiden, an dem ich zerbrechen könnte. Das war etwas angsterregend. Niemand hatte mein Buch bestellt. Es wanderte auf einen Stapel und es dauerte Monate, bevor es jemand in die Hand nahm, aber als der Agent dann zum Manuskript gegriffen hatte, ging es rasch. Er las es, nahm mich als Autor an, fand in gut 10 Tagen einen Verleger. Plötzlich ging alles ganz schnell. Man hatte gar keine Zeit, sich an die große Veränderung im Leben anzupassen. Es ist sehr merkwürdig. Ein einziger Telefonanruf führt dazu, das sich das Leben ändert. Plötzlich überkam mich eine gewisse Form von Nostalgie nach meinem alten Leben, nicht dass ich wirklich zurück wollte, aber das alte kannte ich, war es gewohnt. Es war eher einschüchternd zu sehen, wie das Boot das Land verlässt und man in ihm sitzt und nicht wieder zurückkehren kann. Das war's. Es war eine sehr aufregende Zeit, ein bisschen stressig und das große Gefühl, gerettet worden zu sein. Es war der letzte Hubschrauber aus Saigon vom Dach der Botschaft und man hing mit einer Hand an der Leiter.

Johannes Kaiser | 18.08.2003
    Noch immer spürt man geradezu körperlich die Erleichterung Andrew Millers, es 1997 nach über 15 Jahren erfolgloser Versuche endlich geschafft zu haben, veröffentlicht zu werden. Sein Roman Die Gabe des Schmerzes , die ungewöhnliche Geschichte eines Mannes, der keinen Schmerz empfindet, ein Synonym für seine anfängliche Gefühllosigkeit, wurde sofort ein großer internationaler Erfolg, in über 20 Sprachen übersetzt. Nachdem sich Andrew Miller ein halbes Leben lang mit irgendwelchen Aushilfsjobs durchgeschlagen hatte, die gerade genug Geld einbrachten, um weiterhin schreiben zu können, ging damit sein Traum in Erfüllung: ausschließlich vom Schreiben leben zu können und nur für das Schreiben zu leben. Schon ein gutes Jahr später legte er seinen zweiten Roman vor: 'Eine kleine Geschichte, die von Liebe handelt', der auf Casanovas Erlebnissen während seines London Besuches 1763 basiert. Vor zwei Jahren erschien dann sein dritter Roman 0-xygen , der nun auch auf deutsch unter dem etwas merkwürdigen Titel Zehn oder fünfzehn der glücklichsten Momente des Lebens vorliegt.

    Nach zwei historischen Romanen hat sich Andrew Miller diesmal der Gegenwart zugewandt. Seine Geschichte spielt im Sommer 1997 in einem englischen Landhaus. Alice Valentine, Direktorin einer Schule, eine lebensfrohe, tatkräftige, energische Frau, die weiß, was sie will und sich durchzusetzen versteht, erfährt, dass sie Krebs hat. Sie nimmt den Kampf auf, aber es wird relativ frühzeitig im Roman klar, dass sie keine Chance hat. Sie wird nicht mehr lange leben. Die Metastasen in der Brust lassen ihr immer weniger Luft zum Atmen. Ihr zur Seite steht bereits seit Wochen ihr jüngerer Sohn Alec, Ex-Lehrer und Übersetzer. Demnächst wird ihr ältester Sohn Larry eintreffen, der in den USA als Filmschauspieler arbeitet. Er kommt zusammen mit seiner schwer asthmakranken Tochter nach England.

    Die Themen von ,Zehn oder fünfzehn der glücklichsten Momente im Leben' - da gab es damals bei mir mehrere Obsessionen. Ich litt, wie ich vermute, unter neurotischen Atembeschwerden und sobald man merkt, dass etwas mit dem Atmen nicht stimmt, wird man sehr gehemmt. Ich wurde mir außerdem bewusst, dass alle, die ich zu kennen schien, Asthmatiker waren. Sie nahmen alle diese Inhalatoren aus ihren Taschen und sprühten sie sich in den Mund und dann zündeten sie sich die nächste Zigarette an. Außerdem war ich in einem Alter, in dem einem klar wird, dass Eltern nicht mehr unsterblich sind. Auch wenn meine Eltern glücklicherweise noch leben, so starben doch die Eltern einiger meiner engen Freunde und mir wurde sehr bewusst, dass dies ein fundamentales Stadium unseres Erwachsenwerdens ist und wahrscheinlich die letzte echte große Änderung in unserer Entwicklung, zumindest wenn man davon ausgeht, dass man bereits Kinder hat. Und sie bleibt. Das ging mir durch den Kopf und gleichzeitig auch das, was auf dem Balkan passierte. Es ist also ein Buch, das auch eine politische Dimension besitzt. Und das ist bei mir etwas völlig Neues.

    Die Situation im Haus der sterbenden Mutter ist bedrückend, denn keiner der drei hat den Mut, offen über den nahenden Tod zu reden. Alle drei spielen weiterhin die Rolle, die sie ihr Lebtag voreinander gespielt haben und versuchen voreinander zu verbergen, dass sie alle drei auf ihre Art gescheitert sind. Allerdings lässt sie der bevorstehende Tod wenigstens sich selbst gegenüber soviel Ehrlichkeit aufbringen, sich einzugestehen, ihre Lebensziele verfehlt zu haben. Alice hat den falschen Mann geheiratet und nie den Mut gehabt, sich von ihm zu trennen. Larry ist Alkoholiker geworden wie sein Vater, ein Trinker, der seinem Leben schließlich ein abruptes Ende setzte. Noch weiß keiner, dass Larry arbeitslos ist, seine Rolle als Soap Opera - Star verloren hat und vor Schulden nicht weiß, wie es weiter gehen sollen. Larry, der intellektuelle Überflieger, schlägt sich mit technischen Übersetzungen aus dem französischen durch, bis ihm angeboten wird, das Manuskript eines prominenten ungarischen Schriftstellers, der in Paris lebt, ins Englische zu übertragen. Ein Glücksfall, doch Larry schafft es einfach nicht, endlich anzufangen.

    Andrew Miller hat hier eine zweite Ebene in seinen Roman eingezogen: das Leben des nach dem Ungarnaufstand 1957 nach Paris geflüchteten Exilanten Laszlö Lazar, eines ehemaligen Aufständischen, der als Bühnenautor inzwischen zu internationalem Ansehen gelangt ist.

    Die beiden Söhne und die andere Figur, der ungarische Stückeschreiber sind alles Leute, die während dieses Sommer große Entscheidungen fällen müssen. Bei den beiden Söhnen hängen die Entscheidungen mit der Mutter zusammen und wie sie auf deren Leiden reagieren sollen und was sie von ihnen erwartet. Im Fall der anderen Figur gibt es eine ähnliche Konstellation, aber mit politischem Hintergrund. Sie ist jemand, der im Glauben Karriere gemacht hat, dass alles Handeln, insbesondere aber politisches Handeln nutzlos ist. Alle diese Figuren sind Hamlet-ähnlich in dem Sinne, dass sie sich alle in einen kompletten Stillstand hineinmanövriert haben. Keiner von ihnen ist in der Lage, die notwendigen Schritte zu unternehmen, bis sie im letzten Kapitel schließlich dazu gezwungen werden, sich zu bewegen.

    Es sind keine dramatischen Entscheidungen, vielmehr Eingeständnisse, Selbsterkenntnisse, die die Lähmung, die Blockade lösen. Andrew Miller hat in keinem seiner Romane große Ereignisse heraufbeschworen. In ihrer Ruhe, mit der sie extreme Gefühlslagen durchschreiten, liegt die Spannung.

    Es gibt ganz eindeutig bestimmte Ideen und Interessen, die immer wieder hervortreten. Ich lasse die Figuren gerne bei Null anfangen, um sie von dort in eine Extremsituation zu bringen und dann zuzusehen, was sie dahinter finden, wie sie sich davon erholen. Mir gefallen Charaktere, und solche sollten Romane bevölkern, die zur Güte fähig sind, Mut besitzen, aber nicht außergewöhnlich sind, sondern eher normale Menschen." Es ist erstaunlich, solche Sätze von einem Schriftsteller zu hören, der sich die Figur eines schmerzunempfindlichen Mannes oder des sexsüchtigen Casanovas als Romanhelden gewählt hat, aber seine Einschätzung trifft insofern zu, als alle seine Figuren wie ihrer eigenen Besonderheit zum Trotz normal denken, fühlen, handeln. Andrew Miller entdeckt im Auffälligen, im Besonderen das Alltägliche, die normale Not, Angst, Hilflosigkeit, Verletztheit. Insofern ist das Besondere ihre Normalität. Das Spiel des 43jährigen Schriftstellers mit extremen Gefühlslagen ist immer wieder faszinierend. Erstaunlich ist nur, dass er bis heute sein Schreiben nicht als richtige Arbeit ansieht, eher wie ein Geschenk auffasst. Darin spiegelt sich denn doch die lange Wartezeit auf den Durchbruch wieder. Er staunt immer noch über sein Glück.

    So heißt es im Roman:

    Ich erinnere mich daran, wie ich einmal in Italien für eine Promotiontour für mein Buch war und in Rom mit einem Fotographen loszog. Wir kamen zu einigen Treppenstufen auf der Via Veneto und dort saßen ein paar Arbeiter einer örtlichen Fabrik in ihrer klassischen Blaumännern, aßen ihr Mittagessen auf der Mauer und ich sagte zu dem Fotographen, was für ein tolles Bild und er zu mir: ,Ja, nur der Unterschied zwischen ihnen und uns ist, dass sie arbeiten und wir spielen.' Das stimmt: wir spielen. Genau das mache ich. Es ist eine seltsame Art von ziemlich ernsthaftem und intensivem Spielen und man wird dafür bezahlt. Das ist ziemlich wunderbar ist und ich bin sehr dankbar dafür.